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Sukiyabashi Jiro Honten – die Mast

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Jiro Ono ist jetzt 91 Jahre alt. Vielleicht wird er noch weitere zehn, zwanzig, neunzig Jahre hinter seinem Tresen in dem kleinen Kabuff in der U-Bahn-Unterführung in Tokio-Ginza Sushi zubereiten. Ich hoffe es. Jiro Ono ist Japans Paul Bocuse.

2014 war ich zum ersten Mal bei Jiro, zitternd vor Aufregung und Ehrfurcht. Ich hatte mir lautschriftliche Sätze notiert, die ich in bestimmten Situation sagen konnte – alles, um dem Meister Respekt zu zollen. Das Essen damals war kurz und heftig, es war das Fundament meines Verständnisses für gutes – großartiges – Edomae-Sushi.

Heute stehe ich erneut vor dieser U-Bahn-Station, mit genau so viel Respekt, aber etwas größerem Wissen, was mich erwartet. Hätte ich damals gewusst, dass ich in eintausendzweiundsechzig Tagen erneut hier sein würde: ich hätte mich jeden Tag darauf gefreut.

Ich weiß, dass ich gleich hervorragendes Sushi essen werde. Ich weiß, dass es schnell gehen wird, letztes Mal war ich nach achtzehn Minuten wieder draußen. Ich weiß auch, dass ich dafür meinen Batzen Bargeld loswerde, den ich bei mir trage wie die Gangster in Martin Scorceses Goodfellas.

Aber was ich nicht weiß ist, dass es mir dieses Mal so anders vorkommen wird. Nicht das Sushi, das ist weiterhin exzellent. Soweit ich das beurteilen kann. Denn wenn man gemästet wird wie eine Gans, dann ist es schwierig, Qualität und Handwerk zu beurteilen.

Der Laden ist brechend voll, und heute serviert mir nicht Jiro Ono, sondern sein Sohn Yoshikazu. Ich halte ihn aber während meines kurzen Besuches mehrmals für den Alten, immer so lange, bis ich etwas weiter nach links gucke, wo sein Vater serviert.

Die Nigiris werden im Dreißig-Sekunden-Takt aufgetischt. Manchmal kaue ich gerade noch auf dem Stück herum, schmecke dessen perfekte Temperatur, Textur und Qualität, als schon das nächste Stück auf dem Tablett steht. Das schockiert mich. Präzises Timing ist einer der wichtigsten Aspekte, um Sushi zu genießen. Auf der neuen Website von Jiro liest man bei Regel Nr. 12: „Lassen Sie Sushi niemals stehen – es gibt nichts Köstlicheres als Sushi, das gerade auf ihrem Teller platziert wurde“. Doch was soll ich tun? Mir zwei Stück gleichzeitig in den Mund schieben?

Nach dem zwölften Stück Sushi, als die Portionen noch mundfüllender werden – z. B. in Seetang eingerollter Reis mit mächtigen, esslöffelgroßen toppings mit Rogen oder Baby-Jakobsmuscheln – bin ich dem Brechreiz nahe. Und es steht schon das nächste Teil auf meinem Tablett. Ich habe nicht einmal Zeit, mit meinem Bier die Stücke runterzuspülen, was ich dringend tun müsste, weil meine Speichelproduktion nicht hinterherkommt.

Nach zwanzig Stück und zehn Minuten ist die ungefähr dreihundert Euro teure Mast vorbei.

Nein, ich bin nicht der typische Tourist, der darüber meckert, dass das hier alles viel zu schnell ging. Ich bin der untypische Tourist, der sich mit der Materie auskennt und weiß, dass das selbst in Edomae-typischem Stil zu schnell serviert wurde. Diese Ungenauigkeit ärgert mich, schließlich geht es bei Jiros Handwerk seit Jahrzehnten um nichts anderes als um Präzision. Dass man seine eigenen Prinzipien hier verrät, macht mich ziemlich stutzig.

Bei meiner Bewertung der Speisen muss ich daher berücksichtigen, dass das Volumen der Nigiris nicht an meinen Gaumen und an mein Esstempo angepasst worden sind. Wenn das der Alte wüsste, müsste sein Sohn vielleicht wieder Teller waschen.

Hinweis: Fotos waren diesmal leider nicht erlaubt.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Sukiyabashi Jiro Honten (→ Website)
Chef de Cuisine: Jiro Ono
Ort: Tokio, Japan
Datum dieses Besuchs: 13.03.2017
Guide Michelin (Tokyo 2017): ***
Meine Bewertung dieses Essens (?): 8,5
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Hyotei – vier Jahrhunderte Kaiseki

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Vor über vierhundert Jahren stand dieses Haus schon hier. Es war zu dieser Zeit ein Teehaus für Pilger auf dem Weg zum Nanzenji-Tempel. Zum Tee wurden irgendwann Speisen serviert, bis über die Jahrhunderte die Teezeremonie in den Hintergrund rückte. Ein klassischer Werdegang eines Kaiseki-Restaurants.

Inzwischen leuchten drei Michelin-Sterne über diesem Restaurant, doch man darf bezweifeln, ob es den Inhaber in vierzehnter Generation besonders interessiert, was ein französischer Reifenhersteller über sein Restaurant denkt. Doch immerhin bringt die Auszeichnung auch eine neue Art von Pilgern in das Restaurant, mich, zum Beispiel, an diesem frühen Mittag.

Wenn man vor einem Restaurant wie diesem steht, ist das immer ein kurioser, spannender Moment. Man fragt sich: Bin ich hier richtig? Muss ich anklopfen? Ist hier überhaupt jemand? Ich schleiche etwas am Haus vorbei, blicke mich um, und auf einmal erscheint eine Dame und bittet mich hinein.

Das Restaurant besteht aus mehreren kleinen Holzhäusern, die teilweise über kleine Stege miteinander verbunden sind. Eine üppige Vegetation ist Bestandteil dieses verwunschenen Ortes.

Ich werde in einen winzigen Raum geführt. Die Deckenhöhe ist kaum größer als 1,80 m, Tisch und Stühle sind „halbhoch“, die Wände bestehen aus Holz und Papier und lassen etwas Licht hinein. Es fühlt sich surreal an.

Die Dame, die mich vorhin hineinführte, ist wieder weg. Ich warte fast eine Viertelstunde, bis sie wiederkommt.

Sie bringt eine Schale mit grünem Tee, der so viel Koffein enthält, dass ich aufschrecke wie eine überraschte Eidechse. Eine englische Fassung des Menüs (¥ 23.000, ca. € 200) wird ebenfalls gereicht – eine hilfreiche Geste für Fremde.

Die erste Speise ist ein Arrangement mit, unter anderem, Garnelen, Kartoffelblüte und einem frittierten Staudengewächs (Aster yomena). Ebenfalls darin finde ich Muscheln und eine süßlich-herzhafte Creme. Meine wesentlichen Wahrnehmungen dieser Komposition sind eine kühle Frische, verschiedene ansprechende Texturen und ein geheimnisvolles, blumiges Aroma, das an Condrieu-Wein erinnert. Ein exzellenter Start! — 8,9

Es geht weiter mit einer Suppe mit weißem Miso (das schmeckt immer ein bisschen wie Senf), darin einen Reiskuchen mit Beifuß sowie eine Wurzel von der Zimmeraralie, die ein würzig-holziges Aroma beisteuert. Diesen klebrigen Reiskuchen kann ich grundsätzlich wenig abgewinnen, aber das Gericht ist aromatisch sehr spannend und handwerklich exzellent. — 7

Es folgt Sashimi von einer Brassenart – frisch, rein und, wie üblich für diese Fischart, recht fest und kaubedürftig, was ich nicht so ideal finde, um ihn roh zu essen. Die dazu gereichten Saucen haben viel Umami-Geschmack und ergeben zusammen mit dem frisch geriebenen Wasabi in jedem Fall einen anstandslosen Sashimi-Gang. — 7

Mit Hassun, dem Kaiseki-Gang mit saisonalen Kleinigkeiten, fährt das Menü fort. Ein kaltes, wachsweiches Ei (Tamago) ist die vierhundert Jahre alte Spezialität des Hauses, die bereits den Tempel-Pilgern zum Tee gereicht wurde. Es ist tatsächlich nichts weiter als ein sehr gut zubereitetes Ei mit perfekter Textur, aber ohne Salz. Doch es gibt noch viel mehr zu entdecken: sehr delikate, frittierte Fava-Bohnen mit Reispulver, Oktopus (etwas zu zäh für japanische Verhältnisse), serviert mit einer Shiso-Creme, die, vor allem in dieser Menge, sehr an Minzzahnpasta erinnert; dann gibt es noch ein Schälchen mit unterschiedlichen säuerlichen Zutaten sowie einen kleinen Teller mit zwei Scheiben Roastbeef in unvergesslicher Qualität mit grünem Spargel und einer leichten Sojasauce (phänomenal, 10). Meine wenigen Kritikpunkte sind auf höchstem Niveau; das faszinierende, vielseitige Arrangement ist in Summe außergewöhlich gut. — 8

Weiter geht’s mit einer mit Aal gefüllten Rettich-Roulade, dazu gibt es Bambussprössling, ein Farnkraut und Sansho-Blätter (Szechuanpfeffer), die ein betäubendes Gefühl am Gaumen hinterlassen. Schmeckt etwas wie Kohlroulade mit Fisch. Sehr gut. — 7

Gegrillter Torpedobarsch ist von so ausgezeichneter Qualität, dass ich an dieser Stelle noch einmal betonen muss, wie großartig die Fischqualitäten in Japan sind. Es wäre fast eine Schande, sie weniger puristisch zu servieren. Dazu gibt es säuerlich-frische, nur leicht pikante Wasabi-Blätter und eine Sauce aus drei verschiedenen Zitrusfrüchten. Wunderbarer Produktpurismus. — 7,5

Weitere kleine Speisen folgen. Eingelegte Gemüse haben eine angenehme Säure, Reis mit Aal und einem mir unbekannten gelben Gemüse(?) ist süßlich und sehr sättigend, und eine heiße Suppe mit einem Muschelkloß, Karotte und Yuzu schmeckt würzig nach Lagerfeuer. Für das, was es sein soll, ist es sehr gut. — 7

Es gibt noch ein Dessert mit bemerkenswerten Früchten und einer kleinen krapfenähnliche Süßspeise (7), danach Mochi, Matcha und weitere Tees.

Auch mein fünftes Kaiseki-Restaurant in Folge hat mich nicht gelangweilt. Die Kaiseki-Küche ist leicht und wohltuend, qualitativ exzellent und bereichernd. Trotz mancher Kuriositäten und ungewohnter Speisen genieße ich diese Küche in vollen Zügen. Weiter geht’s – heute Abend schon!

Dieser Artikel ist Teil meiner kulinarischen Reise nach Japan im März 2017, siehe: „Neun Tage Japan, 13 Restaurants, 32 Michelin-Sterne, eine Million Eindrücke“
Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Hyotei (→ Website)
Chef de Cuisine: Eiichi Takahashi
Ort: Kyoto, Japan
Datum dieses Besuchs: 10.03.2017
Guide Michelin (Kyoto/Osaka 2017): ***
Meine Bewertung dieses Essens (?): 7,5
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Forsthaus Strelitz – brutaler lokal

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Etwas mehr als hundert Kilometer nördlich von Berlin steht ein Gasthof, von dem man derzeit immer häufiger hört, vor allem seitdem sich dort vor zwei Jahren ein Generationswechsel vollzogen hat.

Sohn Wenzel Pankratz, der in hochdekorierten Restaurant wie dem Facil und Schauenstein gelernt hat, hat hier inzwischen die Kochplatte übernommen, unter der Holz glimmt und keine Induktionsspule; seine Schwester kümmert sich um den Service und, zusammen mit Mutter und Bruder, um vieles weitere auf dem Gut.

Es gibt viel zu tun: hier wird beackert, angepflanzt, geerntet, geschlachtet, Holz gehackt, es werden Eier gesammelt, Schweine gefüttert und Gästezimmer hergerichtet. Letztere sind geschmackvoll, aber karg eingerichtet, sodass ich zunächst auch das Fehlen von Heizung und Seife als Teil des Konzepts begreife. Doch ich irre mich: hinter einem Wandspiegel finde ich sehr viel später einen Regler für die Fußbodenheizung. Seife gibt es trotzdem nicht.

Wer vor 18 Uhr hier auftaucht, kann einen Spaziergang in einem nahegelegenen Waldstück unternehmen und ein wenig das Gut erkunden. Hierfür sollte man sich aber eine Stulle eingepackt haben: Snacks gibt es auch auf Nachfrage nicht, dafür aber einen recht guten Crémant von der Domaine Pignier, der in einem kleinen Raum zusammen mit ein paar sauer eingelegten Sellerieknollen bereitsteht. Als Überbrückung bis zum Abendessen reicht das knapp.

Gegen 18:30 Uhr sitze ich dann inmitten eines quirligen Gewusels von Familien, die ihre Kinder nicht im Griff haben und mich davon abhalten, in der kleinen Weinkarte schon mal einen guten Tropfen auszuwählen. Doch auch ohne Ablenkung gelingt mir das nicht. Es gibt ausschließlich (sehr günstige) Naturweine. Ich bin der Verzweiflung nahe, bestelle eine Flasche Pinot Noir aus dem Elsass, die bei Cellartracker immerhin recht gut bewertet, aber im Glas dann eben doch nur eine trübe, saure Plörre ist. Die 30 Euro sind zu verkraften, ich bitte um eine Alternative, irgendetwas Vollmundiges, „Unnatürliches“, das zum Wetter und nicht zum Konzept passt. Es findet sich ein Amphorenwein aus Spanien als kleinster gemeinsamer Nenner. Da das Topfschlagen um mich herum immer noch nicht beendet ist, schnappe ich mir die Flasche und flüchte zurück aufs inzwischen schon etwas wärmere Zimmer. Zwei weitere Stunden halte ich jetzt auch noch aus.

Man hätte mir natürlich auch vorher schon mitteilen können, dass das Essen für Erwachsene erst gegen 20 Uhr und ohnehin in einem anderen Raum und an dem einladenden Hochtisch stattfindet.

Dann kann es losgehen. Das Menü führt sechs Gerichte auf, die mit neunundvierzig Euro für alles, was da eventuell kommen mag, günstig erscheinen.

Es gibt Leinsamenchips mit einer Steinpilzcreme und dem sauer eingelegten Sellerie, den ich schon von heute Nachmittag kenne. Chips und Creme sind handwerklich gut gemacht, geschmacklich dominieren bei dem Snack Säure und Bitterkeit – eine grundsätzliche Eigenschaft vieler nordischer Regionalküchen, von Kopenhagen bis Neustrelitz. — 6

Der nächste Gang sind ein paar Bärlauchblätter, die intensiv, aber nicht zu lauchig schmecken; Kaviar vom Hecht kommt mit einer leichten Süße und hält das Ganze im Zaum. Ganz in Ordnung. — 6

In Hinblick auf die Tatsache, dass vermutlich alle Gänge dem Konzept einer derartigen Schlichtheit folgen, stürze ich mich dankend auf die jetzt gereichte Scheibe selbstgebackenen Brots mit selbstgeschlagener Butter. Beides sehr gut.

Der nächsten Gang findet sich nicht im Menü: in Rapsessig marinierter Kohlrabi, der sich wie ein Bandwurm über den Teller windet. Das ist mir eindeutig zu karg und auch von einer puristischen Produktküche weit entfernt. — 5

Den nächsten Teller ziert eine einzelne Karotte, die ein Jahr konserviert und nun gegart wurde. Das Aroma ist kräftig und authentisch, leicht süßlich und sehr angenehm, die Textur weich, aber nicht zerkocht. Die Buttermilchcreme dazu ist kritisch, weil sie ein pelziges, adstringierendes Gefühl am Gaumen hinterlässt und das Geschmacksvermögen am Gaumen reduziert. Eine weitere karge Speise, die dennoch mit einem guten Produkt glänzt. — 6

Weiter geht’s mit einem kleinen Stück Hecht, dazu gibt es Kartoffelpüree und eine schaumige Buttersauce mit Rosmarin. Das klingt ansprechend, ist aber handwerklich misslungen, weil das Kartoffelpüree so klebrig ist wie Tapetenkleister – vermutlich hat man die Kartoffeln mit einem Pürierstab verarbeitet. Vom Hecht schmeckt man leider auch nicht viel. Das sind einfach zu viele Missgeschicke für einen akzeptablen Teller. — 5

Die Taube ersetze ich durch Kalbsherz, das hier dünn aufgeschnitten mit verschiedenen Teilen von Rosenkohl serviert wird. Auch dies ist in seinem Purismus kaum zu überbieten. Mir fehlt Salz und ein flüssiger oder cremiger Mitspieler. — 6

Ein Stück sehr saftiges, zartes Sattelschwein befriedigt dann ein bisschen das Bedürfnis nach einem süffigen Hauptgang, bitterer Grünkohl und ein bitteres Pulver weisen einen jedoch wieder in die Schranken. — 6,5

Ein Dessert mit Schafsmilch, Vogelbeere und Sonnenblumenwurzel ist süßlich genug, um es als Dessert wahrzunehmen, die (ungiftige) Vogelbeere steuert etwas Säure bei – für den, der die jetzt noch vermisst. — 6

Hungrig gehe ich ins Bett. Das Frühstück am nächsten Morgen ist exzellent und üppig, mit Wurst, Käse, Honig, alles selbstgemacht, alles sehr schmackhaft.

Man findet derzeit sehr viel Lob in Bezug auf dieses Restaurant. Zu Recht. Zur Ermutigung. Aber eben nicht, weil es sich hier um Deutschlands neues Fäviken Magasinet oder In de Wulf handelt. So etwas könnte es vielleicht einmal werden, wenn man denn wollte, und das ist die gute Nachricht, die man in diesem Zusammenhang nach außen tragen sollte. Wer hier schon wieder alles über den grünen Klee lobt, übt sich in der typisch deutschen Genügsamkeit, die dazu führt, dass man hierzulande überall mit Mittelmaß zufrieden ist.

Hier ist eine junge Generation gerade dabei, etwas Bemerkenswertes aufzubauen, das schon jetzt unverkennbare Parallelen zu ähnlich abgelegenen, mikroregionalen Restaurants mit Logis wie den eben genannten Vorreitern in Skandinavien oder Belgien aufzeigt. Doch bis man hier so weit ist, dass der erste Stern über dem Haus leuchtet und bis asiatische World’s-50-Best-Foodies das Reservierungssystem überlasten, muss noch einiges passieren. Vielleicht möchte man das alles gar nicht, könnte man erwidern, doch das wäre unglaubwürdig. Man ist ja schon mitten dabei. Ich glaube, man hat hier das Zeug dazu. Es bleibt spannend in Neustrelitz.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Forsthaus Strelitz (→ Website)
Chef de Cuisine: Wenzel Pankratz
Ort: Neustrelitz, Deutschland
Datum dieses Besuchs: 14.04.2017
Guide Michelin (D 2017):
Meine Bewertung dieses Essens (?): 6
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Kikunoi Honten – Fischmilch und Chrysanthemen-Suppe

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Das siebte Kaiseki-Restaurant auf meiner Reise nach Kyoto ist das letzte, das ich besuche, bevor es weiter nach Osaka geht. Auch heute kehre ich mit einer kurzweiligen Mischung aus Vorfreude, Spannung, Skepsis und Appetit hier ein.

Zusammen mit Kitcho Arashiyama und Mizai (in dem ich leider keinen Tisch bekommen habe) ist das Kikunoi eines der berühmtesten Kaiseki-Restaurants in Kyoto. Inhaber und Küchenchef Yoshihiro Murata ist eine prominente Figur in Japan, er betreibt mehrere besternte Restaurants, hat diverse Bücher geschrieben und ist recht umtriebig. Heute ist er in Tokio, um dort in einem seiner Restaurants nach dem Rechten zu sehen.

Der Michelin attestiert dem Kikunoi neben den drei Sternen für die kulinarische Leistung auch die Höchstwertung für das Ambiente: fünf rote Bestecksymbole. Letzteres ist etwas schwierig nachzuvollziehen. Den Raum, in dem ich Speise, erreiche ich über eine sehr steile Treppe – fast so als würde man ein Hochbett erklimmen –, in dem Raum selbst geht es sehr karg zu.

Es gibt kaum dekorative Elemente, dafür einen pustenden Heizlüfter und in einer Ecke ein (abgedecktes!) Telefon aus dem letzten Jahrhundert, das den Eindruck erweckt, man könne hier vor dem Essen noch auf eine letzte Begnadigung hoffen. Das geht auch deutlich angenehmer.

Immerhin sitzt man hier in normaler Position dank einer Vertiefung im Fußboden. Und die Dame, die heute Abend den Service macht, ist sehr freundlich, zu vielen Scherzen aufgelegt und spricht recht gutes Englisch. Die Atmosphäre ist gelöst, ich bin guter Dinge.

Das Menü (Variante für ¥ 25.000, ca. € 214) beginnt, wie üblich, mit warmem Begrüßungssake (ohne Foto) und einem kräftigen grünen Tee.

Als nächstes folgt pochierte und eingelegte Ume-Frucht (umeboshi), die mit einer weißen, milchigen Flüssigkeit überzogen ist, bei der es sich – wie ich erst beim Schreiben dieser Zeilen recherchieren kann – um Fischmilch, also Samenflüssigkeit, von Roter Fleckbrasse (tai) handelt. Ein aufgeschlagenes Kochbuch des Küchenchefs, das auf dem Tisch liegt, erklärt, dass dieses Gericht optisch die Idee eines schneebedeckten Pflaumenbaums und den nahenden Frühling wiedergeben soll. Lässt man die Prosa beiseite, schmeckt man bei dem Gericht eine handwerklich gut umgesetzte Spannung zwischen Salz, Säure und Fruchtsüße. Aber die Japaner haben wirklich eine sonderbare Vorliebe für den Geschlechtsakt von Meerestieren. — 6,5

Die folgende Geschenkbox enthält eine Auswahl kleiner Speisen in zwei „Etagen“. Es gibt, unter anderem, Bambussprösslinge, sehr zarten Tintenfisch, Farnspitzen, …

… ein Stück Nigiri-Sushi mit stintartigen Fischchen, Lilienblüte mit Lachsrogen, sowie in einem Sesam-Senf-Dressing marinierte Kintoki-Karotte und Teile ihrer Blätter. Das gesamte Arrangement ist äußerst appetitlich, jede Zutat überrascht positiv und schmeckt exzellent. Dies hier ist in der Tat eine Ode an den Frühling. — 8

Sashimi von Brasse und Garnele kommt mit Udo (japanischer Spargel), Karotte, Algengelee und Wasabi und zementiert meine Auffassung, dass weder Brassen – wegen ihrer sehr kaubedürftigen Textur – noch Garnelen – wegen ihrer etwas schmierigen Textur – in rohem Zustand besonders delikat sind. Die Güte der Produkte ist jedoch über jeden Zweifel erhaben. – 7

Sashimi vom Thunfisch wird mit einem Tupfer Senf serviert. Das ist eine ganz hervorragende Idee, um die fette Textur zu kontrastieren, vergleichbar mit Senf zu einem Stück Iberico-Schwein. Man taucht die schweren Stücke dann noch in eine gehaltvolle Sauce, die mit Eigelb, Soja und einer Brühe von Bonito-Schuppen hergestellt wurde. Herausragend. — 9

Die obligatorische Suppe enthält eine Art Kloß mit Muschel, verschiedene Kräuter und zahlreiche saisonale Zutaten, die bereits in diesem Menü Verwendung fanden, wie Karotte, Bambussprössling und Farnspitzen. Die Suppe unterscheidet sich von vergleichbaren Speisen der letzten Tage vor allem durch einen leicht rauchigen Geschmack, ausreichend Salz und viele Kräuter. Exzellentes Handwerk. — 8

Das Menü fährt fort mit unter einem Salzmantel und auf Algen gegarten Portionen Abalone und Seeigel. Nach meinem Geschmack tut die extreme Hitze den Zutaten nicht besonders gut; gerade bei Seeigelgonaden bringt normalerweise die Kühle den meerig-jodigen Charakter besonders gut zum Vorschein. Luxuriöse Zutaten, aufwändig präsentiert, das ist es dann eigentlich auch schon.  6,9

Ein Erdbeer-Wasabi-Sorbet ist scharf und fruchtig und beruhigt den Gaumen vom vorherigen Hitzeschock, bevor es dann bei nächsten Gängen ans Eingemachte geht.

Ein Salat-Arrangement beinhaltet, unter anderem, folgende Speisen: gegarte Garnele mit Eigelb und schwarzem Sesam; Fava-Bohnen mit Tofu-Dressing und schwarzem Pfeffer; marinierte Wasabi-Blätter; Baby-Tintenfisch mit Eigelb, Algen, Essigdressing und gehackter Ingwerblüte; sowie Seegurkenrogen mit Yamswurzel und Shisoblüte. Alles in allem eine oft fischige, manchmal trockene, niemals besonders vergnügliche Angelegenheit. — 6

Dann wird eine sprudelnd heiße Suppe serviert. Sie enthält, zu meinem großen Befremden, Haifischflosse und Schildkrötenfleisch. Natürlich bestehen bei mir hinsichtlich dieser Zutaten starke moralische Bedenken. Jedem dürften die Gräueltaten des shark finning bekannt sein, auch weiß ich nicht genau, was man den Schildkröten alles antut. Niemals würde ich so eine Suppe freiwillig bestellen, aber nun steht sie eben vor mir, und ich muss mich damit irgendwie auseinandersetzen.

Das Thema von ethisch, moralisch und ökologisch einwandfrei gewonnenen Produkten beginnt allerdings nicht bei Haien. Es beginnt im Alltag. Das tägliche Leid von Tieren in Massenhaltung, dessen Fleisch im Discounter und dann in der Radiowerbung landet, ist nicht geringer einzustufen als das von anderen Tieren. Jeder sollte ständig seinen Beitrag dazu leisten, diese Missstände zu reduzieren. Ich tue dies mit einer sehr selektiven Auswahl tierischer Produkte. Einen kompletten Verzicht halte ich indes nicht für wirkungsvoll. Vegetarismus aus Protest ist vergleichbar mit Nichtwählen, man erreicht damit keine Verbesserung. Aber dies nur am Rande.

Ein Boykott der Suppe am Tisch hätte auf jeden Fall wenig Nutzen. Eine Entsorgung des Gerichts im Mülleimer erscheint mir nicht wie eine gute Tat. Und die alptraumartige Vorstellung, dass die Tiere lebendig amputiert werden, ist nach meinen Recherchen zumindest in Japan nicht die Regel. Sie werden gefangen wie alle anderen Fische auch und sind längst tot, wenn man diese fragwürdige Zutat gewinnt. Das ist alles grauenhaft, sicherlich, aber das Thema beginnt eben nicht hier.

Daher probiere ich auch diese Suppe. Sie riecht gut. Für den Sud wurden, wie schon erwähnt, Schildkröten verwendet, deren Fleisch recht trocken ist, sowie Sake und Zwiebeln. Der Sud enthält viel Kollagen und schmeckt ein bisschen wie Hühnerbrühe. Die Haifischflosse, an sich geschmacksneutral, saugt sich damit voll und konzentriert die Aromen der Suppe in ihrer seltsamen, glasfaserartigen Textur. Für das, was es sein soll, ist das Gericht vermutlich gut, aber eine anständige Gemüsesuppe würde ich jederzeit vorziehen. — 6,5

Das Reisgericht ist Chirashi-Sushi, was eine Speise bezeichnet, bei der Reis, Fisch und andere Zutaten zusammen in einer Schüssel serviert werden. Hier gibt es Sushireis, „Eifäden“, Garnelen, Algen, Ingwerblätter, Shiitake-Pilze, Kintoki-Karotte, Erbsen und Huflattich sowie eine Chrysanthemen-Suppe mit frittiertem Tofu. Wer soll das bloß alles essen? Der Gedanke an die Flosse liegt mir eh noch schwer im Magen. Die Schüssel mit dem Potpourri an Zutaten ist dazu auch recht trocken, die Suppe ganz angenehm. Das hat sicherlich alles seine Berechtigung und unendliche Tradition, aber geschmacklich ist das auch nicht das Gelbe vom Ei. — 6

Es folgt ein Mate-Tee, der, wie für dieses Getränk üblich, nach kaltem Aschenbecher schmeckt, sowie, als Dessert, Gersteneis mit einem karamellisierten Pudding (sehr gut, 7).

Das letzte Kaiseki-Restaurant auf dieser Reise verlasse ich mit gemischten Gefühlen.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Kikunoi Honten (→ Website)
Chef de Cuisine: Yoshihiro Murata
Ort: Kyoto, Japan
Datum dieses Besuchs: 10.03.2017
Guide Michelin (Kyoto/Osaka 2017): ***
Meine Bewertung dieses Essens (?): 7
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Sushi Saito – sieben Mal blinzeln

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Langsam werde ich nervös. Das Taxi steckt irgendwo im Stop-and-go-Verkehr von Tokio fest. Außerdem wählt der Fahrer immer die laut Google Maps ungünstigere Route, die ich auf meinem Handy mitverfolge. Jede Minute verliere ich zwei weitere; ich komme mir vor wie in einem defekten Raum-Zeit-Kontinuum.

Ich bin im Begriff, zu spät zu meiner wichtigsten Reservierung aller Zeiten zu kommen. Dabei habe ich schon eine halbe Stunde mehr Zeit eingeplant als für die Strecke eigentlich nötig ist. Eigentlich.

Drei Minuten vor acht komme ich an, aber ich bin noch nicht am Ziel. Ich haste aus dem Taxi, renne hinein in den Hochhauskomplex, blöke die erste Person hilfesuchend mit „Saito? Sushi Saito?“ an, bekomme aber nur ein freundliches Kopfschütteln als Antwort. Mehrmals. Die Zeit schmilzt dahin, ich kann die Sekunden physisch spüren.

Irgendwann habe ich es gefunden. Ich bin noch außer Atem als ich am Tresen sitze und leicht zitternd an einem Glas Champagner nippe. Ich bin pünktlich. Ein paar Sekunden zu früh. Jede Verspätung wäre nicht nur für mich unentschuldbar gewesen, sondern hätte auch noch meinen Bürgen in Misskredit gebracht, also die Person, die hier für mich die Reservierung getätigt hat. Eine alptraumartige Vorstellung. Dann hätte ich mir gleich das lange, blitzende Messer, das in Reichweite vor mir auf dem Tresen liegt, in den Bauch rammen können.

Reservierungen sind bei Saito zwar offiziell „ganz normal“ möglich, aber de facto wird das Reservierungsbuch hier von den Gästen vor Ort geschrieben. Das Restaurant bewegt sich damit scharf an der Grenze, ein Restaurant zu sein, bei dem man nur einen Platz bekommt, wenn man von anderen Gästen persönlich empfohlen wird. Davon gibt es in Japan einige. Die Auflistung dieses Restaurants im Guide Michelin, immerhin ein Restaurantführer für Gäste, nehmen Sternejäger wie ich daher nur zähneknirschend zur Kenntnis. Aber man kann eben auch über seinen Concierge Glück haben, ich habe gerade einen Fall im Bekanntenkreis erlebt.

Das Restaurant ist sehr gepflegt, geradezu luxuriös. Edles, helles Holz, getöpferte Keramik, geschmiedete Messer: hochwertigstes Handwerk wohin man blickt. Erst seit wenigen Jahren ist Saito an diesem Ort. Vorher war das Restaurant in irgendeinem Parkhaus untergebracht und damit ähnlich versteckt wie das Kabuff von Jiro Ono, in dem ich erst vor ein paar Stunden mein erstes Abendessen zu mir genommen habe. Ich gebe zu, das ist einer der maßlosesten, aber auch großartigsten Essenspläne, die ich je geschmiedet habe.

Im Gegensatz zu meinem vorherigen Gastgeber ist Takashi Saito ein überaus freundlicher und gut gelaunter Mann. Die Stimmung hier ist von Anfang an gelöst, immer wieder schaltet Saito von heiteren Gesprächen mit den Gästen zu absoluter Konzentration um – wie ein Schalter. So etwas habe ich noch nie beobachtet, und es ist vielleicht einer der Gründe, warum dieser Sushichef so berühmt ist.

Das Omakase-Menü kostet ca. € 250, doch ist mir der Preis zu diesem Zeitpunkt genauso unbekannt wie gleichgültig. Es beginnt mit einem kleinen Snack bestehend aus rohen stintartigen Fischchen (shirauo). Sie schmecken leicht salzig nach Meer, haben eine intressante, bissfeste Textur, und ihr hauchdünnes Gerippe sorgt am Gaumen für etwas Knusperspaß. Eine kurzweilige Produktpräsentation erster Güte.

Bereits zu diesem Zeitpunkt ist es faszinierend, die Bewegungen Saitos zu beobachten, die geschmeidiger und präziser wirken als von einigen anderen Sushi-Meistern. Manchmal wirken seine ausladenden Gesten wie eine Show-Einlage, doch hunderte Muskeln in seinem Gesicht zeugen von allerhöchster, nach innen gerichteter Konzentration.

Für den nächsten Snack präpariert der Meister Abalone und Oktopus. Die Stücke, die ich probiere, sind jeweils ein neues Referenzniveau für beide Produkte. Die Abalone, sonst auch in exzellenter Zubereitung häufig etwas kaubedürftig, ist hier so zart wie ich es noch nie erlebt habe. Der Geschmack des Schneckentiers erinnert leicht an Meer und gelangt noch deutlicher zum Vorschein, wenn man etwas von dem intensiven Salz aufstreut, das in einem kleinen Schälchen danebensteht. Der Oktopus, zart und saftig, erhielt einen Pinselstrich mit einer Sojasauce, die würzige, leicht süßliche Noten offenbart. Ein absolut grandioser Referenzteller.

Es folgt Sashimi vom Baby-Thunfisch, genauer zwei akkurate Scheiben davon. Die schillernde, rostrote Farbe unterscheidet dieses Produkt schon optisch signifikant von ausgewachseneren Tieren. Die Scheiben schmelzen am Gaumen. Wer hierbei nicht zumindest kurz die Augen schließt, ist dieses Platzes am Tresen nicht würdig. Auch die Temperatur ist perfekt, ein Grad Abweichung in jede Richtung wäre schon ein Fehler, den sich der Meister wohl nie erlaubt.

Es geht weiter mit Tintenfisch, leicht gegart und warm serviert. Die Stücke sind gefüllt mit weiteren Teilen des Tiers sowie auch mit dessen Eiern, die für eine leichte Salzigkeit sorgen, aber ansonsten fast nicht bemerkbar sind. Die zarten, gefüllten Petitessen liegen in einer Sauce mit Soja und Yuzu. Unglaublich wohltuend, unglaubliche Qualitäten, unglaublicher Genuss.

Mit kleinen, jungen Tintenfischen geht es weiter. Sie wurden gegrillt und werden auf einem Spieß gereicht. Die Grillaromen verleihen dem kleinen Snack eine geradezu mediterrane Anmutung, was umso faszinierender ist.

Als nächstes gibt es Futomaki mit Makrele, Perilla (shiso), Reis und Sesam. Dieser Rollenform begegnet man in den japanischen Spitzenrestaurants eher seltener. Sie hat – wie könnte es anders sein – natürlich nichts mit den Mayonnaise-Röllchen mit gummiartigem Seetang und vertrocknetem Krebsfleischsurrogat unserer Breiten zu tun. Gar nichts. Es schmeckt auch nicht ähnlich, selbst der Unterschied zwischen Äpfel und Birnen fällt erheblich kleiner aus. Dieses eine Stück, das man bekommt, ist perfekt und lohnt allein eine Reise hierhin; das meine ich ganz ernst. Der Reis ist luftig, die Makrele über-frisch und durch die schrägen Einschnitte besonders anschmiegsam am Gaumen, Sesam und Perilla steuern Aromen bei, die mich an den Rand der Tränen bringen. Ich bin sprachlos und glücklich.

Es folgt gegrillter Haarschwanz (tachiuo), ein weißer, fester, aber gleichzeitig sehr zarter Fisch mit silbriger Haut, serviert mit zwei Stücken säuerlichen Gemüses und irgendetwas Frittiertem, das ich nicht verstanden habe. Das Gericht ist fantastisch. Der Fisch ist sehr saftig und exzellent gegart, deutliche Grillaromen befördern mich gedanklich in den Sommer. Ich tauche ab, bin angesichts dieser Qualitäten und perfekter Geschmackserlebnisse wie in einer Wolke.

Inzwischen hat Saito begonnen, die gleich folgenden Nigiri vorzubereiten. Völlig gebannt beobachte ich die repetitive, präzise Schnittführung, die vermutlich, aber für mich nicht erkennbar, für jeden Fisch ein bisschen anders ist. Ebenfalls faszinierend ist das Bedürfnis des Meisters nach geometrischer Ordnung an seinem Arbeitsplatz. Viele Dinge sind parallel oder rechtwinklig zueinander angeordnet – das Messer zum Fisch, die Anordnung des Fischs zur Arbeitsfläche –, auch Abstände sind häufig gleich bemessen. Es ist die Akribie eines Perfektionisten.

Zehn Stück – eines für jeden Gast – von sechs verschiedenen Fischen liegen am Ende der Vorbereitungen auf der Arbeitsfläche, von weißlich transparent über silbrig schimmernd bis weinrot. Eine farbenfrohe, höchst appetitliche Pracht.

Dann beginnt der Meister, die Nigiri-Stücke zuzubereiten. Die Choreografie, der er dabei folgt, ist für mich so schön anzusehen wie für andere ein Ballett. Saito gerät dabei regelrecht in einen meditativen Zustand. Er hat diese Bewegungen schon zigtausendfach ausgeführt und perfektioniert. Das Stück Fisch fixiert er zunächst zwischen Daumen und Zeigefinger seiner linken Hand, die er dann immer ein paar Mal rollend um die Längsachse des Arms hin und her bewegt, dann folgt die recht Hand, die in einer sehr charakteristischen, weit ausholenden Bewegung zunächst die richtige Menge Reis aus dem Topf holt und in Form bringt. Dabei lässt der Meistert den Zeigefinger frei, mit dem er etwas Wasabi aufnimmt und diesen zusammen mit dem Reis dann in zielstrebigen Bewegungen auf die „Rückseite“ des Fischs aufträgt, dann folgt ein Pinselstrich mit Sojasauce. Saito konstruiert das Sushi von oben nach unten, das habe ich so auch noch nicht gesehen. Er benötigt für so ein Stück sieben Augenblicke, denn so oft blinzelt er meist während dieser Prozedur.

Es muss sich vollkommen für ihn anfühlen, ein fertiges, perfektes Stück Nigiri geformt zu haben.

Das erste Stück kommt mit rotem Schnapper (kurodai). Was im Vergleich zu vielen nigirizushi anderer Großmeister sofort auffällt sind zwei Dinge: erstens die relativ kleine Portionsgröße, zweitens die Tatsache, wie sich der Fisch um den Reis schmiegt. Sonst liegt er oft nur auf und hängt der Länge nach über; hier bilden Fisch und Reis eine wunderschöne, kompakte Einheit, so als würde der Fisch den Reis fest umklammern.

Ich probiere das erste Stück, und es ist unmittelbar das beste Nigiri, das ich je probiert habe. Ich benötige für diese Erkenntnis nur wenige Sekunden. Es ist einer dieser Momente, an denen ich bedaure, meine Bewertungsskala nicht noch höher schrauben zu können. Der Reis von Saito ist luftig, etwas wärmer als üblich und hat eher wenig Säure. Das sind alles sehr angenehme Attribute. Zusammen mit dem im Verhältnis zum Reis etwas größer portionierten Fisch ermöglicht das noch besser, die unglaublichen Fischqualitäten wahrzunehmen, die hier Verwendung finden. Bereits dieser Schnapper ist eine Referenz. Ich möchte laut schreien, so gut ist das, doch ich übe mich in japanischer Zurückhaltung.

Flunder (hirame), schmeckt nach Meer und lässt träumen.

Eine Heringsart (kohada) glänzt wie Platin, schmeckt grandios.

Magerer Thunfisch (akami) eröffnet die Thunfisch-Trilogie auf grandiose Weise.

Mittelfetter Thunfisch (chūtoro) ist dicht und auffallend schwer. Das Stück schmilzt am Gaumen wie bei solchen Qualitäten üblich.

Fetter Thunfisch (ōtoro) ist von der besten Qualität, die ich von diesem Teil des Fischs je probiert habe. Die Qualität vor ein paar Tagen im Kichisen war vergleichbar, aber der Fisch war dort etwas zu kalt. Hier ist er perfekt temperiert. Am Gaumen löst sich der Fisch unmittelbar zu wohlschmeckendem Fett auf. Es ist ein Niveau, welches man außerhalb Japans nicht einmal erahnen kann.

Tintenfisch (ika) ist recht dick geschnitten, vielleicht zwei Millimeter, dafür sind die Einschnitte sehr tief und zahlreich, was für ein angenehmes Kaugefühl sorgt. In den Einschnitten hat sich auch etwas von der kleinen Zitrusfrucht verfangen, die Saito darüber gepresst hat. Eine Sensation.

Weiter geht die Aufführung – und es ist wirklich eine, denn den Meister zu beobachten ist absolut fesselnd – mit Kuruma-Garnele (kuruma ebi). Auch diese Portion ist perfekt: in vielen anderen Sushi-Restaurants ist das Fleisch dieser Garnele so groß, dass das Nigiri in der Mitte geteilt wird, was damit das Mundgefühl erheblich verändert. Nicht so hier, Saito verwendet eine optimale Größe bei den Garnelen, sodass das ausgelöste Fleisch perfekt zu der Portion Reis passt. Ein etwas prononcierterer Kick Wasabi kontrastiert am Gaumen elegant die Süße des Schalentiers, welches, wie üblich für diese Sorte, eher an Kaisergranat erinnert als an eine Garnele. Ein kleines Meisterwerk.

Herzmuschel (torigai) folgt. Es handelt sich hier um eine seltene Art, die ausschließlich für wenige Wochen ab Anfang April Saison hat. Klar und rein und „spannend“ zu kauen.

Es folgt Seeigel (uni) von einer Qualität, die sich mir schon beim Betrachten der kostbaren Schachtel erschließt. Anstatt, wie sonst üblich, die Portion Reis und Innerei in Form eines mit Algenblättern umwickelten „Schiffchens“ (gunkan) zu servieren, formt Saito-san auch hieraus ein mundgerechtes Nigiri. Das erleichtert den Verzehr und steigert den Genuss, weil man sonst immer den ganzen Mund damit voll hat.

Süßwasseraal (unagi), gekocht und mit einer süßlichen Sojasauce bestrichen, hat eine Textur wie grobes Kartoffelpüree und ist ebenfalls eine qualitative Referenz für diese Zutat.

Dieses letzte Stück schließt die Sequenz von Nigiri ab, die mich so beeindruckt und begeistert hat wie keine sonst. Jedes einzelne Stück verdient jede verfügbare Höchstnote.

Das Mahl klingt langsam aus, zunächst mit einer intensiv nach Lauch und Algen duftenden Suppe. Sie schmeckt konzentriert, ein wenig wie Zwiebelsuppe, offenbart aber sehr feine Nuancen und keinerlei Süße. Heiß, wohltuend und auf sehr vielen Ebenen absolut hervorragend.

Wie häufig üblich gibt es jetzt noch eine Handrolle (temaki) mit Reis und Thunfisch (chūtoro), die es irgendwie schafft, die „Lauchigkeit“ der Suppe von vorhin wiederaufzunehmen. Magisch.

Süßes Omelette (tamago) schließt das Essen dann nach bequemen zweieinhalb Stunden ab. Das aufwändige Handwerk ist auch hier makellos, das Ergebnis vergleichbar mit einer Kreuzung zwischen Flan und Brioche. Nicht zu verbessern.

Ich bezahle, verabschiede mich und suche einen Ausgang. Irgendwo spuckt mich das Gebäude aus, ich weiß nicht einmal, ob das hier das Erdgeschoss ist. Nach einer Weile sitze ich in einem Taxi. Die Lichter der Stadt ziehen Schlieren an meinem Fenster, die Fahrt vergeht wie in einem einzigen Augenblick. Und Saito? War das nicht das Restaurant, das schon auf meinem Hinweg niemand kannte? Für das niemand eine Reservierung bekommt, und bei dessen Erwähnung auch jetzt jeder auf der Straße nur mit den Schultern zucken würde? Es gibt wenig Zweifel: ich war in einer Parallelwelt.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Sushi Saito
Chef de Cuisine: Takashi Saito
Ort: Tokio, Japan
Datum dieses Besuchs: 13.03.2017
Guide Michelin (TYO 2017): ***
Meine Bewertung dieses Essens (?): 10*
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*) Die Bewertung einzelner „Gänge“ in Sushi-Restaurants werde ich künftig nicht mehr im Einzelnen ausführen. Es ist wenig sinnvoll, einzelne Sushi-Teile zu bewerten, da die Qualität des Handwerks und der Produkte während eines solchen Essens niemals von einer Speise zur anderen abweicht und als Einheit betrachtet werden muss. Mehr hierzu ggf. an anderer Stelle.

Tourniert: Shanghai, Berlin, Paris, Hamburg

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In der siebten Ausgabe von „Tourniert“ berichte ich kurz und kompakt über einige Restaurants, die ich in den letzten Monaten besucht habe, von Hamburg bis Shanghai.

Die Berichte im Einzelnen:

→ L’Atelier de Joël Robuchon, Shanghai
→ einsunternull, Berlin
→ Champeaux, Paris
→ Jacobs Restaurant, Hamburg
→ Gallo Nero, Hamburg
→ Tarterie St. Pauli, Hamburg


L’Atelier de Joël Robuchon, Shanghai

Das letzte Restaurant, das ich im Januar in Shanghai besuchte, war das L’Atelier de Joël Robuchon. Ich habe den Termin absichtlich aufs Ende der Reise gelegt, weil mir nach Essmarathons in asiatischen Ländern besonders zum Schluss häufig nach französischen oder italienischen Geschmacksbildern ist. Außerdem bin ich ein sehr großer Freund der Ateliers. Manche schimpfen sie zwar die Kettenrestaurants der französischen Sterneküche, aber ich habe nie verstanden, warum das nicht eigentlich ein Kompliment ist. Und wie sagt man so schön? Wer kann, der kann.

Robuchon kann, und das beweist er auch mit diesem Restaurant. Die rot-schwarze Einrichtung erfüllt mich sofort mit Freude und Appetit.

Der Laden brummt. Kosmopolitische Gäste, die alle Freude am Essen haben, füllen jeden Platz dieses recht großen Restaurants. Ich sitze, wie es sich hier gehört, am Tresen und sauge die Gastfreundschaft des größtenteils französischen Personals auf wie ein nasser Schwamm. Die chinesischen Restaurants haben es nämlich nicht so damit. Bei, unter anderem, einem Glas vorzüglichen Cos d’Estournel blanc (€ 34) wähle ich ein paar Speisen aus der umfangreichen Karte.

Ich beginne das entspannte Mahl mit Blick auf den Bund und einem Carpaccio von Dorade mit Zitrone, Olivenöl, Piment d’Espelette und Kaviar (ca. € 26). Ganz ausgezeichnet! — 8

Gebratener Hummer von ebenso makelloser Qualität wird in einem tiefen Teller in einer pikanten, buttrigen Krustentierbisque serviert und von knackig frischen Erbsen und Pak Choi begleitet (ca. € 31). Eine Wonne. — 8

Zartes, saftiges Ferkel hat ansprechende Röstnoten und wird pfiffig von verschiedenen Kräutern, z. B. Dill, und einem Schalottenpüree begleitet (ca. € 26). Noch etwas mehr von der konzentrierten Sauce hätte das Gericht noch besser gemacht. Dennoch ist das ganz souveränes Handwerk mit exzellenten Produkten bis hin zu den Kräutern. — 7,9

Ein dekadent süßes und kalorienhaltiges Dessert („Le Dôme“) mit Vanilleeis, Bananencreme und Karamell genieße ich schwelgend und mit kindlicher Freude. — 8

Warum man in Shanghai ausgerechnet in ein französisches Kettenrestaurant gehen sollte? Darum!

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: L’Atelier de Joël Robuchon (→ Website)
Chef de Cuisine: Francky Semblat
Ort: Shanghai, China
Datum dieses Besuchs: 22.01.2017
Guide Michelin (SHA 2017): **
Meine Bewertung dieses Essens (?): 8
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einsunternull, Berlin

Ivo Ebert, einst Sommelier und Mitinhaber des reinstoff, hat sich mit einem modernen Restaurantkonzept in Berlin-Mitte selbstständig gemacht. An einem frühen Samstagmittag kehre ich zu einem kurzen Mittagessen hier ein. Es ist selten, dass anspruchsvolle Restaurants zu dieser Zeit öffnen. Zu Hause in Hamburg vermisse ich das regelmäßig.

Das Ambiente ist einladend hell und skandinavisch schlicht. In solcher Umgebung kann man, schon ohne die Speisekarte gesehen zu haben, eine moderne regionale Küche erwarten.

In der Tat findet man in der Mittagskarte (drei bis fünf Gänge, € 29–45) Begriffe wie Landkaffee, Goldleinöl und Aroniabeere. Das passt zum glutenfreien Bio-Esprit der Stadt.

Ein Chicoréeherz als Zichorienknospe zu bezeichnen ist dann schon fast albern, schmeckt aber dennoch gut und geht mit Kaffeepulver ein interessantes Spiel mit verschiedenen Bitternoten ein, die von einer Quittencreme, pardon, Zwergquittencreme, gut aufgefangen werden (7). Danach offenbaren hauchdünn aufgeschnittene, nach Wald duftende und (erneut) auf einer Creme gebettete Champignons die Güte dieses unterschätzten Alltagspilzes (6,5).

Ein Stück Spannrippe vom Rind schmeckt gereift und nach guter Qualität, ist aber zäh und trocken. Dazu gibt es „saure Kartoffel und Kamille“ (6). Ein Dessert Johannisbeere und Milch spielt erwartungsgemäß eher mit Säure als mit Süße, tut dies jedoch sehr souverän (7).

Man leistet hier zweifellos gute Arbeit, aber das Ganze wirkt auf mich etwas zu verkrampft. Ich hatte zweifellos ein angenehmes Mittagessen, das mir aber keine Argumente bot, es zu wiederholen. Und wenn eine Gastronomie einem dieses Gefühl vermittelt, dann ist der Fokus vielleicht etwas falsch gesetzt.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: einsunternull (→ Website)
Chef de Cuisine: Andreas Rieger
Ort: Berlin, Deutschland
Datum dieses Besuchs: 28.01.2017
Guide Michelin (D 2017): *
Meine Bewertung dieses Essens (?): 6,5
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Champeaux, Paris

Auf dem Gebiet des einstigen Großmarkts von Paris, Les Halles, hat ein Umbau stattgefunden, der das Budget der Elbphilharmonie mühelos in der Pfeife raucht. Hier findet man aber keinen Konzertsaal, sondern eine recht depressive untergeschössige Einkaufspassage. Auf Erdgeschossniveau findet man aber auch die neue Brasserie von Gastronomiegroßmeister Alain Ducasse: Champeaux.

Das von allen Seiten von Licht durchflutete Restaurant besitzt als charakteristisches Merkmal eine große elektrisch gesteuerte Tafel wie früher an Flughäfen oder Bahnhöfen, auf der alle paar Minuten Auszüge aus der Speisekarte sowie und andere Informationen mit einem klackernden Geräusch angezeigt werden.

Die eigentliche Speisekarte ist ganz klassisch auf dünnes Papier gedruckt und liegt gefaltet auf dem Tisch. Es gibt alles, was das Brasserie-Herz begehrt: Zwiebelsuppe, Pulposalat, Avocado mit Crevetten, Schnecken, Foie Gras mit Toast, geräucherten Lachs, Patés, Charcuterie– und Käseteller, tolle Stücke vom Rind (Onglet, Bavette, Entrecôte), Rindertartar, Blutwurst, Entenkeulen, Desserts, Soufflés … ein Paradies.

Ich begeistere mich schon gleich für die erste Speise, rohe Abschnitte von Dorade in fantastischer Qualität, mariniert, mit leuchtend frischen Zitrusfrüchten und gutem Pfeffer (€ 10 — 7,5). Auch sehr gut: herzhaft gerösteter, sehr zarter, aber nicht zerfallender Pulpo mit Kichererbsen und einer perfekten Balance zwischen Röstnoten, Fett, Schärfe und Säure (€ 16 — 7).

Ein Teller Nudeln (Coquillettes) mit Schinken-, Kartoffel- und Trüffelwürfeln (€ 18) ist sahnig, süffig und glücklich machend (7); Soufflé und Tarte au Citron sind ebenfalls einwandfrei (beide 7). Dazu gibt es exzellente Weine, besonders auch glasweise. Ein Traum, qualitativ und preislich. Allein für so ein Essen lohnt es sich schon nach Paris zu reisen. Muss man ja auch. Gibt’s hier ja nicht.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Champeaux (→ Website)
Chef de Cuisine: Kévin Kowal
Ort: Paris, Frankreich
Datum dieses Besuchs: 10.02.2017
Guide Michelin (F 2017): (noch nicht bewertet)
Meine Bewertung dieses Essens (?): 7
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Jacobs Restaurant, Hamburg

Über den Stellenwert des Traditionshauses in der Hamburger Restaurantlandschaft ist jeder Zweifel erhaben. Zig Mal war ich bereits Gast hier, zig Mal werde ich noch Gast hier sein. Die seit letztem Jahr in Kraft getretene „zeitgemäße hanseatische Gelassenheit“ ist aber auch eben nicht zu verwechseln mit kosmopolitischer Ungezwungenheit. Der Altersschnitt der Debitoren im Speisesaal dürfte immer noch deutlich jenseits der 65 liegen.

Aber man kann sich seine Nischen schaffen, im wahrsten Sinn zum Beispiel an einem der Tische mit sofaähnlichen Sitzmöbeln.

Die französische Küche Thomas Martins ist zeitlos wie eh und je, und er ist nach wie vor ein König der Saucen. Ein qualitativ sehr gutes Filet vom Nordsee-Kabeljau mit Nudelrisotto, Büsumer Krabben und Pistazie für faire 29 Euro offenbarte bei einem Essen im April den Fokus der Küche auf „Süffigkeit“, die hier niemals aus den Augen verloren wird. — 8

Eine kalt servierte Vorspeise mit Pulpo in einem Safran-Muschel-Sud mit Queller (€ 26 — 6,9) hatte dann allerdings ähnliche „Probleme“ wie ein Gericht aus dem Februar mit Thunfisch „a la plancha“ mit Mandelaioli, Oliven und Zitrone (€ 28 — 7). Beide Gerichte sahen zwar nicht nur wunderschön aus und waren optimal konzipiert, litten aber etwas unter da nicht ganz mithaltenden Produkten. Dadruch gerieten beide Teller in etwas flacheres Fahrwasser. Ich habe mit Thomas Martin längst über die Gerichte gesprochen; sie wurden inzwischen justiert. Konstruktive Kritik ist für einen souveränen Küchenchef ja meist wertvoller als die Schwärmereien, die man sich an den anderen Tischen abholen kann.

Aber ich schwärme auch, im Großen und Ganzen, und freue mich schon auf laue Sommerabende unter den Linden mit Blick auf die Elbe und auf Airbus.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Jacobs Restaurant (→ Website)
Chef de Cuisine: Thomas Martin
Ort: Hamburg, Deutschland
Datum dieser Besuche: 23.02.2017, 21.04.2017
Guide Michelin (D 2017): **
Meine Bewertung dieser Essen (?): im Schnitt 7
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Gallo Nero, Hamburg

Der Hamburger Stadtteil Winterhude ist reich gespickt mit Gastronomiebetrieben, die einem hilflosen und weltfremden Publikum, das sich selbst als kosmopolitische Feinschmecker sieht, so ziemlich alles Essbare andrehen können. Als „Scampi“ verkaufte Tiefkühlgarnelen, große Pfeffermühlen und billiger Balsamessig füllen hier Abend für Abend die Kassen der Wirte, die man hier natürlich beim Vornamen kennt.

Ich hatte Lust, dieses Klischee nach vielen Jahren einmal wieder zu überprüfen und kehre an einem Dienstag – es ist rappelvoll – ins Gallo Nero ein. Das hat nichts mit Masochismus, sondern mit tatsächlichem Interesse zu tun.

Im Gallo Nero – wir sind zu viert – bestellen wir erst einmal eine Pizza Margherita (€ 8,90), während wir in der Karte stöbern. Der Pizza (ohne Foto) fehlt es an allem, was eine gute Pizza ausmacht: eine Behandlung mit großer Hitze wäre schon mal ein guter Anfang gewesen, diese hier wirkt fast wie aus der Mikrowelle (5).

„Manufaktur-Spahettini“ mit Calamaretti (€ 13,90) sind fad, härter als al dente gekocht, haben keine geschmackliche Tiefe, das Meerestier ist lasch gewürzt und fischig – man sieht das schon alles als der Teller serviert wird (5). Das esse ich nicht weiter, interessiert aber auch keinen. Höhepunkt des Versagens ist ein stolz vom Chef präsentiertes T-Bone-Steak für zwei (Preis nicht notiert, vermutlich ca. € 30 p. P.), am Tisch tranchiert, sehr trocken, ohne Röst- oder Eigenaromen, serviert mit gummiartigen, fast kalten Kartoffeln und Krankenhausgemüse (5).

Ein Affront gegenüber der italienischen Küche! Und ein kulinarisches Trauerspiel erster Güte, mit dem der Inhaber höchst erfolgreich und die Gäste überglücklich sind. Was will man mehr?

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Gallo Nero (→ Website)
Chef(s) de Cuisine: Andrea Cacace, Martin Sadirov, Davide Landolina
Ort: Hamburg, Deutschland
Datum dieses Besuchs: 25.04.2017
Guide Michelin (D 2017): (keine Erwähnung)
Meine Bewertung dieses Essens (?): 5
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Tarterie St. Pauli, Hamburg

Der Name des Restaurants ist noch Zeuge von Inhaber Fabio Haebels einstigem Konzept, hier herzhafte Teigwaren wie Quiche und Flammkuchen zu verkaufen. Schon dies war eine Evolution seiner gleichnamigen Cateringfirma. Inzwischen ist der Laden ein kleines Restaurant mit kreativer französischer Küche. Man ist hier stets im Wandel, Köche kamen und gingen, daher hatte ich nach meinen bisherigen Besuchen immer das Bedürfnis, noch einmal abwarten zu wollen, was hier eigentlich passiert.

An einem Abend im April frische ich meinen Kenntnisstand auf. Das Tasting-Menü (drei bis sechs Gänge, € 38–€ 65) beginnt mit einer Belon-Auster mit Buttermilch, Gurke und Pumpernickel, das mich stark an einen ähnlich konzipierten und fast schon stadtbekannten Appetizer aus dem Off Club erinnert. Kein Wunder, ein ehemaliger Koch von dort arbeitet jetzt hier. Ein Plagiat ist das gleichwohl nicht, fehlt hier doch etwas Säure, um dem Amuse-Bouche Spannung zu verleihen. Auch bin ich kein Freund des recht strengen Austerngeschmacks dieser Sorte, was jedoch eine persönliche Präferenz ist (6,5). Ein Gang mit Karotte, Estragon und Dickmilch bietet angenehme Texturkontraste und sehr gut herausgearbeitete, süßholzähnliche Aromen vom Estragon, nur der Protagonist Möhre ist etwas fad (6,5).

Die nächsten zwei Gänge lassen mich ratlos zurück. Aufgeschnittene Salatherzen mit Weintrauben und einer gutgemachten Sauce mit Verjus wurden auf eine sehr irritierende Weise angebrannt, die das Gericht, wirklich wahr, nach kaltem Aschenbecher riechen lässt und es für mich dadurch ungenießbar macht (5). Roh servierter Zander mit Wacholder, Haselnuss und Radieschen riecht unappetitlich fischig, ist von Natur aus sehr kaubedürftig und offenbart eindringlich, wie man rohen Fisch nicht einsetzen sollte (5). Dank der unmittelbaren Nähe meines Tischs zum Pass stehe ich in regem Dialog mit der Küche, die für Kritik offen ist. Die Atmosphäre ist zu jedem Zeitpunkt entspannt und kommunikativ.

Sehr gutes, weil zartes und aromatisches, Onglet (Nierenzapfen) – ein hierzulande viel zu selten servierter Schnitt vom Rind – ist sehr erfreulich, aber die Mitspieler, vor allem ein etwas zu viel Süße beisteuerndes Zwiebelkompott und noch einmal Zwiebel selbst, nehmen etwas zu viel Raum ein. — 6,5

Ein sehr gutes Dessert, das erfreulicherweise deutlich weniger kreativ schmeckt als es aussieht, bietet Rote-Bete-Eis, Rhabarber und Lakritz als Hauptzutaten. Sehr gut. — 7

Kurz gesagt: es hat viel Potenzial, was die Jungs hier machen, aber man konzentriert sich hier zuweilen schon zu viel auf Kreativität anstatt erst einmal auf Konstanz und ein solides Fundament. Das lässt die Küche manchmal etwas unauthentisch erscheinen. Aber die Tarterie ist ja immer im Wandel. Ich bin gespannt auf die Fortsetzung.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Tarterie St. Pauli (→ Website)
Chef de Cuisine: Fabio Haebel
Ort: Hamburg, Deutschland
Datum dieses Besuchs: 26.04.2017
Guide Michelin (D 2017): (keine Erwähnung)
Meine Bewertung dieses Essens (?): 6
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Korrektur: In einer früheren Version dieses Artikels krititiserte ich, dass die Champignons im einsunternull an einigen Stellen verfärbt seien. Hierbei handelte es sich jedoch um das zum Gericht gehörende Leinöl. Ich bitte, diesen Irrtum zu entschuldigen.

Koryu – drei Sterne zu viel in Osaka, Teil 1

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An einer Straßenecke in einem Ausgehviertel von Osaka komme ich mehr als zwanzig Minuten vor meiner eigentlichen Reservierungszeit vor dem Restaurant an. Ein stark alkoholisierter Jugendlicher erbricht sich auf der Straßenseite gegenüber und wird von seinen Freunden in ein Taxi geworfen. Sein Abend endet hier, meiner beginnt.

Ich gehe nicht davon aus, so früh schon in das Restaurant gelassen zu werden und probiere es auch nicht aus. Dennoch prüfe ich schon mal die Gegebenheiten. Die Lage ist zunächst die, dass der Küchenchef offenbar gerade Protagonist eines Fernsehdrehs ist und sich sichtlich gerne vor der Kamera aalt. Nachdem die Show vorbei ist, versuche ich vorsichtig, einzutreten. Das Restaurant ist leer. Doch ich werde recht unwirsch von einem Angestellten abgewiesen, der auf seine Uhr zeigt. Es ist fünf Minuten vor neun.

Ich laufe noch einmal um den Block. Dreißig Sekunden nach neun versuche ich es erneut. Man möchte ja auch nicht zu spät sein. Jetzt klappt es, und ich sitze wenig später am Tresen. Das Restaurant ist recht klein. Ungefähr zwölf Personen haben hier Platz, der Speisesaal ist kaum größer als vielleicht fünfundzwanzig Quadratmeter.

Viel weiß ich über dieses Restaurant nicht, außer, dass es „japanische Küche“ serviert, die mit drei Michelin-Sternen ausgezeichnet ist.

Vorhin noch vor der Kamera, jetzt hinterm Tresen, hantiert Chef Shintaro Matsuo. Drei Hilfsköche leisten ihm Unterstützung, von denen einer auffällig krank ist. Ein hochroter Kopf, Schweißperlen auf der Stirn, fiebrige Augen, müde Bewegungen und ständiges Schniefen deuten auf eine infektiöse Viruserkrankung hin, von der ich am liebsten allergrößten Abstand halten würde. Gleichwohl steht der arme Kerl keinen halben Meter vor mir, schnieft und niest ungeschützt in die Gegend, auf Lebensmittel, Utensilien und Gäste. Da ist das japanische Pflichtbewusstsein wohl größer als ein Verständnis von Hygiene und Gesundheit. Ich bin davon recht befremdet und würde mir am liebsten den Mundschutz aufsetzen, den ich gerade bei meinem Spaziergang um den Block in einem Supermarkt erworben habe. Aber in einem Restaurant ist eine Maske dann doch eher unpraktisch. Ich muss da jetzt wohl durch.

Das Menü (ca. € 120) beginnt mit einer Kreation mit rohem Riesen-Tigersalmler (tigerfish), serviert in einer gelierten Gemüsesuppe mit pochiertem Ei. Die Frische der Produkte kommt klar zum Vorschein, das Handwerk ist makellos, aber geschmacklich ist das keine Offenbarung. Dennoch auf hohem Niveau. — 7

Matsuo-san präpariert inzwischen Meerestiere. Seine Art, dies zu tun, ist im Vergleich zu manch anderen hochdekorierten japanischen Chefs nicht besonders faszinierend. Es gibt keine Zweifel, dass er sein Handwerk beherrscht, aber er wirkt bei seiner Tätigkeit sehr abgelenkt, scherzt ständig mit einem offenkundigen Stammgast, ignoriert weitestgehend alle anderen Gäste und fährt ab und zu mal einen seiner Hilfsköche an.

Es folgt ein kalt serviertes Gericht mit sellerieähnlichem Gemüse, irgendetwas, das wie Huhn aussieht, aber keines ist, kleinen Garnelen und Sesamsauce, die aromatisch an Erdnuss erinnert. Frisch, klar, sehr gut. — 7

Es geht weiter mit einem Sashimi-Arrangement, bestehend aus Flachfisch (Hirame), Tintenfisch, Jakobsmuschel und Aal. Die Fische sind von sehr guter Qualität, vor allem der etwas weniger fette Thunfisch, ich vermute aus dem mittleren Rückenstück. Das einzige Problem ist der rohe Aal, der nicht nur unglaublich zäh und kaubedürftig, sondern auch noch mit kleinen Gräten gespickt ist. Während ich minutenlang versuche, die Portion Fisch so zu zerkauen, dass ich mich in der Lage fühle, sie runterzuschlucken, sieht mich der Chef die ganze Zeit an – als wartete er nur darauf, dass ich es wieder ausspucke. Mit Ausnahme dieses zum Rohverzehr völlig ungeeigneten Fischs ist das alles ein hohes, aber keinesfalls hervorragendes, Niveau. — 7

Als nächstes gibt es eine klare, heiße Suppe, klassisch auf Dashi-Basis, mit Zackenbarsch und Bambussprössling. Einwandfrei. — 7

Ein Schälchen mit eingelegten, aber etwas wässrigen Gemüsen, Seeigel und Wasabiblättern sieht schön aus, bietet aber trotz der exquisiten Zutat wenig Bemerkenswertes. — 6,5

Für das nächste Gericht gelangt der Holzkohlegrill zum Einsatz, der fester Bestandteil der kleinen Küche ist. Ein Stück weißen Fischs, dessen Name ich nicht verstehe, wird darauf gegrillt und mit Lotuswurzel, Krebsfleisch und Krebssauce serviert. Die von Natur aus sehr trockene, spröde Beschaffenheit des Gemüses ist keine Freude. Auch den Rest dieses Tellers prägen unvorteilhaft präparierte Zutaten und ein fades Geschmacksbild. — 5

Der Stammgast links von mir rührt sein Gericht erst nach mehreren Minuten an, da er sich gerade in einem heiteren Gespräch mit dem Küchenchef selbst befindet, dem das temporäre Ignorieren seines Gerichts offenbar gleichgültig ist.

Auch das nächste Arrangement, eine Art Granité mit weiteren, frischen Zutaten, irritiert. Für wässrige, neutrale Tomate muss ich nicht nach Japan fliegen, da helfen auch die überportionierten Stücke Yuzu genauso wenig wie das Sashimi vom Kugelfisch, das sich irgendwo in dieser extrem kalten Kombination versteckt. Belanglos. — 5

Auch das nächste Gericht ist für das, was es sein könnte, eine Enttäuschung. Ein paar Scheiben Miyazaki-Rind sind naturgemäß von exzellenter Qualität, stammen aber von einem eher langweiligen Filetstück oder ähnlich mürben Schnitt. Eine Sauce aus Perilla (Shiso) – eine Zutat, die immer auch etwas von süßlichem Zahnpastageschmack hat – passt hierzu nur bedingt, und bei dem Stück Lauch, von dem man offenbar nur das Innere essen soll, muss ich die papierartige Außenhaut wirklich wieder ausspucken, wie peinlich von mir. — 6,5

Das befremdliche Mahl geht weiter mit einem als Porridge bezeichneten Reisbrei, dazu gibt es auf einem separaten Teller einige säuerlich eingelegte Zutaten. Tradition solcher Speisen hin oder her, das ist völlig ungenießbar, weil es an klebrigem Reisbrei einfach nichts zu genießen gibt. — 5

Die einzige zu drei Michelin-Sternen und einem berühmten Küchenchef ansatzweise passende Speise dieses Abends ist ein exzellentes Dessert mit sehr aromatischen roten und weißen Erdbeeren, Zitrusfrüchten und rosa Pfeffer. — 8,5

Ich vermute, dass man aufgrund der extremen Saisonalität und der daraus bedingten Vielfalt der japanischen Küche hier auch deutlich besser essen kann. Dennoch war der Abend geprägt von kulinarisch ungenauen Kreationen, einwandfreien, aber weitestgehend unauffälligen Zutaten und einem Chef, der sich in seiner lokalen Berühmtheit sehr auszuruhen scheint. Recht unjapanisch, diese Darbietung.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Koryu
Chef de Cuisine: Shintaro Matsuo
Ort: Osaka, Japan
Datum dieses Besuchs: 11.03.2017
Guide Michelin (Kyoto/Osaka 2017): ***
Meine Bewertung dieses Essens (?): 6,5
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Taian – drei Sterne zu viel in Osaka, Teil 2

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Nach der gestrigen Enttäuschung im Koryu besuche ich an diesem Sonntagabend im März das andere der beiden Drei-Sterne-Restaurants in Osaka. Neben der Höchstauszeichnung im Guide Michelin bestehen weitere Ähnlichkeiten: auch im Taian gibt es japanische Küche am Tresen, einen in die offene Küche integrierten Grill, ein vergleichsweise günstiges Menü für umgerechnet etwa € 110, und es gibt auch hier kränkelnde Küchenangestellte, die in die Gegend niesen.

Das von außen sehr einladende Restaurant hat im Interieur wenig von japanischem Purismus. Statt hochwertiger, schlichter Materialien sieht hier alles etwas nach Plastik aus. Eine hohe Brüstung am Tresen, die uns Gäste vom Küchenpersonal trennt, wirkt in einer Welt, bei der es sonst viel um Respekt und Demut geht, regelrecht unhöflich.

Der Auftakt des Menüs besteht aus einer Auswahl verschiedener kleiner Speisen: gehobelter Rettich; Algengelee mit Ingwer; Muscheleis mit Zitrusfrucht; Gemüse mit Seegurkenleber; und eine weiche, faserige Masse mit Ume-Frucht. Saisonal, frisch und handwerklich gekonnt ist das alles zweifellos, doch dem insgesamt eher faden Geschmacksbild und den vielen viskoelastischen Zutaten kann ich auf der Genussseite wenig abgewinnen. — 6,9

Weiter geht’s mit einer Suppe mit Muscheln, Abalone und Algen (ohne Foto), die sehr heiß, aber erneut sehr fad ist. Nicht einmal die Dashi-Basis ist geschmacklich wahrnehmbar. Sehr ernüchternd. — 6

Es folgt Sashimi mit Thunfisch und Flunder, beide von exzellenter Qualität. Besonders das sonst sehr kaubedürftige Fleisch des Plattfischs ist hier wegen des sehr dünnen Schnitts gut zu essen. Wenn sich Japan-Reisen allmählich dem Ende zuneigen, ist man für jedes Gramm solcher Qualitäten umso dankbarer. — 8

Beim folgenden Gang gelangt der Robata, der Holzkohlegrill, zum Einsatz. Ungewöhnlicherweise konnte man vor dem Menü die Zutaten auswählen, die hier für einen präpariert werden sollen. Mit etwas Unterstützung entschied ich mich für Schweinerippchen und Wagyu-Rind (genaue Herkunft nicht notiert), dazu gibt es Salat und säuerliche Condiments. Die Rippchen sind knusprig und saftig, aber keine absolute Referenz für so ein Produkt (7), das Rindfleisch ist exzellent: schön marmoriert, mit dünner, leicht knuspriger Kruste, innen nur leicht gegart und dennoch warm, am Gaumen schmelzend und an den Geschmack von beurre noisette erinnernd (8). Beides puristisch, beides sehr gut.

Es folgt eine erneut extrem heiße Suppe, mit Aji, den kleinen stintartigen Fischchen, Wasabi und Yuba, der getrockneten Haut von Sojamilch. Letztere verleiht der Suppe eine dickflüssige Textur. Erneut: neutral, zu viel, zu heiß, wenig Genuss. — 6,5

Mittlerweile etwas skeptisch betrachte ich den nächsten Gang, der erneut aus einer kleinen Suppe mit Kräutern, einer Schüssel Reis mit Bambus und säuerlich marinierten Gemüsen besteht. Eine klassische Zusammenstellung kurz vor dem Dessert, die gut gemacht ist, mich aber auch nicht von diesem Hocker haut. Das liegt nicht am Restaurant, sondern an einer Genussgrenze, die derartigen Speisen innewohnt (hier aber dennoch nicht erreicht ist). — 6,9

Ein Dessert wird im Trinkglas serviert und enthält sehr gute Erdbeeren und eine „sandige“ Zubereitung aus grünen Bohnen, die dem Erdbeergenuss im Weg steht. — 6

Der Chef niest noch einmal demonstrativ und völlig ungeschützt in die Gegend. Vielleicht hat der kleine Schutzwall vor einem ja doch noch einen Vorteil.

Meine schwache Bewertung auch dieses zweiten Essens in Osaka ist keineswegs einer Übermüdung geschuldet. Wenn ich in einem Restaurant bin, sind meine Sinne geschärft, ich bin fast immer vorfreudig und offen für alles. Auch die vielen neutraleren, weil schwach gewürzteren, Speisen, denen man in japanischen Restaurant öfter begegnet, sind kein Kritikpunkt an sich. Ich habe an den subtilen Aromen teilweise große Freude. Aber alles, was hier serviert wurde, existiert anderenorts um Klassen besser. Warum die Inspektoren des Guide Michelin solch ein gutes, aber keinesfalls weltbestes Restaurant mit ihrer Höchstwertung auszeichnen, ist mir ein Rätsel.

Morgen geht es endlich nach Tokio, das ich bei dieser Reise leider nur kurz streifen werde. Und jetzt schnell raus hier, der Chef setzt wieder zum Niesen an …

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Taian (太庵)
Chef de Cuisine: Hitoshi Takahata
Ort: Osaka, Japan
Datum dieses Besuchs: 12.03.2017
Guide Michelin (Kyoto/Osaka 2017): ***
Meine Bewertung dieses Essens (?): 6,9
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Sukiyabashi Jiro (Roppongi) – im Namen des Vaters

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Am neunten Tag meiner diesjährigen Reise nach Japan habe ich zwölf umfangreiche Essen hinter mir, darunter Kurioses, Ekelhaftes, Genussreiches und Denkwürdiges. Fast alles davon ist unvergesslich – und prägt und bereichert mich in seiner Vielfalt und Perfektion. Erst gestern noch erlebte ich eines der besten Essen meines Lebens beim genialen Sushi-Meister Takashi Saito; ein paar Stunden zuvor stattete ich dem alten Jiro Ono und seinem älteren Sohn Yoshikazu einen zweiten Besuch ab, der noch hektischer ablief als mein erstes Mal dort.

Heute Mittag bin ich bei Onos zweitem Sohn, Takashi, der ein Sushi-Restaurant in Roppongi, einem wohlhabenden Teil des Tokioter Bezirks Minato, betreibt. Das Restaurant heißt genauso wie das berühmte Restaurant seines Vaters; es kommt hier auch tatsächlich hin und wieder zu Verwechslungen.

Um die Filiale in Roppongi hält sich die Aufregung im Vergleich zum Laden (die Japaner verwenden im Englischen tatsächlich den Begriff shop für Restaurant) des Vaters in Grenzen. Zu den höchsten Michelin-Weihen fehlt Takashi ein Stern, und ich bin gespannt, die Unterschiede an diesem Mittag auszukundschaften.

Takashi lächelt höflich als ich zusammen mit weiteren Gästen eintrete. Man wird zunächst für ein paar Minuten an eine Art Wartetisch gesetzt, fünf Minuten später geht’s an den Tresen. In dieser kurzen Zeit hatte ich gestern beim Vater schon acht Nigiri-Teile intus, was mich irgendwie an diese Steckstifte mit verschiedenen Farbminen erinnert, die man früher als Kind im Flugzeug bekommen hat.

Weitere Minuten vergehen, in denen schon mal ein kühles Bier gut tut. Von Hektik ist hier – vergleichsweise – nichts zu spüren.

Das recht kostspielige Menü (ca. € 220) beginnt mit jungem Brokkoli mit Sojasauce. Schlicht und erfrischend wird der Gaumen schon mal auf umami kalibriert.

Takashi beobachte ich derweil beim präparieren verschiedener Zutaten. Er sieht dabei sehr sicher aus, gleichwohl nicht so faszinierend hypnotisch wie Sushi-Gottheit Saito und auch nicht so todernst wie sein Vater. Das Englisch des Chefs ist auch akzeptabel, sodass man auch ein paar Sätze austauschen kann.

Vor der klassisch servierten Abfolge an Nigiri gibt es etwas Sashimi: Oktopus, sehr zart, und gut mit dem separat servierten Salz zu genießen, sowie Makrele, die durch Marinieren eine mürbe Textur aufweist und die man mit den dazu gereichten Schalottenstreifen isst. Beides von ausgezeichneter Qualität.

Das Nigiri-Sushi folgt und beginnt mit Flunder. Wie immer bei Sushi-Restaurants ist das erste Stück eines der spannendsten, da man den individuellen Stil des Meisters zum ersten Mal wahrnehmen kann. Takashi formt ähnlich große Nigirs wie sein Vater und verwendet beim Reis eine prononcierte Säure. Die Körnung ist gut herausgearbeitet, dabei nicht zu luftig, die Temperatur ist perfekt auf den Gaumen abgestimmt. Die vielen Stellschrauben dieser unscheinbaren Speise sind hier zweifellos auf ein hohes Niveau justiert.

Der Tintenfisch ist nicht eingeschnitten, das ist eine Stilfrage des Chefs. Ich persönlich mag es etwas lieber, wenn das Fleisch mancher Fische (und eben auch Tintenfisch) etwas eingeschnitten ist. Dennoch ist das hier ein hervorragendes Stück Sushi.

Hornhecht (needlefish) folgt …

sowie das Stück einer riesigen Jakobsmuschel, das ich allerdings als etwas trocken empfinde.

Mit Thunfisch geht es weiter, einmal Akami, der etwas magerere, aber dennoch köstliche Teil des Tiers, danach Chutoro, etwas fettiger und meist noch schmeichelhafter. Sehr gute Qualitäten, aber keine Referenzen.

Gizzard Shad, eine Heringsart, folgt, auch hier nicht, wie sonst oft, eingeschnitten. Dennoch kommt die Qualität gut zum Vorschein.

Das Tempo ist angenehm. Zwischen jedem Stück sind ungefähr drei Minuten Pause, was die Angelegenheit sehr entspannt macht. Ein zweites Bier ist fällig, und meine Laune ist – trotz der bevorstehenden Abreise morgen – gut.

Ein Gunkan-Maki mit Reis und Lachsrogen ist exzellent, die großen Körner platzen im Mund auf und geben angenehmen Salzgeschmack und Jodaromen frei.

Kuruma-Garnele kommt als nächstes. Der Chef weist darauf hin, dass man das Stück mit dem Schwanzteil als erstes verzehren soll, weil es einen stärkeren Geschmack aufweist. Sein Wort in meinem Gaumen stelle ich dabei allenfalls eine Nuance fest, aber darum geht es eben: Nuancen auf einem Niveau, an dem es – im Vergleich zum Rest der Welt – ohnehin nichts zu nörgeln gibt.

So sind die Gonaden vom Seeigel ebenfalls exzellent, wie auch die Makrele (Aji), …

… der immer etwas an Marzipan erinnernde gekochte Aal und noch ein Stück Otoro vom gehaltvollsten Teil des Thunfischbauchs, bei dem die Grenzen zwischen Fisch und Fleisch verschmelzen.

Tamagoyaki, das berühmte japanische süße Omelette, schließt ein gelungenes Essen ab, das sich in der Bewertung des Guide Michelin fair wiederspiegelt. Zu einer Perfektion eines Saito oder anderen Meistern wie Mizutani oder Yoshitake und vielen weiteren ist die Distanz aber noch erheblich größer als es scheint; auch das Sushi des Vaters ist – trotz der Hatz – spürbar besser. Doch es aß sich sehr entspannt hier heute Mittag. Und obwohl es sicherlich die größte Ehre ist, dass das Restaurant des Sohnes den Namen des Vaters trägt, hätte Takashis Restaurants wahrlich einen eigenen Namen verdient.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Sukiyabashi Jiro (Roppongi)
Chef de Cuisine: Takashi Ono
Ort: Tokio, Japan
Datum dieses Besuchs: 14.03.2017
Guide Michelin (TYO 2017): **
Meine Bewertung dieses Essens (?): 8
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Restaurant Gordon Ramsay – Post-Smyth-Ära

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Das Hauptrestaurant von Gordon Ramsay in der Londoner Royal Hospital Road ist neben seinem Namensgeber vor allem auch für einen weiblichen Namen bekannt: Clare Smyth. Die junge Küchenchefin wachte als eine von wenigen Frauen weltweit über eine mit drei Michelin-Sternen ausgezeichnete Küche. Vergangenes Jahr hat sie dann das Restaurant verlassen, um ab diesem Sommer auf eigenen Beinen zu stehen. Man darf auf ihr Projekt gespannt sein. Matt Abé, ein langjähriger Vertrauter Ramsays, ist hier jetzt Küchenchef.

Heute Abend bin ich zum zweiten Mal hier. Eigentlich steht mein Kurztrip nach London ganz im Zeichen von Sushi (Umu und The Araki), aber ein Abend war noch frei, und, wenngleich es sicherlich spannendere Restaurants in London gibt, kann ich den drei Sternen einfach schlecht widerstehen. Bei meinem ersten Besuch – das ist fast sechs Jahre her – genoss ich hier immerhin einige sehr denkwürdige Gerichte. Noch heute bereite ich manchmal selbst eine Vorspeise mit lauwarmem Hummer, Speck, Lauch und Vinaigrette zu, die natürlich lange nicht so perfekt ausfällt wie das Original von Clare Smyth, mir aber das schlichte, unvergessliche Genusserlebnis von damals immer wieder vor Augen führt.

Ich erinnere mich auch noch gut an den kleinen Speisesaal, in dem nach meinem Empfinden von entspannter Atmosphäre etwas zu viele Tische untergebracht sind. Und wehe, man sitzt an einem der Plätze am Fenster direkt unter den Luftschächten der Klimaanlage. Letztere in allen Ehren – ohne sie wäre der kleine Raum in kürzester Zeit heiß und stickig – muss ich dennoch um einen anderen Tisch bitten. Kein Problem für den Service, der Maître d’hôtel, Jean-Claude Breton, stand in den fast drei Jahrzehnten, in denen er hier schon tätig ist und seinen Namen zur Legende gemacht hat, zweifellos schon vor größeren Herausforderungen.

Entspannung will sich bei mir gerade dennoch nicht einstellen. Welches Wasser darf es sein? Was möchten Sie zum Aperitif? Hier schon mal die ersten Snacks. Wie sieht es mit dem Wein aus? Und haben Sie schon eine Entscheidung zum Essen getroffen? Nein, herrje, ich habe aber schon viermal die überdimensionale Speisekarte aufgeschlagen und versucht, sie zu lesen.

Das alles folgt zwar dem regulären Protokoll vieler gehobener Restaurants, dennoch wünschte ich mir häufig etwas mehr ungestörte Zeit für eine gewissenhafte Auseinandersetzung mit der Speisekarte.

Die Entspannung tritt dann beim Champagner ein (Bollinger Rosé Grande Année 2005, Glas ca. € 33), nicht zuletzt wegen der exzellenten Amuse-Bouches, die ich jetzt auch endlich würdigen kann, nachdem meine Speiseauswahl gefallen ist. Es gibt einen Snack mit Lachs und Nori (die genauen Details habe ich auf die Schnelle nicht verstanden), er ist lauwarm, ganz präzise gearbeitet und erinnert an japanische Genüsse auf höchstem Niveau. — 9

Eine Mini-Tartelette mit jungen, hellgrünen, süßen Erbsen bringt diese prachtvolle Zutat exzellent zur Geltung (9), und bei einem kleinen bun mit Trüffel nehme ich einen Hauch Trockenheit wahr, kann der Kleinigkeit aber mühelos großen Genuss abgewinnen (8,5).

Erbsen sind dann auch das Thema eines weiteren Appetizers, in diesem Fall mit so schmeichelnden Mitspielern wie Erbsenkraut und Fava-Bohnen. Ein minziges Aroma gesellt sich zur süßen Frische der Erbsen, winzige Blüten (auch von der Erbse?) steuern Florales bei. Eine Speise wie ein Parfum. — 9

Jérôme Galis, so erfährt man in der Speisekarte, ist der Erzeuger des grünen Spargels aus der Provence, welcher die Hauptzutat meiner ersten gewählten Speise ist. (Das überschaubare Preiskonzept heißt hier drei Gänge zu ca. € 125.) Die sehr prononcierte Bissfestigkeit des Spargels ist mutig und lässt mich in meiner Meinung gespalten, ob das wirklich exakt so beabsichtigt ist. Die Qualität des Gemüses ist dabei über jeden Zweifel erhaben, fleischig und vollmundig, leicht bitter, aber auch die Morcheln gehen in dem Gericht etwas unter. Das dominierende Aroma von Bärlauch wirft zudem die Frage auf, warum das Gericht so den Ansprüchen einer hochdekorierten Küche genügt. Keine Zweifel, das ist ein sehr gutes, produktbetontes Gericht, aber es hat Schwächen, die besonders dann deutlich werden, wenn ich mir Gerichte mit grünem Spargel von Michel Troisgros, Guy Savoy oder Christian Bau ins Gedächtnis rufe. An diese denke ich nämlich bis heute; das Gericht vor mir wird, wenn auch langsam, verblassen. — 7,5

Ein als leicht modifizierter Klassiker angekündigtes Gericht folgt. Es handelt sich um einen Raviolo, der mit einer Farce aus Hummer und Kaisergranat (!) und Lachs gefüllt ist, obenauf findet man Sauerklee in Form von Blüten, Blättern und angegossener Sauce. Das Handwerk bei der Teigtasche imponiert mir hier besonders. Zwei Sorten Krustentiere! Mal allen Ernstes, wer macht so etwas noch? Man schmeckt diese zwar aufgrund der stark verarbeiteten Form nicht ohne weiteres heraus, aber gerade diese Tatsache zeugt von handwerklicher und qualitativer Kompromisslosigkeit. Auf einem anderen Blatt steht die Sauce, von der die leider ohnehin etwas trockene Kreation zum einen zwar profitiert, die andererseits aber auch stark sauerampferlastig ist. Hervorragend, aber nicht ganz optimal umgesetzt. — 8

Die Weinkarte bietet überwiegend berühmte französische Gewächse mit maßlosen Preisaufschlägen – das macht mir keinen Spaß. Die offene Weinauswahl ist interessanter und bietet auch einige glasweise Optionen edler Weine mittels Coravin-System. Zunächst finde ich Gefallen an einem offenen 2012er Chassagne-Montrachet von der Domaine Niellon (ca. € 14).

Als nächstes probiere ich Ferkel, das in mehreren Varianten auf dem Teller präsentiert wird. Ein Stück saftig gegarten Bauchs mit knuspriger Haut ist zart, aber gerade mal lauwarm; eine pikant gewürzte Wurst vom Schulterfleisch ist handwerklich und geschmacklich exzellent, hat auch ein kleines, aber wahrnehmbares Temperaturproblem, und ein paar Scheiben Filet, serviert auf gestampften Kartoffeln, sind innerhalb der Möglichkeiten von Filet auch sehr gut umgesetzt. Die wahre Qualität dieses Gerichts zeigt sich erst nach und nach. Es gibt auf dem Teller viel zu entdecken und kombinieren: einen chou farci (eine Art Kohlroulade), die würzig und saftig ist, dann entdecke ich noch Ananas, ein seltsam aus der Zeit gefallener Mitspieler, der aber ganz hervorragend zu dem ohnehin sehr klassischen Gericht passt und eine feine fruchtige Süße beisteuert. Mit jedem neuen Happen schmeckt das Gericht besser, das etwas in der Zeit stehengeblieben zu sein scheint, aber gerade deswegen ein Genuss ist. — 8,5

Ich probiere noch einen weiteren Hauptgang, Steinbutt mit mediterranen Gemüsen. Das Gericht ist ein einziger Traum und bringt trotz seiner rot-grün-gelben Farbwelt mehr Assoziationen an Azurblau hervor. So schlicht die Optik ist, um so konzentrierter ist der mediterrane Genuss dieses Stücks Fisch in Ausnahmequalität, das mit einer schaumigen Sauce auf Krustentierbasis serviert wird. Einige kleine Kaisergranate findet man auch noch auf dem Teller, die von sehr aromatischem Gemüse umzingelt sind. Wunderbar! — 9

Und da ich irgendwie ahne, dass es noch besser werden könnte, staunt der Kellner nicht schlecht als ich statt dem Dessert noch einen weiteren Hauptgang bestelle.

Seezunge wird in einer Algen-Minestrone mit Liebstöckl serviert, weitere Komponenten sind Fenchel und ein paar kleine Muscheln. Das Geschmacksbild ist außergewöhnlich. Man schmeckt ätherische Frische vom Fenchel, würziges Umami von verschiedenen Zutaten, und über allem schwebt eine Leichtigkeit der Minestrone, die – hier sehr passend – nur lauwarm ist. Die Seezunge ist perfekt gegart und von makelloser Frische. Ein wundervolles Sommergericht, das eigentlich nach einem Ausblick aufs funkelnde Mittelmeer schreit. — 10

Dass mir inzwischen nach einem offenen Rotwein war, konnte der Sommelier überhaupt nicht verstehen. Er quittiert meinen Wunsch mit einem Gesichtsausdruck als hätte ich eine Cola bestellt, um sie in meinen Wein zu mischen, und das, obwohl er mit dem einen Glas 2002 Château Evangile (ca. € 74) ein ziemlich gutes Geschäft macht. Wo ist bloß der aufgeweckte Sommelier Jan Konetzki von früher? Ach ja, den hat es gerade ins neue La Dâme de Pic verschlagen, ein weiteres To-do auf meiner langen Liste für London.

Es werden nun feuchte Handtücher gereicht, die nach einer Mischung aus Amaretto und WC-Reiniger riechen. Ich frage mich bei solchen Dingen immer, wer in einem Haus, bei dem es um Genuss geht, so etwas abnickt.

Mein Appetit reicht nicht mehr für ein Dessert, aber ich spekuliere darauf, dass noch ausreichend Petit-Fours folgen. Und tatsächlich, es gibt zunächst eine exzellente, schaumige und kühle Masse aus exotischen Früchten; ein Erdbeereis umhüllt von weißer Schokolade; die beste Milchschokolade (mit Piemonteser Haselnüssen), die ich je probiert habe; und ein Geleewürfel mit Holunderblüte, der mich zu meinem Besuch hier vor einigen Jahren zurückversetzt, als ich zum Abschluss des Menüs einen Geleewürfel mit Rosenaroma genoss, den ich bis heute nicht vergessen habe.

Ein krönender Abschluss. (Im Schnitt 9)

Das Restaurant Gordon Ramsay ist nach heutigen Maßstäben sicherlich nicht das spannendste Restaurant. Und genau damit fällt es angenehm aus dem Rahmen. Unaufgeregt und gekonnt wird hier eine behutsam modernisierte französische Klassik aufgetischt, die man erst einmal suchen muss, um sie so serviert zu bekommen – in einer Metropole wie London nicht lange.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Restaurant Gordon Ramsay (→ Website)
Chef de Cuisine: Matt Abé
Ort: London, England
Datum dieses Besuchs: 25.05.2017
Guide Michelin (GB/IRL 2017): ***
Meine Bewertung dieses Essens (?): 8,9
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The Araki – Japan ganz nah

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The Araki ist eine der wenigen Antworten auf die Frage, wo man außerhalb Japans authentisches Sushi auf vergleichbarem Niveau genießen kann. Ich bekomme diese Frage häufig gestellt, oft in der Hoffnung, dass meine Antwort ein Restaurant in Deutschland, gar in der eigenen Stadt, beinhaltet. Aber weit gefehlt. Gute Adressen sind außerhalb Japans äußerst rar gesät. Man findet sie fast ausschließlich in Metropolen wie Hongkong, Los Angeles, New York oder San Francisco, in Städten also, wo das Geld vieler Gäste besonders locker sitzt. Denn gutes Sushi ist ein teures Vergnügen, noch besseres Sushi ein noch teureres. Der Fisch muss den Japanern nämlich regelrecht unter der Nase weggekauft werden, und zwar ganz gleich, woher der Fisch stammt. Die japanischen Fischhändler zahlen bis zu sechsstellige Dollarbeträge für so manchen Thunfisch aus Portugal.

Seit einiger Zeit muss man als Europäer aber nicht mehr zwingend eine Langstrecke in Kauf nehmen, um in den Genuss von exzellentem Sushi zu gelangen. In Paris und London beispielsweise gibt es inzwischen hervorragende Adressen, die für ein erstes Augenöffnen, was diese faszinierende Speise betrifft, absolut geeignet sind.

In Deutschland gibt es keine solche Adresse. Zu Recht. Die deutschen Esser, von einigen Ausnahmen abgesehen, sind nicht so weit, um diese schlichte, grandiose Speise kulinarisch und finanziell wertzuschätzen. Sie verdienen daher kein gutes Sushi. Wir verdienen kein gutes Sushi. Das ist die traurige Wahrheit. Solange der Henssler noch jeden Tag seine Bude voll bekommt, ist diese Aussage wahr. Wer das anzweifelt, der stelle sich nur einmal die Situation vor, ein Japaner mit jahrzehntelanger Erfahrung in Tokio entscheidet sich für einen Neuanfang in Berlin-Mitte – mit 450-Euro-Menü, Vorauszahlung per Kreditkarte und eingeflogenem Reis und Wasabi aus Japan. Ich kann mir gar nicht ausmalen, wie viele Leute da mit dem Kopf schütteln würden und wie viele Medien dieses Restaurant in feinere Stücke zerhacken würden als der Sushi-Meister schneiden könnte. So viel Geld für Reis mit Fisch! Nicht einmal normale Tische! Kein Brot, bei den Preisen! Und die Umwelt! Und überhaupt! Allein der Gedanke an diese Situation verdirbt mir die Laune.

Etwas Glück hatten die Briten in ihrer Hauptstadt trotzdem, dass Sushi-Meister Mitsuhiro Araki sich für seine neue Herausforderung ausgerechnet einen Platz an der Themse ausgesucht hat. Der Sushi-Meister, dessen Restaurant in Tokio lange Zeit mit drei Michelin-Sternen ausgezeichnet war, hatte für seinen neuen Standort zunächst New York, Paris und Singapur in der engeren Auswahl. Joël Robuchon, als Gast bei ihm in Tokio, war es schließlich, der ihn von London überzeugte. Warum überhaupt der Wechsel? Araki suchte schlicht eine neue Herausforderung.

Ein bisschen also auch dank des französischen Gastronomie-Moguls trete ich heute Abend ins The Araki ein. Meine 36-stündige Reise nach London habe ich hauptsächlich wegen der folgenden zwei, drei Stunden geplant. Und obwohl ich erst kürzlich in Japan war, ist mein Verlangen nach gutem Sushi in letzter Zeit wieder unerträglich geworden. Die Aussicht, bei einem ehemaligen japanischen Drei-Sterne-Sushi-Meister essen zu können, ohne dafür eine fünfstellige Zahl an Kilometern und Euro zurücklegen zu müssen, ist äußerst verführerisch. Ich wollte schon lange ins The Araki, aber, nun ja, meine Liste ist lang.

Der Wohlfühlmoment tritt blitzartig ein als ich das Restaurant betrete. Das weiche Holz der Hinoki-Zypresse, das schlichte Geschirr, das Personal in weißen Kitteln, die Essstäbchen, der Geruch nach Holz, Reis und Reinheit: all das wirkt beruhigend und wohltuend. Ungewöhnlich ist es, auch westliche Gesichter hinter dem Tresen zu sehen.

Der Meister hantiert gerade mit einem enorm großen Stück Thunfischbauch. Sein Gesichtsausdruck changiert dabei zwischen Konzentration, Hochachtung und Stolz. Die sechs Gäste am Tresen, ich eingeschlossen, beobachten das Geschehen ehrfürchtig und mit Vorfreude.

Die Zubereitung des ersten Gangs hat die Ästhetik einer Hirnoperation. Jeder Handgriff sitzt als ginge es um Leben und Tod. Die Instrumente sind scharf, jeder falsche Schnitt wäre fatal.

Das Resultat ist ein Schälchen mit zwei Häppchen von englischem Wolfsbarsch aus der Gegend um Cornwall, roh, um ein Stück weißen Spargel gewickelt, darauf eine an Miso erinnernde Sauce, sowie etwas Kaviar. Der Fisch ist zart, wunderbar, keinen Hauch fischig, perfekt temperiert, fast flüchtig im Geschmack und damit von japanischer, prägender Qualität. Der Spargel liefert etwas knackige Säure, der Kaviar Salzigkeit. Nur die Geschmacksrezeptoren für Bitter und Süß werden ausgeklammert als gäbe es sie nicht. Araki hat schon jetzt gewonnen. Ich bin nur noch eine Marionette meiner Sinne, die der Meister so präzise steuert wie die Klinge seines Messers. Gänsehaut. Nur für diesen Moment hat es sich bereits gelohnt, nach London zu fliegen. — 9

Der nächste Gang ist ein Tartar von Thunfischbauch, mit Eigelb und Sesam zu einer süffigen Masse kombiniert, mit Yuzu parfümiert und mit einer großzügigen Portion schwarzer Trüffeln überdeckt, die allerletzten der Saison, aus Italien. Das Gericht ist eine einzige Harmonie. Die duftende Säure der Yuzu, die Kühle des fettigen Fischs und die waldigen Aromen des Trüffels sind eine eindrucksvolle Fusion von japanischer und westlicher Welt, die mich ungläubig die Augen schließen lässt. — 10

Der nächste Appetizer besteht aus kleinen Stücken einer frittierten Masse aus Hummer, Streifenbrasse und Tintenfisch, die auf einem flachen, quaderförmigen Abschnitt eines Maiskolbens serviert werden. Die frittierte Fischfarce ist luftig und locker, die Panierung kross, hauchdünn und ohne jeglichen Fettgeschmack. Der Mais fügt eine weitere, kontrastierende Texturebene hinzu. Etwas frisch geriebener Wasabi obenauf gibt dem Gericht einen entscheidenden Kick. — 8,5

Bevor es mit dem klassischen Nigiri-Sushi weitergeht, gibt es eine erfrischende Kreation mit Kirschblüten, Salz und Rhabarber, die eine ähnliche Funktion wie ein Granité erfüllt. Diese kleine Speise ist kühl, erfrischend und angedeutet blumig. Ein ganz hervorragender „Gaumenerfrischer“. — 8,5

Das erste Stück Nigiri, das ich probiere, ist mittelfetter Thunfisch (chūtoro). Wie immer beim ersten Stück Sushi aus der Hand eines einem noch unbekannten Sushi-Meisters kann man bereits optisch eine Handschrift erkennen: dieses Stück Nigiri ist ziemlich klein, der Reis auffallend luftig und locker; der Fisch umwickelt den Reis nahezu vollständig, ist dabei aber nicht allzu präzise geschnitten. Glanz, Farbe und Marmorierung des Fischs lassen keinen Zweifel aufkommen, dass man es hier mit einer Qualität zu tun hat, der man außerhalb Japans kaum begegnen kann. Am Gaumen bestätigt sich die grandiose Qualität und ein Sushi-Erlebnis der Extraklasse. Es fühlt sich unwirklich an, in diesem Moment nicht in Japan zu sein. — 9

Es gibt als nächstes fetten Thunfisch (ōtoro). Jetzt nehme ich die lockere Körnung vom Reis sogar noch etwas deutlicher wahr, die für meinen Geschmack etwas zu „luftig“ ist. Dennoch hat der Reis einen perfekten Gargrad und eine feine Säure. Auch dieses Stück Nigiri ist jeden Flugkilometer nach London wert. — 8,9

Die Stimmung ist gelöst. Araki-san ist ein freundlicher Kerl mit resolutem Charakter. Mit seiner Brille, dem kahlen Schopf und seiner Akribie hat er verblüffende Ähnlichkeit mit Küchenchef César Ramirez aus New York.

Geflämmte Gelbschwanzmakrele wird direkt in die Hand serviert und ist mit Sojasauce bepinselt. Das Stück ist absolut herausragend: zart, fast zerfallend, saftig und rein. Aromen eines Grillfeuers schwingen irgendwo mit. — 9

Der Tintenfisch ist bei Araki kreuzförmig eingeschnitten, was ungewöhnlich ist, aber u. a. für einen guten Halt der weiteren Zutaten sorgt. Diese sind gelber Kaviar vom deutschen Stör, Sojasauce und Sudachi-Zitrusfrucht. Höchst beeindruckend, wohlschmeckend und glücklich machend. — 8,9

Es folgt ein Nigiri mit Hummer, leicht gegart und „in Fetzen“ auf den Reis aufgelegt. Interessant: obwohl an der Qualität des Hummers rein gar nichts auszusetzen ist, spürt man, dass diese eher in westlichen Küchen präsente Zutat nicht so recht zu Sushi passt. Die Texturunterschiede zwischen Krustentier und Reis fallen mir bei dieser Kreation etwas zu gering aus. — 8

Ein Schiffchen (gunkan) aus Seetang, gefüllt mit Reis und Lachsrogen ist eines der besten Exemplare dieser Speise, die ich je probiert habe. Hier ist die kleine Portion genau richtig. Zu große Mengen dieser Art Sushi können schnell einen Würgereiz auslösen. Ganz anders in diesem Fall. Da man noch Platz im Mund hat, lässt sich die Besonderheit dieses Stücks Sushi bis ins Detail wahrnehmen: die aufplatzenden, großen, angenehm kühlen Fischeier mit mildem, jodig-salzigem Geschmack, dazu das Algenblatt, das die Assoziation an Meer und Frische komplettiert … grandios. — 10

Es folgt ein weiteres Stück fetten Thunfischs, hier mit einer Scheibe von schwarzem Trüffel. Letztere Idee folgt Arakis regelmäßigen „westlichen Eingriffen“ in das sonst durch und durch japanische Menü und schafft hier eine aromatisch besonders schlüssige Verbindung zum Algenblatt des vorherigen Stücks. Araki hat allen Grund, seinen exzellente Thunfisch wiederholt zur Schau zu stellen. — 8,9

Schottischer Lachs ist ebenfalls untypisch für Japan (und, entgegen der westlichen Assoziationen, auch äußerst untypisch für Sushi), macht hier aber, kurz geflämmt und mit etwas Sesam bestreut, eine gute Figur. Interessant ist, dass der Reis für dieses Stück etwas kompakter gepresst ist, offenbar um einen Kontrast zum Fisch herzustellen. Das war bei dem ähnlich konzipierten Stück mit Hummer vorhin nicht ganz so schlüssig umgesetzt. — 8,5

Ein erneutes Stück Thunfischbauch, diesmal geflämmt, folgt als nächstes. Die Textur ist wie Butter, aber die Wärme greift ein wenig bei dem Erlebnis vor, das sich sonst langsam am Gaumen entfaltet. Dennoch exzellent. — 8

Eine Maki-Rolle mit abermals exzellentem Thunfisch (ōtoro) folgt dem inzwischen etwas westlichen Duktus, schmeckt dabei aber völlig anders als optisch vergleichbare Exemplare unserer Breiten, um die ich seit vielen Jahren einen großen Bogen mache. Anstatt gummiartiger Textur mit Mayonnaise und Avocado bekehrt einen diese Rolle mit einer Zartheit und einem Schmelz, der außergewöhnlich ist. — 8,9

Ein vom Geschmacksbild von Tiramisu inspiriertes Dessert mit Mochi, der klebrigen japanischen Süßspeise, ist besser als alle Mochi-Desserts, die ich aus Japan kenne, und damit ein Highlight dieses Abends. Süß, aber nicht zu klebrig, durch verschiedene Kontraste kurzweilig am Gaumen und damit ein lupenreines, ausgezeichnetes Dessert. — 9

Die Rechnung zu zweit mit ein paar Bier und etwas Sake ist, in Euro umgerechnet, vierstellig. Da mag manch einer die Augen verdrehen. Ich schließe sie einfach und komme nicht um eine kleine Freudenträne herum als ich hinaus in die laue Frühlingsnacht trete. Als ich mich irgendwann noch einmal umdrehe, steht Mitsuhiro Araki immer noch vor seinem Restaurant und verbeugt sich.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: The Araki (→ Website)
Chef de Cuisine: Mitsuhiro Araki
Ort: London, Großbritannien
Datum dieses Besuchs: 26.04.2017
Guide Michelin (GB/IRL 2017): **
Meine Bewertung dieses Essens (?): 8,9
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Umu – nächstes Mahl Kaiseki

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Bei all den japanischen Köchen, deren Restaurants man inzwischen in Paris und London aufsuchen kann, könnte man fast auf die Idee kommen, dass jene gerade fluchtartig ihr Land verlassen. Doch dieser Eindruck wäre nur einer selektiven Wahrnehmung meiner entsprechenden Berichte geschuldet. Ich lasse derzeit ja bekanntlich kaum eine Gelegenheit aus, um an gute japanische Küche zu gelangen. Das Umu in London ist so eine Gelegenheit. Versteckt in einer kleinen Seitenstraße im noblen Stadtteil Mayfair muss man seine Hand vor einen Sensor neben der Tür halten, um Eintritt zu erhalten. Das klappt zuerst nicht so recht. Sekunden kommen mir wie Minuten vor, die schonungslose Sonne an diesem heißen Mittag zerrt an meinen Nerven. Dann geht endlich die Tür auf.

Es ist dunkel und kühl, es gibt Tische, Kellner, einen Tresen und Japaner. Meine Freude ist groß wie mein Appetit. Kein Mensch würde bei uns zulande bei diesen Wetterbedingungen dunkle, klimatisierte Restaurants besuchen. Was soll ich sagen? So bekommt eben jeder das, was er verdient. Und bevor jetzt wieder manch einer die Augen verdreht („der Walther immer mit seinen Tiraden“), dem möchte ich freundlich mit auf den Weg geben, dass genau solch eine Beobachtung – die mit dem Wetter und dem dunklen, klimatisierten Restaurant – eines von ganz vielen Puzzleteilen bei der Suche nach einer Antwort auf die Frage darstellt, warum vergleichbare Gastronomiebetriebe bei uns so gut wie unbekannt sind. Sonne? Biergarten! Ja, das gibt es in London auch. Auch ist hier allerdings das entscheidende Stichwort.

Der Küchenchef im Umu hat eine zehnjährige Schule im Kitcho Arashiyama hinter sich, dem weltberühmten Kaiseki-Restaurant in Kyoto, das ich gerade erst im März besuchte. Yoshinori Ishii war dort Sous-Chef, er verließ Japan aber bereits 1999, um fast weitere zehn Jahre internationale Erfahrungen in Küchen zwischen New York und Kyoto zu sammeln. In 2010 kam er schließlich nach London, um hier im Umu von sich hören zu lassen.

Die Speisekarte stellt einen vor die Wahl zwischen zwei fundamental unterschiedliche Optionen. Zum einen gibt es ein saisonales Kaiseki-Menü (ca. € 177). Dies wäre eigentlich die richtige Wahl, um das Wesen dieses Restaurants kennen zu lernen. Küchenchef Ishii adaptiert hier in London sein fundiertes Wissen über die handwerklich komplexe Kaiseki-Küche Kyotos an die Geschmäcker im Westen. Doch so ungemein interessant ich diesen Ansatz finde, entscheide ich mich für eine kleine, leichte A-la-carte-Auswahl. Es gibt dutzende Speisen, von Sashimi, Sushi und Tempura bis zu größeren Hauptgängen mit Fisch und Fleisch, die so gut wie alle mein Interesse wecken.

Ich starte mit einer Sashimi-Auswahl „omakase“, also nach Wahl des Chefs (ca. € 91). Es gibt u. a. Goldbrasse, Gelbschwanzmakrele, Wrackbarsch, Flügelbutt, Aal sowie mageren und fetten Thunfisch (akami und chūtoro). Die Qualität ist ausgezeichnet. Temperatur und Schnitte zeugen von sehr gutem Handwerk, und dieser schwer zu beschreibende Geschmack nach „fast nichts“ – aber eben doch nach ein bisschen Meer und Klarheit –, den hervorragendes Sashimi auszeichnet, schwebt über allem. Er ist flüchtig, aber selbst Wochen später noch abrufbar.

Etwas irritiert bin ich jedoch von der Beschaffenheit des chūtoro, bei dem das am Gaumen austretende Fett, das sich normalerweise wie schmelzende Butter sanft über die Zunge legt, hier etwas weniger viskos ist und sich dadurch fast wie Wasser anstatt wie Fett anfühlt. Woran das genau liegt, kann ich mir nicht herleiten. Exzellent ist der ganze Teller aber ungeachtet dessen. — 8,5

Meine Auswahl fällt danach auf Aal „Kabayaki“ (ca. € 41), ein einfaches Gericht mit jahrhundertealter Tradition. Der Aal wurde hierbei über Holzkohle gegart; seine Filets sind mit einer süßlich-würzigen Sauce lackiert. Ausgezeichnet. — 7,5

Weiter bestelle ich Nigiri-Sushi, im Einzelnen mit Tintenfisch (Stück ca. € 5,70), Kaisergranat mit Ingwer (€ 11), Gelbschwanzmakrele (€ 8) und magerem Thunfisch (€ 8). So konträr sich diese am Tisch servierte Platte Nigiri zur eigentlichen Tradition verhält, die Speise ohne Umschweife direkt von der Hand des Meisters zu verspeisen, so unvorteilhaft zeigt sie sich leider auch. Der Reis ist trocken, viel zu kalt, hat keine erkennbare Säure und haftet kaum. Der Tintenfisch ist viel zu kaubedürftig und der Kaisergranat zum Rohverzehr ohnehin schlecht geeignet, aber vieles davon konnte ich mir eigentlich schon vorher denken. Ich will es manchmal aber einfach gerne wissen. Man verstehe mich nicht falsch. Ich vergleiche mit dem Allerbesten. Doch auch mit allerbestem Willen ist das nicht einmal sehr gut. — 6,9

Deutlich besser wird es wieder bei der Miso-Suppe mit herrlicher Schärfe und authentischem Geschmack (7,5), und auch ein paar Mignardises nach französischem Vorbild haben es handwerklich und geschmacklich in sich (im Schnitt 7,9).

Es war nicht alles Gold, was bei diesem kurzen Essen glänzte, aber vieles war hervorragend und lässt erkennen, dass das Umu ein Restaurant zum Wiederkommen und Neuentdecken ist. Das nächste Mal gibt es Kaiseki.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Umu
Chef de Cuisine: Yoshinori Ishii
Ort: London, Großbritannien
Datum dieses Besuchs: 26.05.2017
Guide Michelin (GB/IE 2017): **
Meine Bewertung dieses Essens (?): 7,5
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Haerlin – Gipfelessen

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Die Küche im Haerlin verfolge ich seit vielen Jahren, seit in dem feinen Haus an der Alster noch schwere Schals aus Brokat die Fenster zierten und ein Klavierspieler für die Hintergrundbemalung sorgte. Selbst Passagen in piano pianissimo waren damals gut zu hören, denn nach der Vorstellung vieler Gäste hier hatte man sich in einem feinen Restaurant vor allem leise zu verhalten.

Das ist zum Glück alles ein bisschen anders geworden. Die Einrichtung ist nach wie vor luxuriös, aber die Schwere ist einer weltläufigen Eleganz gewichen. Kaum zu glauben, selbst der pompöse Brot- und Salzwagen wurde kürzlich durch das Auftischen von frisch gebackenen, warmen Brötchen mit Frischkäse und Kräuterbutter ersetzt. Das passt zum Zeitgeist, wirkt hier aber nicht forciert, sondern souverän – als hätte man das eigentlich immer schon so machen wollen.

Wenn man will, kann man hier richtig viel Spaß haben. Im Rahmen einer privaten Feier hatte ich neulich den Hochtisch reserviert, der nicht mit dem Chef’s Table in der Küche zu verwechseln ist. Umringt von beleuchteten Weinflaschen bester Herkunft sitzt man hier etwas unter sich und dennoch mitten im Geschehen. Die erhöhte Sitzposition, das nähere Beisammensitzen sowie die Kommunikation mit dem Service auf Augenhöhe lockern die Atmosphäre enorm auf. Ich erzähle das so detailliert, weil ich die Verantwortung dafür, in welcher Atmosphäre man einen Abend in einem Restaurant verbringt, auch immer mit bei uns Gästen sehe. Wer sich förmlich verhält, bekommt Förmlichkeit; wer beim Essen auch herzlich lachen kann, verbringt auch einen heiteren Abend. Das neue Service-Duo bestehend aus Restaurantleiter Thomas Andrew und Sommelier Marcel Ribis passen perfekt zu meinem Plan, es heiter zugehen zu lassen. Das Menü (€ 165) gebe ich komplett in die Hand der Küche; es wird ein Medley aus den beiden bestehenden Menüs sowie einigen neuen Speisen.

In einer so gelösten Atmosphäre ließe sich das Essen leicht als Nebensache abtun, doch bereits die drei Amuse-Bouches verhindern Schlimmstes.

Ein Baiser mit Mojo Verde, Anis und Avocado setzt mit viel grüner Chlorophyll-Frische und pikanten Aromen ein deutliches Ausrufezeichen (9), und ein Meerforellentartar mit Currysud und Sauerkrautschaum ist absolut stimmig, von der Temperatur der Zutaten, die eine leichte Schärfe unterstreicht, bis zur verführerisch süffigen Kombination mit Sauerkraut und Curry (9).

Im Rahmen der üppigen Amuse-Bouches folgt noch eine Kreation mit Jakobsmuschel und Tintenfisch. Diese ist allein schon dadurch großartig, dass in regelrecht japanischer Akribie auf die Schnittführung geachtet wurde. In den akkuraten, kreuzförmigen Einschnitten der Tintenfischstücke verfängt sich besonders viel von der rauchigen, aromatisch dichten Speckbouillon, zudem ermöglicht die kleine Größe der Stücke ein Essen des Gerichts mit einem Löffel. Ein fantastischer kleiner Gang mit exzellenten Zutaten und präzisem Handwerk. — 9

Die Idee, Meerestier mit süffigem Sud zu kombinieren, geht auch bei der pochierten Gillardeau-Auster voll auf, die beim nächsten Gang mit einem süßlich-herzhaften, lauwarmem Röstzwiebelsud, Rapsöl und grünen Erbsen (versteckt unter einem frisch-säuerlichen Gelee und etwas Kaviar) serviert wird. Separat dazu gibt es eine weitere Auster mit Apfel-Granité, die ebenfalls sehr gut ist, aber im Schatten des anderen Tellers entbehrlich wirkt. In Summe ist auch dies ein ganz exzellenter Gang. — 8,5

Das Menü glänzt weiter mit Glattbutt, der mit haselnussbraunen Röstspuren besonders appetitlich aussieht. Dazu gibt es grünen Spargel, eine Dill-Hollandaise sowie eine pikante Zubereitung mit Gurke. Der unaufgeregte Teller ist makellos umgesetzt, verschiedene Saucen passen hervorragend zum Fisch und übertönen eine minimale Trockenheit am dünneren Rand des Filets. Man könnte das wiederholte Element von Schärfe bei der Gurkenzubereitung inzwischen repetitiv finden, aber man muss das nicht. In Summe ist auch dieser Gang hervorragend. Vor allem die Schlichtheit gefällt mir sehr. — 8

Kaisergranat mit Seeigel sind die Hauptzutaten des nächsten Gerichts, und allein das bietet schon genug Anlass zum Staunen. Die von den Färöer-Inseln stammenden Produkte können sich sehen lassen. Die Kaisergranate sind klein, aber sehr schmackhaft und auf den Punkt gegart, der Seeigel verleiht dem Gericht mit seinem jodigen Geschmack Kraft. Weitere Zutaten sind Alge, schwarzer Rettich und ein Tomatensud, der für eine Unterstützung mit viel Umami sorgt. Eine ganz hervorragende Komposition, so kraftvoll wie elegant, so köstlich wie intelligent. — 9

Wagyu-Rind aus der Nordheide ist durch einen für Filet ungewöhnlich hohen, im Fleisch integrierten Fettanteil besonders aromatisch und zart. Beeindruckend sind auch hier wieder die Saucen. Ein dunkler, glänzender und doch leichter Jus bringt geschmackliche Tiefe; eine handwerklich und geschmacklich exzellente Béarnaise liefert Estragonaromen und luftige Cremigkeit. Dazu gibt es eine interessante, hauchdünn aufgeschnittene, leicht knusprige Kartoffelzubereitung, die optisch an Lauch erinnert, sowie etwas Zwiebelgemüse und Pfifferlinge, beides einwandfrei, aber neben dem qualitativ überragenden Fleisch etwas gewöhnlich wirkend. Doch das ist nicht alles, à part findet man noch ein Tartar vom selben Tier, genau richtig gewürzt, akkurat kühl, in einem angenehm säuerlichen Sud mit Kefir und Kapern. Ganz großer Fleischgenuss! — 8,5

Als Pré-Dessert gibt es eine kühle Komposition mit Holunderblüten, weißen Erdbeeren, Erdbeer-Champagner-Süppchen und einer kalten, nicht zu süßen Creme. Angenehm säuerlich-fruchtig und herrlich erfrischend. — 8

Das eigentliche Dessert hört auf „Johannisbeerstrauch mit Vanille-Noir-Eis und Sauerteig“ und präsentiert mit verschiedenen Texturen (knusprig bis cremig), einer waldig-fruchtigen Tiefe und einem Verzicht auf zu viel Süße noch einmal eine Hommage an den vorherigen Patissier Christian Hümbs, dessen Einfluss hier sicherlich positive Spuren hinterlassen hat. — 8

Es gibt noch verschiedene Pralinen, darunter auch exzellente Macarons mit Holunder bzw. Whiskey. — 8

Das Menü dieser Nacht war zweifellos eines der besten, die ich in Hamburg bisher gegessen habe. Ich habe mir bei Christoph Rüffers Küche schon immer etwas mehr Reduktion gewünscht, heute Abend erfüllte sich dieser Wunsch auf nahezu jedem Teller. Die Speisen wirkten dadurch „kompakter“ als sonst; die kulinarische Idee jeder Speise erschloss sich unmittelbar, beim jedem wohlschmeckenden Bissen. Saucen, Handwerk und Geschmacksbilder waren überragend, die Qualitäten der Produkte exzellent, beim Fleisch sogar Weltklasse. Gipfel in Hamburg? Lieber so.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Haerlin (→ Website)
Chef de Cuisine: Christoph Rüffer
Ort: Hamburg, Deutschland
Datum dieses Besuchs: 03.06.2017
Guide Michelin (D 2017): **
Meine Bewertung dieses Essens (?): 8,5
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Tourniert: Neues aus Hamburg

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An Alster und Elbe passiert kulinarisch gesehen, wie im Rest des Landes, nicht allzu viel. Dabei meine ich nicht solch medienwirksame Eröffnungen wie The Table, über dessen geschwungenen Tresen man eineinhalb Jahre nach der Eröffnung immer noch so berichtet als sei ein Raumschiff in der HafenCity gelandet. Ich meine Restaurants, die einem alltäglicheren Anspruch genügen und in ungezwungener Atmosphäre unkomplizierte, qualitativ hochwertige Küche anbieten. Sobald es auch nur einen Hauch anspruchsvoller zugeht, wird es in Hamburg oft kompliziert, etwa mit langwierigen Menüs („ja, sie dürfen auch tauschen“) oder „gebastelten“ Tellern. So sehr manch einer diese Pauschalisierungen verurteilt, treffen sie doch ganz überwiegend zu. Ich kann deutsche Bastelteller in meinem Instagram-Feed inzwischen ohne mit der Wimper zu zucken von den Tellern der restlichen Welt unterscheiden. Zwanzig Komponenten, Kügelchen, Kresse hier, Creme dort. Das ist immer noch die ganz überwiegende deutsche kulinarische Realität. Aber ich schweife ab.

Zurück in der Hansestadt muss man sich derzeit wundern, wie das Stadtmagazin „SZENE Hamburg Essen + Trinken“, bei der ich 2015 einmal versuchte, für etwas Klarheit zu sorgen, es schafft, in ihrer neuesten Ausgabe über 500 Restaurants in und um Hamburg zu testen. Fünfhundert! Kaum verwunderlich, dass diese Masse nur zustande kommen kann, indem man ganz unten im Dreck wühlt. So liest man bspw. bzgl. des Systemgastro-Italieners mama trattoria, dass der Laden „den ernährungsbewussten Trendsetter glücklich und satt“ macht, ferner staunen die Autoren über das „qualitativ sehr hochwertige“ Rindfleisch der Burger in der Kiezkantine The Bird, und man sinniert über die „hauchfeine Mayonnaise-Creme“ im „Sushi-Himmel“ Coast by East. Da rutscht mir doch glatt die Auster aus der Hand.

Ironischerweise sind die interessantesten Neueröffnungen der Stadt offenbar voll am Redaktionsschluss der „SZENE“ vorbeigerauscht. Ich kann nachbessern.

→ Hygge, Hamburg
→ Izakaya, Hamburg
→ Haco, Hamburg


Hygge, Hamburg

Die im besonders für Seniorenresidenzen bekannten Stadtteil Hamburg-Groß Flottbek gelegene Gasthausinstitution Landhaus Flottbek hat kürzlich ihr Restaurant modernisiert. Hygge heißt das Restaurant jetzt, das ist Dänisch und steht für eine ganze Reihe von Dingen, die mit Gemütlichkeit und Entschleunigung zu tun haben. Nordische Wohlfühlatmosphäre strahlt das Restaurant tatsächlich aus, wenngleich etwas viele Tische hier Platz finden.

Die Speisekarte gefällt mir schon nach zwanzig Sekunden. Die meisten Gerichte sind so konzipiert, dass man am besten ein paar davon an den Tisch kommen lässt. Die Speisen lesen sich dabei ein bisschen so als wäre man in einem anspruchsvollen Bistro in New York: Austern, Pastrami-Stulle, Salade Niçoise … Dazu gibt es sogar eine recht interessante Weinkarte. Ich fange an, etwas zu staunen.

Die Pastrami-Stulle (€ 9,50) ist schon mal ziemlich gut. Auf krossem, frischem Brot findet man saftig-frische Scheiben geräucherten Rindfleischs mit hausgemachter Mayonnaise und Kresse. Hierbei kann man sehr viel falsch machen, aber alles hieran ist richtig. — 6,5

Der Nizzasalat (€ 12) ist noch besser, obwohl er eigentlich kein Nizzasalat ist. Aber wen kümmert’s? Ein wachsweiches Ei vermengt sich mit frischem Grün, viel Dill sorgt für kräuterige Untermalung, und der laurwarm pochierte, saftige Lachs ist von sehr guter Qualität. Nicht viel weniger als ein exzellenter Salat. — 7

Recht ungeschickt sind dagegen die beiden warmen Gerichte. Ein Fregolo-Sarda-Risotto (€ 16) kommt in fast schon unappetitlich großer Portion mit „3erlei [sic] von der Kichererbse“ (einerlei davon sind große trockene Ellipsoide) und fehl am Platz wirkendem orientalischen Einschlag daher (5). Ein Teller mit durchaus saftig-frischen Filets von der Meeräsche (€ 19), nur mäßig frischen Erbsen und Queller wird mit „Sauce Bourride“ angekündigt, der es an allem fehlt, was sie eigentlich auszeichnet: Krustentierfond, Safran, Cayennepfeffer (6).

Trotz der beiden Ausrutscher (die sich mit Reduktion und gewissenhaftem Handwerk einfach korrigieren ließen) habe ich Lust, wiederzukommen. Der Küchenstil ist unverkrampft – man gibt hier nicht vor, irgendeine Art von Küche zu sein –, das Sharing-Prinzip ist alltagstauglich, ziemlich hygge alles.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Hygge (→ Website)
Chef de Cuisine: Thomas Nerlich
Ort: Hamburg, Deutschland
Datum dieses Besuchs: 16.05.2017
Guide Michelin (D 2017): noch nicht bewertet
Meine Bewertung dieses Essens (?): 6
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Izakaya, Hamburg

Irgendwie hat man es geschafft, die Eröffnung dieses Restaurants in der Gastronomieszene Hamburgs so zu hypen, dass man den Eindruck bekommen konnte, Sushi Saito eröffne bald eine neue Dependance an der Elbe. Gastronomen, Köche und Fischhändler: alle sprachen schon vor Monaten voller Ehrfurcht von Produktqualitäten, die die Hansestadt noch nicht gesehen hat. Das war geschickt, denn man streute diese Infos so gut wie gar nicht in der Öffentlichkeit, sondern nur unter Akteuren der Branche. Mit gesunder Skepsis wartete ich gelassen auf die Eröffnung der Kette, die in Amsterdam beheimatet ist, zur „The Entourage Group“ gehört und noch weitere Filialen plant, u. a. in München. Eine auf Ibiza hat auch schon geöffnet, der Guide Michelin schweigt bisher.

Ein Izakaya ist eigentlich eine japanische Kneipe und hat mit diesem Etablissement schon von dem Moment an nichts zu tun, in dem man durch den Hausflur des brandneuen Boutique-Hotels Sir Nikolai an den Empfangstisch schreitet.

Die Speisekarte umfasst an die 80 Positionen, komplett auf Englisch. Das höre sich besser an, gesteht mir die Kellnerin (auf Deutsch). So lächerlich ich das zunächst finden möchte, muss ich gestehen, dass ich das nachvollziehen kann. Die Weltoffenheit, die dieses Restaurant mit seinem Konzept vermittelt, geht auf. Ich wähne mich gerade überall außer in Deutschland. Nur der Service sollte dringend noch mal ein Souveränitäts- und Auflockerungstraining absolvieren, um genauso kosmopolitisch rüberzukommen.

Am Ende spielt es auch keine Rolle, ob man Gelbschwanzmakrele oder yellow tail bestellt (€ 24). Sehr gut ist das erste von diversen Gerichten, das ich probiere, nämlich unabhängig von der Sprache. Der Fisch kommt als Sashimi mit Perilla-Blatt (Shiso), kleinen dünnen Chili-Scheiben und peruanischer Huacaina-Sauce. Es trifft mich wie ein Schlag, aber so ein Sashimi hat man in Hamburg noch nicht gegessen. Die Qualität des rohen Fischs ist exzellent, die Schnittführung (Scheibendicke und Maserung) gekonnt austariert, die südamerikanischen Einflüsse gewitzt. Mehr davon! — 7

Von gleicher, exzellenter Qualität ist eine Meerbrasse mit Grapefruit-Ceviche (€ 21,50). Die saure Marinade tut der Textur des Fischs gut, der in Japan auch oft als Sashimi serviert wird und dort eigentlich immer recht kaubedürftig ist. Auf diesem Teller überwiegen Zartheit, feine Säure und etwas Schärfe, und ich kann mich an der Qualität des Fischs wirklich erlaben. — 7

Beim Sushi muss man jetzt zeigen, was man kann. Ich bestelle Toro-Aburi mit geflämmtem Thunfischbauch. Allein die Möglichkeit, so etwas in Hamburg bestellen zu können, ist einzigartig und lässt Etablissements wie Henssler + Henssler, Coast by East usw. (und leider auch den zwar authentischen, aber qualitativ sehr dürftigen Japaner Matsumi) ganz weit hinter sich. Der Fisch hat – trotz der Flämmung – den typischen, buttrigen Schmelz und wird mit etwas Kaviar und Lauchzwiebeln serviert. Bemerkenswert ist vor allem die Textur vom Reis, der einem – ebenfalls als einzige Gelegenheit in Hamburg – ein ziemlich authentisches Gefühl von dem vermittelt, was einen in Japan erwartet, obwohl auch hier die Kunst gerade erst beginnt. Er könnte noch etwas luftiger sein und einen Hauch mehr Säure vertragen. — 6,9

Dass sich diese Königsklasse von Fisch mit fernöstlichen Maßstäben nicht messen lassen kann, bestätige ich mir selbst, in dem ich das Gericht auf Nachfrage noch einmal ungeflämmt, also als Nigiri, bestelle. So demaskiert werden die Schwächen deutlicher: es fehlt dem Fisch an Glanz und Fettmaserung, wodurch er etwas „müde“ wirkt. Dennoch ist das eine – für Deutschland – kaum erlebbare Qualität. — 6,9

Dass man es hier mit Qualität und teuren Produkten ernst meint, beweist auch das Vorhandensein von waschechtem Wasabi, der auf Nachfrage an den Tisch gebracht wird, samt japanischer Reibe.

Ich probiere unter anderem noch sehr gutes Wagyu-Aburi (€ 28) mit zart schmelzendem Rindfleisch (7); sowie einen Salat mit, unter anderem, gerösteten Baby-Oktopus (€ 18), gut gegartem Spargel und Brokkoli und einer Jalapeño-Sauce (6,5).

Ein exzellentes Sashimi vom Wolfsbarsch mit Olivenöl und Miso (€ 19) schließt an die guten Qualitäten hier an. — 7

Dass das Restaurant ein neues Highlight in Hamburg ist, lässt man sich recht fürstlich bezahlen, doch im Gegensatz zu den meisten anderen Restaurants mit einer solchen Preisstruktur hat man hier erstaunliche Qualitäten auf den Tellern. Eine sternverdächtige Bereicherung für Hamburg.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Izakaya (→ Website)
Chef de Cuisine: Ben Provis
Ort: Hamburg, Deutschland
Datum dieses Besuchs: 31.05.2017
Guide Michelin (D 2017): noch nicht bewertet
Meine Bewertung dieses Essens (?): 6,9
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Haco, Hamburg

Die Gentrifizierung nimmt auch in Hamburg-St. Pauli ihren Lauf. An einer Ecke in der Clemens-Schulz-Straße gibt es anstelle von türkischen Grillspezialitäten für den spontanen Heißhunger jetzt kreative Küche nach skandinavischem Vorbild. Die neuen Betreiber haben dabei keine Scham, ihr Vorbild kenntlich zu machen.

So ist die Auftaktseite des Haco-Internetauftriffts recht hemmungslos von der Website des Drei-Sterne-Restaurants Maaemo in Oslo inspiriert. Breite, weiße Versalien als Logo findet man auf beiden Websites zentriert vor einem blauschwarzen, großformatigen Hintergrund, der jeweils ein „Element“ (Himmel bzw. Wasser) bei schroffem Wetter zeigt. Selbst die Namen mit ihren zwei Silben und ähnlich platzierten Vokallauten a und o haben Parallelen bei der Aussprache. Im Unterschied zum nordwegischen Pendant folgt hinter der Auftaktseite jedoch nicht mehr viel. Ein Omen für die Küche?

Es gibt zwei Vier-Gänge-Menüs inkl. Dessert für € 40–€ 49. Ich entscheide mich für eine umfangreichere Auswahl à la carte, um möglichst viel Verschiedenes zu probieren.

Den Anfang macht ein Gang mit Tomate, Raps und Buchweizen (€ 12) mit recht gewöhnlichen Tomatenqualitäten. Ein knuspriger Chip ist das einzige Element, das einen kurz aufhorchen lässt, zudem ist der Gang lauwarm serviert, wobei nach meinem Geschmack eine kühle Frische den Genuss hätte steigern können. — 6

Ein knupsriges Vollkorn-„Brød“ mit Heilbutt und Remoulade (€ 14) ergibt eine herzhafte, süffige Stulle mit angenehmen Kontrasten vom Dill (6,5). Ein wachsweiches Ei mit Erbsen und Pfifferlingen (€ 10) ist angenehm cremig, die einzelnen Zutaten sind gut gegart, aber mir fehlt – auch hier – ein Produkthighlight (6,5).

Kabeljau mit Sellerie und aktueller Trendzutat Haselnuss (€ 22) driftet mit einem recht einheitlichen, säuerlichen Geschmacksbild, überdies zu kalt serviert, etwas in Richtung Kantinenessen ab (wenn auch ein recht anständiges, 6); ein Stück Schweinebauch mit Hefecreme und Zwiebeln ist an diesem Abend das wohlschmeckendste Gericht, mit saftigem Fleisch und genau richtig gegrilltem Zwiebelgemüse (6,9). Auch ein kühles Dessert mit Gurke und grünen Erdbeeren (€ 10) gefällt (6,5).

Die Erkenntnisse des Abends: nicht schlecht, nicht überragend, kulinarisch etwas ausschweifend, gleichwohl empfehlenswert. Aber, so viel muss gesagt sein, wenn man schon kopiert, dann bitte richtig.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Haco (→ Website)
Chef de Cuisine: Björn Juhnke
Ort: Hamburg, Deutschland
Datum dieses Besuchs: 23.06.2017
Guide Michelin (D 2017): noch nicht bewertet
Meine Bewertung dieses Essens (?): 6,5
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Quince ‒ mit magischen Kräften

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Als ich an diesem frühen Dienstmorgen aufstehe, freue ich mich bereits auf den Abend, auch, wenn der noch in sehr weiter Ferne liegt. Ich habe um 19.30 Uhr eine Reservierung im Quince in San Francisco, aber zum jetzigen Zeitpunkt ist das noch knapp zehntausend Kilometer weit entfernt.

Ich habe Appetit auf Neues ‒ die Küche des Quince wurde erst in der letzten Michelin-Ausgabe für San Francisco mit drei Sternen ausgezeichnet und ist mir noch unbekannt ‒, habe Appetit auf italienisch inspiriertes Essen ‒ Küchenchef Michael Tusk hat hierin seine Berufung gefunden ‒, und überhaupt habe ich Appetit auf US-amerikanische Gastronomie. Viele Restaurants bei unseren Freunden überm Teich zählen für mich zu den einladendsten und eindrucksvollsten in der westlichen Welt. Dabei sind es keinesfalls nur die Sterne, die mich locken. Es ist das Gesamtpaket eines modernen Verständnisses von Gastronomie, das mir immer eine Reise wert ist.

Als ich fünfundzwanzig Stunden nach dem Klingeln meines Weckers endlich am Quince ankomme, bin ich zwar spürbar vom Jetlag umnebelt, aber dennoch hungrig und wach. Ein Glas Krug-Champagner, den man hier zur Begrüßung einschenkt, ist genau der richtige Auftakt und bereits ein kleines Detail, das die gesamten Flugstrapazen belohnt. Dabei geht es mir nicht nur um den Champagner an sich, sondern um den eigentlich so naheliegenden Gedanken, dass man in einem Spitzenrestaurant auch einfach mal mit einem Spitzengetränk begrüßt werden kann.

Wer heutzutage noch in einem modernen Restaurant einen Aperitifwagen mit Standardchampagnern an den Tisch karrt, hat einfach den Schuss nicht gehört. Allein schon die Konfrontation mit der ohnehin stets völlig überteuerten Auswahl von Champagnern verschiedener Güte ist oft nichts anderes als ein lästiger Einstieg in einen eigentlich entspannten und sorgenfreien Abend. Eine gute Spitzengastronomie kalkuliert so etwas idealerweise in ihre Preise ein, inklusive Nachschenken.

Während meine kulinarische Entscheidung dann langsam, aber sicher in Richtung des „Quince“-Menüs tendiert (ca. € 211), gelangen die ersten Snacks an den Tisch.

Es gibt eine geschmacklich exzellente Kugel von Wassermelone mit Balsamessig; eine etwas trockene Halbkugel aus einer Masse, die wie Blumenkohl schmeckt, mit frittierter Kürbisblüte; sowie einen sehr fein gearbeiteten Plankton-Kräcker mit Sardelle. Nicht spektakulär, aber ziemlich gut. — 7,9

Zu einer Erbsensuppe mit spannenden floralen Aromen gibt es am Tellerrand ein paar einzelne, jeweils frittierte, Erbsen mit unterschiedlichen aromatischen Mitspielern, z. B. Meyer-Zitrone. Das Geschmacksbild der Suppe ist frisch und blumig, die einzelnen kleinen Erbsen am Rand wirken zwar etwas mickrig, aber in Summe gefällt mir auch dieser Auftakt sehr. — 7,9

Es folgen Gougères, die von einem etwas dünneren Teig und einer flüssigeren Käsefüllung noch profitieren könnten (6,9). Ein weiterer kugelförmiger Snack mit Iberico-Schinken ist ebenfalls kaum der Rede wert (6). Beides eher entbehrlich.

Für den ersten Gang des Menüs gibt es junge Kartoffeln in einer geschmacklich sehr ansprechenden Kombination. Zu den goldbraun gerösteten, ideal gesalzenen Kartoffeln gibt es verschiedene Kräuter, u. a. Austernblatt und, als Brücke dazu, das geschmackliche Pendant aus dem Meer: eine tatsächliche Auster. Sie ist pochiert, schmeckt angenehm – und leicht süßlich – nach Meer und lockert diesen puristischen Teller etwas auf. Ungünstig ist die Form des Tellers an sich, bei der es durch viele Mulden und Erhebungen kaum möglich ist, die Zutaten miteinander zu kombinieren. Dennoch handelt es sich um ein spannendes, sehr ansprechendes Gericht mit hochwertigen Zutaten und präzisem Handwerk. — 8

Es folgt „Tsar Nicoulai-Kaviar, serviert auf einer Maiscreme; Australische Fingerlimette (finger lime) und Kokos sorgen dazu für äußerst geschmackvolle Akzente. Die Süße vom Mais gibt hier naturgemäß den Ton an, aber durch den Kaviar und die Zitrusfrucht wird diese gekonnt ausbalanciert. Für einen Aufschlag von umgerechnet € 72 hätte es hier noch eine Option mit goldenem Ossietra-Kaviar gegeben. Für wen? — 8,9

Summertime in Bolinas“ ist der Titel des nächsten Gerichts, das mit dieser Prosa von den ansonsten nur nach ihrer Hauptzutat benannten Gerichten abweicht. Dieses Gericht präsentiert verschiedene pflanzliche Zutaten aus der Region. Kühle Frische, etwas Säure, viel Sonne und strotzende Aromen findet man in diesem feinsinnigen Teller wieder, der deutlich beeindruckender ist als jeder extra bezahlte Kaviar. — 9

Weiter geht das bisher recht unitalienische Menü mit Herzmuschel aus Washington State. Das Muschelfleisch ist in einem kalten Gurkensud angerichtet, man trifft dort noch auf weitere Zitrusaromen und etwas anspruchsvolle, an Gin erinnernde, Bitterkeit. Ein begeisterndes, leichtes Sommergericht. — 8,9

Zu einem Stück in Sojasauce mariniertem Lachs gibt es Avocado, Kapuzinerkresse und Pfifferlinge. Dieses Gericht leidet etwas unter einem tranig-fischigen Geschmackseindruck des Lachses und einer allzu homogenen, zimmerwarmen Temperatur. Nicht schlecht, aber in diesem Kontext kein Glanzstück. — 6,9

Doch was ist schon ein kleiner Tiefpunkt, wenn ein Gericht wie dieses folgt. Auf einem mit einem Hummer bemalten Teller im 70er-Jahre-Stil gibt es Garganelli, eine Nudelart aus Eierteig, behutsam per Hand hergestellt und perfekt gegart. Dazu gibt es Hummer in Scheiben, einen intensiv aromatischen, aufgeschäumten Krustentierschaum, Schalotten und verschiedene Kräuter und Blüten. Das Gericht duftet nach Zwiebeln und gerösteten Krustentierkarkassen. Er schmeckt herzhaft, salzig und jodig, ist leicht und doch gehaltvoll, sämtliche Anreisestrapazen lösen sich in Luft auf. Das ist nichts weniger als ein perfekter, ganz glücklich machender Teller. — 10

Es folgt Abalone mit Spargelsalat (celtuce), grünen Tomaten und brauner Butter. Das klassische, buttrig-röstige Geschmacksbild gefällt, und die Tomaten bringen etwas Frische mit ins Spiel. Dennoch fehlt mir bei diesem Teller, wenn auch auf hohem Niveau, etwas Außergewöhnliches. — 7,9

Pasta ist ganz offensichtlich eine der großen Stärken dieser Küche. Tortelli mit schwarzem Trüffel, Steinpilz und Brennnessel in verschiedenen Zubereitungen sind beim folgenden Gang grandios. Etwas kleinere Pasta à part begeistert ebenfalls durch eine unwiderstehliche Kombination von Trüffel, Salz und Parmesan. Unspektakuläre Optik, beachtliches Handwerk und absoluter Wohlgeschmack dominieren diesen ausgewogenen Gang. — 9

Wer meinen Blog länger verfolgt wird eine meiner wenigen Abneigungen gegen bestimmte Zutaten kennen, nämlich Taube (oder überhaupt unfertig gegartes Geflügel). Grund hierfür ist in erster Linie, Infektionsgefahren durch Bakterien wie Campylobacter oder Salmonellen aus dem Weg zu gehen, die auch in sehr vielen Tieren allerbester Qualitäten von Natur aus vorkommen. Auch der metallische Geschmack von Taube liegt mir nicht besonders. Da Taube im Menü nicht aufgeführt war, habe ich diese Abneigung nicht erwähnt, und so kommt es nun zu dem kuriosen Zufall, dass mir ein prächtiger Teller mit Taube als Überraschungsgang serviert wird. Diese Geste ist so höflich und der Teller so ansprechend, dass ich das Gericht natürlich nicht ablehnen kann.

Ein großes, sehr rosa gegartes Stück Brustfilet ‒ gefüllt mit Trüffel ‒ liegt in einem Trüffeljus und ist umrandet von kleinen, tournierten Gemüsen wie Mais, Kirschen, Rhabarber und Zucchini. Der halbe, vollständig gegarte Kopf der Taube liegt ebenso auf dem Teller wie ihr Herz. Bis auf den Großteil des Filets probiere ich alles und kann dabei nur feststellen, wie fantastisch dieser Gang ist. Die Gemüse, die mit Mais und Kirschen eine angenehme, zurückhaltende Süße mitbringen, der Trüffel, der das Gericht in eine klassische (französische) Richtung manövriert, und die Taube an sich, deren Qualität ich trotz meiner Abneigung mühelos feststellen kann, sind absolut beeindruckend. Es ist damit wohl das erste Gericht, das ich so hoch bewerte, aber weder von Herzen genieße noch vollständig aufesse. — 9

Es geht weiter mit Milchlamm, durchaus eher mein Fall. Das Stück vom Karree ist von überragender Qualität und wird in einem leichten Kontext präsentiert. Favabohnen, unterschiedliche Komponenten mit Frühlingszwiebel sowie einige aromatische Saucen und Pürees, u. a. mit Minze und Olive, bieten viele Kombinationsmöglichkeiten, von denen alle hervorragend sind. — 9

Ein Pré-Dessert mit Blaubeere, Kamille, Lambrusco und der Zitrusfrucht Sudachi ist süß, kühl, erfrischend und ein ganz wunderbarer Dessertspaß. — 8

Eine Kreation mit Erdbeere, einem Pudding aus „geräuchertem Karamell“, Baiser und Schokoladenkrümeln ist mir zu rauchig (6,9); einige Mignardises vom reichlich bestückten Dessertwagen sind auch nicht viel besser (6,9).

Von den inzwischen drei Drei-Sterne-Restaurants in San Francisco ist das Quince sicherlich nicht das spektakulärste – allen voran ist hier zweifellos das Saison zu nennen ‒, doch es war ein Essen mit deutlichen Höhen, vor allem, wenn es erkennbar italienisch wurde. Der Sommelier schenkt mir noch ein Glas Fernet-Branca aus den Siebzigerjahren ein, und ob es dessen magischen Kräften oder dem schon fast dreißig Stunden langen Tag zu verdanken ist, dass mir bei meiner Nachtruhe kein Jetlag mehr in die Quere kommt, weiß ich nicht. Buona notte.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Quince (→ Website)
Chef de Cuisine: Michael Tusk
Ort: San Francisco, USA
Datum dieses Besuchs: 25.07.2017
Guide Michelin (SFO/Bay Area 2017): ***
Meine Bewertung dieses Essens (?): 8,5
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Single Thread – Katinas und Kyles Kaiseki

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Es sind fast 40 Grad im Schatten. Die Amerikaner sagen dazu, die Temperatur sei „in den Hundertern“ und beziehen sich dabei auf die Maßeinheit Fahrenheit. Etwas Schatten unter den Markisen der einladenden Geschäfte und Boutiquen in Healdsburg suchend, stolpere ich am Nachmittag in etwas, das wie eine Weinbar aussieht. Oder eher wie ein Wohnzimmer. Entspannte Gäste sitzen in Sofas oder am großen Hochtisch in der Mitte, legen Vinylscheiben auf einen Plattenspieler auf und trinken Wein. In angenehm klimatisierter Atmosphäre, natürlich.

Zach, der mir ein paar ziemlich gute Pinot Noirs des Weinguts Banshee, in dessen tasting room ich hier nämlich gerade sitze, in „Gabriel“-Gläser einschenkt sagt mir irgendwann: „Alle fragen immer nach einer Farm. Das hier ist die Farm. Die Farm ist überall!“ Er bezieht sich dabei auf die fertile Umgebung hier in Healdsburg und im Sonoma County, wo Orangen an Straßenecken wachsen und vor Gesundheit strotzender Wein aus dem Boden sprießt wie Unkraut aus den Blumenbeeten deutscher Vorstadtreihenhäuser.

Ich hatte Zach erzählt, dass ich gerade schräg gegenüber im Single Thread eingecheckt hätte und mich etwas darüber wundern würde, dass dort keine Farm sei. Der Zusatz „Farms“ begleitet den Namen „Single Thread“ nämlich fast immer – außer tatsächlich am Haus selbst. Auch auf der Website des Betriebs bekommt man den Eindruck, dass man hier direkt auf einer Farm speisen würde.

Es gibt auch eine. David Sisler, vor kurzem noch Restaurantleiter im Saison in San Francisco, arbeitet jetzt hier und zeigt mir etwas später von der Dachterrasse aus, wo sich die Farm befindet. Auf Anfrage und in Ausnahmefällen könne man diese auch besuchen.

Single Thread ist also eine Farm, ein Restaurant und ein Hotel in einem. Die Gästezimmer sind so geschmackvoll, dass man sie eigentlich gar nicht wieder verlassen möchte.

All das ist das Projekt von Katina und Kyle Connaughton, einem überraschend unprätentiösen Botanikerin-und-Koch-Paar, das sich als Teenager auf einem Punkrock-Konzert kennen lernte und seitdem nie wieder von einander wich. Sie bereisten die Welt – Kyle war als Küchenchef in namhaftesten internationalen Häusern tätig – und entwickelten letztlich eine gemeinsame Passion für Japan. Die Gastlichkeit der Ryokans, die mikrosaisonale Kaiseki-Küche, die Liebe zu kleinen Details und die Hingabe zu kompromissloser Perfektion, all das hat es ihnen angetan und das Fundament für ihre Zukunft geebnet.

Das ambitionierte Projekt hat in der internationalen „Foodie“-Szene schnell Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Kein Wunder bei dem Einsatz: Das bekannte New Yorker Designbüro AvroKO wurde für die Inneneinrichtung beauftragt, es wurden die besten Köpfe aus der amerikanischen Restaurantlandschaft rekrutiert, das Investment dürfte im hohen siebenstelligen Bereich liegen, sofern das überhaupt ausreicht.

Möchte man als Gast weit im Voraus planen, garantiert eine Zimmerreservierung gleichzeitig auch die Tischreservierung. Zu zweit zahlt man auf diese Weise dann über zweitausend Dollar im Voraus über das in der amerikanischen Spitzengastronomie längst zum Standard avancierte Ticketsystem Tock. Das Menü nimmt mit $300 (ca. € 254) pro Person den geringsten Teil dieses üppigen Budgets ein.

Der Unterschied vom Single Thread zu ähnlichen „Farm-to-table“-Konzepten, die in den USA derzeit regelmäßig für Aufsehen sorgen – z. B. Willows Inn, Blue Hill Farm, Damon Baehrel –, ist hier der japanische Ansatz, der sich unaufdringlich (und für nicht Eingeweihte kaum benennbar) durch das gesamte Haus zieht. Elektrische WC-Sitze bringen in Erinnerung, wie angenehm es in Japan ist, wenn zur richtigen Zeit auch mal die Oberschenkel von unten beheizt werden; im Speisesaal erinnern handgewebte Wanddekorationen entfernt an die Papiertrennwände in Ryokans, und in schlichten Wandregalen in der Küche führt ein Aufgebot handgemachter Keramikgefäße ein stilvolles, stilles Leben. Und wer all diese Brücken zu Fernost übersieht, dem winken spätestens die Essstäbchen auf dem Tisch zu.

Als ich abends Platz nehme, eröffnet dort bereits ein farben- und zutatenfrohes Arrangement das Essen der kommenden Stunden. Es ist eine unmissverständliche Hommage an die Hassun genannte Speisenfolge aus der Kyotoer Kaiseki-Küche, bei der mikrosaisonale Zutaten aufwändig präsentiert werden (siehe hierzu auch meine Berichte aus Kyoto aus dem Frühjahr). Hier in Healdsburg berücksichtigen die Connaughtons nach japanischem Vorbild bis zu 72 „Jahreszeiten“ für die Auswahl ihrer Produkte. Katina soll regelrecht obsessiv sein, wenn es darum geht, den perfekten Zeitpunkt für eine bestimmte Zutat abzupassen.

Etwas verwunderlich ist es bei all dieser Präzision daher schon, dass das Arrangement bereits am Tisch aufgebaut ist, wenn man Platz nimmt. Einige der Köstlichkeiten, besonders das Sashimi, werden hierdurch eine Nuance zu warm.

Doch das war es dann auch schon mit Kritik. In den kommenden fünfundzwanzig Minuten probiere ich mich von einem Schälchen zum nächsten, komme aus einem Modus des anhaltenden Staunens und Genießens nicht heraus. Es gibt Makrele von exzellenter Qualität mit knackiger „komprimierter Gurke“ (8); geröstete Salatblätter mit Tofucreme, knusprig und kühlend (8,5); eine eingelegte Kumamoto-Auster mit einer leichten Süße, zum Träumen gut (10); Isaki (ein Barschverwandter) mit eingelegtem Kombu (9); eines der besten Stücke Melone, die ich je gegessen habe, bereichert durch ein Zitrusfruchtgel und Sesam (10); Entenmuschel mit Pfirsichgelee (9); unvergesslich gute Maulbeeren, die von Natur aus fast industriell schmecken, weil man so einen Zuckergehalt gar nicht gewohnt ist (8); Ayu mit Perillablüte und Miso (8); Kintoki-Karotten mit pikantem Mandelpesto (9); Maiscreme mit Gelee von geräuchertem Mais und Hokkaido-Seeigel (10).

Nachgereicht werden noch ein Ei mit geräucherter Sabayon und Kaviar (9, ohne Foto), sowie einige Stück Artischocke von einer Qualität, die ich sonst nur von Alain Passard so kenne, hier mit Olivenöl und Mandarine serviert, die das Gericht geschmacklich in eine andere Welt hebt (10). Gemälzte Kartoffeln mit Kohlenfisch, karamellisierten Zwiebeln und einem Duft nach Lagerfeuer und Nachtwanderung folgen (10).

Das Vorhaben, Kaiseki in die westliche Welt zu übertragen, ist eigentlich ein Widerspruch. Kaiseki muss man leben, das passt nicht in eine Rezeptsammlung. Katina und Kyle aber schaffen es, und sie setzen sich hiermit bereits ein Denkmal.

Es folgt ein Sashimi von Großer Bernsteinmakrele mit fantastischer, gehaltvoller Textur, die von geeistem Amazake, einem Getränk aus fermentiertem Reis, wunderbar kontrastiert wird. Kühle, süße Pflaumen von einer Qualität, die ich bisher nur aus dem Willows Inn kenne, sowie ice plant (ein Mittagsblumengewächs), Perilla und süßer Kartoffelessig sind weitere außergewöhnliche Mitspieler und erzeugen in Kombination mit dem Fisch ein für mich völlig neues, denkwürdiges Geschmacksbild. Das ist ein großartiges Gericht, welches perfekte Produktqualitäten genauso erstrahlen lässt wie die Beherrschung von klassischem Handwerk und modernen Küchentechniken. — 9

Besser noch, weil Wärme und Knusprigkeit noch mehr unter die Haut gehen, sind mit Jakobsmuscheln gefüllte (!) Kürbisblüten, meisterhaft als Tempura zubereitet. Die hauchfeine, knuspernde Ummantelung ist auf höchstem Niveau, das kann man auch in Japan nicht besser. Doch bei diesem Gericht bleibt das Tempura die einzige Anspielung an Fernost. Eine Nocke minutiöser Zucchiniwürfel, die kleiner sind als ein Kubikmillimeter, tragen ein Parfum aus Rosmarin und sorgen für einen Gänsehautmoment. Eine Zucchinisauce mit ätherischen Aromen, die an Estragon und Minze erinnern, runden das kleine Meisterwerk ab. — 10

Es folgt ein Cracker aus Reis und Kartoffeln, der mit einer aromatischen, grünen Kräutercreme gefüllt ist. Bestes Handwerk und vor Aromen strotzende Zutaten in jedem Bissen. — 8

In Rauch gegarter „Ōra King“-Lachs ist von allerfeinster Qualität, sehr saftig und mit buttrigem Schmelz und wird beim folgenden Gang mit Saiblingsrogen auf einer Shio-Koji-Vinaigrette mit japanischem Ingwer (Myoga) serviert. Das Gericht ist warm, alles duftet betörend nach dem an Frühlingszwiebel erinnernden Ingwer und dem Geschmacksträger Fett. Wie auch schon bei der Kürbisblüte – hier wird es aber noch deutlicher – begeistert mich die fast schon en passant umgesetzte Verbindung zwischen westlicher (französischer) Küche und der japanischen. Andere nennenswerte Vertreter dieser Königsdisziplin, z. B. César Ramirez oder Christian Bau, sind in ihrer Herangehensweise puristischer bzw. verspielter. Das hier ist zwar nicht „besser“ als in New York oder an der Mosel, aber gleichwertig, neuartig und unglaublich gut. — 10

Eine der besten Foie-Gras-Terrinen, die ich je gegessen habe, folgt. Das klassische, aufwändige Handwerk ist offenkundig. Die Terrine wurde nicht etwa zu einer homogenen Masse verarbeitet, sondern hat Struktur, da gibt es richtig was zu beißen. Und dann kommt wieder dieser geniale, unauffällige Brückenschlag in Richtung Japan zum Einsatz. Eine Tomatenessenz („Tomaten-Tee von letztem Jahr“) transportiert den Esser mit ihrem konzentrierten, fleischigen Umami-Geschmack unscheinbar nach Fernost, weil der intensive Jus fast nach Dashi schmeckt. Weitere Mitspieler wie weiße Rübchen und deren Grün steuern weitere Magie bei. — 10

Das exzellente reserve pairing, das mein Essen in flüssiger Form begleitet, sieht an dieser Stelle Sake vor, für den man sich das Trinkgefäß traditionell aussuchen kann.

Dazu folgt dann Abalone aus Monterey, die so zart und dünn aufgeschnitten ist, dass die Zubereitung entfernt an die Beschaffenheit von Zanderfilet erinnert. Den charakteristischen Biss hat das Muschelfleisch trotz der unglaublichen Zartheit behalten, dazu zeichnen es spannende, nussige Röstaromen aus. Eine schaumige, mit karamellisierten Zwiebeln und Ingwer aromatisierte Sauce von Abalone-Leber sowie jodiger Seetang (Kombu), heben das Gericht in höchste Genusssphären. — 10

Eine von einer japanischen Familie speziell für dieses Restaurant angefertigte Tajine („Fukkura-san“) ist die Bühne für das nächste Gericht. Es gibt Kohlenfisch mit verschiedenen Gemüsen, u. a. Shimeji-Pilzen, Salatkräutern und edlem Gyokuro-Grüntee. Durch das Dampfgaren, bei dem sich die Aromen aller Zutaten behutsam und gleichmäßig miteinander vermengen, stellt sich am Gaumen ein konsistenter Wohlgeschmack ein. Umami würden die Japaner wohl auch hierzu sagen, doch das Geschmacksbild ist nicht auf herzhafte Art ansprechend, sondern vor allem durch Wärme, Textur und die perfekte Fischqualität. Man schwebt beim Genießen dieses Gerichts wie auf einer Wolke, es gibt keine Kontraste oder Überraschungen, es ist eher „transparent“, einnehmend, fließend. — 10

Das Stück Fleisch des nächsten Gangs stammt von dem einzigen Betrieb in den USA (Pacific Rogue Wagyu), der, in vierter Generation, reinrassige Wagyu-Rinder („F1“) züchtet. Der Marmorierungsgrad ist sehr hoch, und das austretende Fett transportiert am Gaumen Aromen von Nuss und, nun ja, Rindfleisch. Dazu gibt es, in jeweils ganz unterschiedlichen Zubereitungen, Komatsuna-Gemüse, Bing-Kirschen, Crème de Noyaux, schwarzen Trüffel aus Australien und einen klassischen, aromatischen Jus. Aromen, die an Cola und Hotdog erinnern, sind Bestandteil des komplexen, aber zugänglichen Geschmacksbilds und sind auf diese dezente Weise ganz und gar nicht unwillkommen. Zweifellos eines der besten Fleischgerichte, die ich je gegessen habe. — 10

Hieran anknüpfend steht im Mittelpunkt des folgenden Gerichts ein mit Schmorfleisch gefüllter Beignet, der wie eine große köstliche Pastete schmeckt, die man gerade aufgeschnitten hat. Gegarter Dinkel mit angenehmer Textur sowie verschiedene Kräuter und Blüten sind dazu aromatisch intelligent und akribisch ausgewählt und machen auch diesen Gang herausragend. — 9

Ein cremiges Pfirsicheis leitet jetzt zum süßen Teil des Menüs über. Das sehr aromatische Eis wird begleitet von fantastischen Brombeeren und Brombeer-Consommé sowie Duftnessel. Unglaublich gut. — 9

Ein zunächst recht trocken aussehendes Dessert entpuppt sich als Überraschung der angenehmsten Art. Zuckersüße, reife Erdbeeren ergeben mit Aprikosenkompott und Hōjicha-Eis (ein Grüntee) eine klassische, perfekte Dessert-Kombination, bei der die außergewöhnliche Qualität der Erdbeeren über allem schwebt und auch hier wieder unauffällig in Richtung Japan zeigt, wo das Zelebrieren derartiger Qualitäten anerkannt und üblich ist. Gepuffte Amarant-Samen bringen mit ihrer Feinkörnigkeit einen kurzweiligen Texturkontrast ins Spiel. Sowohl handwerklich als auch geschmacklich perfekt. — 10

Es ist Nacht geworden. Für den noch verbleibenden Rest des Abends werde ich nach oben auf die Terrasse gebeten, wo ein Feuer Wärme spendet. Die Temperatur ist inzwischen um weit über zwanzig Grad gefallen.

Ein paar Mignardises mit Koriander, Dattel und Jasmin, Minze und Pflaume beenden dieses Essen nicht beiläufig, sondern mit einem weiteren großen Ausrufezeichen. — 10

Sterne und Neumond leuchten über mir, das flackernde Feuer hypnotisiert. Ich bin satt und aufgewühlt, muss morgen früh um halb fünf zum Flughafen aufbrechen.

Um diese frühe Uhrzeit herrscht hier im Haus eine gespenstische Stille. Aus dem Eingangsbereich kann ich durch ein großes Fenster in die Küche blicken. Alles ist schon jetzt wieder akkurat hergerichtet, für heute Abend, wenn Kyle und Katina – und ihr gesamtes fantastische Team – mit ihrer Gastfreundschaft und Passion andere Menschen glücklich machen. Aber ich muss die Tür jetzt hinter mir schließen. Nicht für immer, so viel ist sicher.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Single Thread (→ Website)
Chef de Cuisine: Kyle Connaughton
Ort: Healdsburg, USA
Datum dieses Besuchs: 27.07.2017
Guide Michelin: noch nicht bewertet
Meine Bewertung dieses Essens (?): 10
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Manresa ‒ in bester Gesellschaft

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Eine Autostunde südlich von San Francisco fährt man vorbei an den Heimatorten der Tech-Giganten in Mountain View, Menlo Park und Cupertino, vorbei an der berühmten Stanford-Universität, und kann dann, wenn man will, in dem überschaubaren Städtchen Los Gatos ankommen.

In Los Gatos („die Katzen“) verbringt man einen sicheren, geordneten und unaufgeregten Lebensabend, mit Friseursalons für Hunde, Geschäften mit mittelamerikanischem Folklorekitsch und allem, was man sonst noch so benötigt, um seinen Wohnort idyllisch, ruhig und gepflegt zu nennen.

Das Restaurant Manresa wurde 2002 vom Inhaber und Küchenchef David Kinch eröffnet. 2014 zerstörte ein Feuer die gesamte Küche des damaligen Zwei-Sterne-Hauses. In einer Situation, in der ein Gastronom eigentlich nur an den Ruin denken kann, kocht sich Kinch aus der brenzligen Situation heraus, tut dies „mit mehr Tiefe, Eleganz und Kreativität“ als zuvor, so Michelin-Chef Michael Ellis damals, und erkocht für das Haus einen dritten Stern, den das Haus seitdem dekoriert.

Als ich mir vor dem Platznehmen noch schnell die Hände waschen gehe, entdecke ich an der Wand im Waschraum eingerahmte Speisekarten aus den weltbesten Restaurants: L’Ambroisie, Troisgros, elBulli, Kitcho Arashiyama … Es wirkt fast so als zählte sich Kinch nicht zu dieser Liga, dabei gehört er offiziell selbst dazu. Die Bescheidenheit, die von diesem Gedanken ausgeht, und der Respekt vor den vielen großartigen Kollegen aus aller Welt finde ich bemerkenswert.

Im Interieur des Restaurants herrscht diese unverwechselbare, durchaus austauschbare, aber angenehme amerikanische Fine-Dining-Atmosphäre. Welche Parameter es genau sind, die das Ambiente so typisch amerikanisch machen, kann ich gar nicht so genau ausmachen. Bauteile aus Kirschholz gehören in diesem Fall genauso dazu wie große Blumengestecke und der angenehm klimatisierte Raum.

Wie auch schon gestern im Quince gibt es auch hier genau einen Champagner zur Auswahl, auch hier ist es Krug. Das Glas steht später mit fünfzig Dollar auf der Rechnung (ca. € 43), aber man kann ja auch ablehnen. Mir war nach einer Zusage.

Das Chef’s Menu, für das ich mich entscheide (ca. € 217), beginnt mit einem süßlich-weihnachtlichen Cracker mit gerösteten Nüssen und Müsli, sowie einer Madeleine mit schwarzer Olive, und einem Paprikagelee-Würfel. Alles ist ausgezeichnet, und obwohl die leichte Süße, die allen Kreationen innewohnt, zunächst einen Hauch irritiert, schärft sie bei genauerer Betrachtung die Sinne, weil man Süße zum Aperitif nicht erwartet und hier erst einmal „aufhorcht“. — 8

Es folgt ein warmes, halbes Artischockenherz, welches man in Romesco tunkt, eine leicht pikante Sauce auf der Basis von Tomate und Paprika, die an Gazpacho erinnert und außergewöhnlich gut abgeschmeckt ist. Der kühle Schmelz ist ein perfekter Mitspieler zur Artischocke und macht diese kleine Speise zu einer ganz großen Freude. — 9

Für das nächste Amuse-Bouche wurde eine Stück Wittling frittiert – japanisch präzise ‒, das mit einer Erdbeer-Puttanesca serviert wird. Wie auch immer Küchenchef Kinch zu dieser Eingebung gelangt ist (Fisch mit Erdbeer-Tomatensauce), ist diese nicht nur dramaturgisch absolut stimmig zu den vorherigen Geschmacksbildern, sondern in erster Linie ein gustatorisches Fest allererster Güte. — 9

Als weiteres Amuse-Bouche folgt ein mit warmem Eigelb gefülltes Ei mit einer intensiv geräucherten Creme sowie Öl aus Löwenzahn. Exzellent, aber, auf hohem Niveau, etwas zu rauchig und zu bitter. — 7,5

Der erste Gang des Menüs ist ein Meerbrassen-Sashimi in einer Kombination mit Olivenöl, Schnittlauch und Radieschen. Hier trifft das Mittelmeer auf Japan, ein für die kalifornische Küche typisches Potpourri von Einflüssen. Der hier absichtlich lauwarm servierte Fisch hätte mir etwas kühler vermutlich noch eine Nuance besser gefallen, doch das Gericht ist umwerfend gut. Ich genieße es in solchen Momenten in vollen Zügen, eine so weite Reise unternommen zu haben. — 9

Der folgende Gang bekräftigt diese Empfindung nur. Es gibt Seeigel aus Hokkaido mit kühlem Bouillabaisse-Gelee und Shishito-Paprika-Rouille. Noch mal: Seeigel, Bouillabaisse, Rouille. Auch hier treffen Mittelmeer und Pazifikküsten aufeinander, das Gericht duftet „medizinisch jodig“, was in diesem Kontext ungemein appetitanregend ist, und schmeckt nach Frische und Brandung. Wohlgeschmack flutet den Gaumen, ich atme tief durch, schließe die Augen und löffle alles aus, Gramm für Gramm. — 10

Ein Gartensalat wird als nächster Gang aufgetischt. Die Parallele eines solchen Tellers an Michel BrasGargouillou ist offenkundig, aber hier fernab von einer Imitation. Eine Pimientos-de-Padrón-Schote wird vom Kellner mit dem Hinweis versehen, dass der Legende nach eine von zehn Schoten scharf sei. Ich kontere, dass das nie so sei ‒ und werde eines Besseren belehrt als ich in die Schote beiße. Eine prononcierte Schärfe macht sich breit, und ich wage zu bezweifeln, dass das Zufall ist. Eine separat servierte kühlende Kräutermilch sowie etwas Ziegenkäse stehen bei dem Gericht bereit wie die Feuerwehr. Hat sich das Feuer gelegt, was nicht lange dauert, kommen florale Noten zum Vorschein sowie Frische und Chlorophyll. Ein großartiges Gericht zwischen Kraft und Leichtigkeit. — 9

Ein Stück vom Wolfsbarsch folgt als nächster Streich. Der Fisch ist von phänomenaler Qualität, behutsam pochiert und saftig. Er liegt in einer Sauce mit Mais, deren prinzipiell kritische Süße mittels Champagneressig und Kaviar genial ausbalanciert wird. Zucchini und Mais passen zu diesem weiteren exzellenten Gericht perfekt. — 9

Die behagliche Atmosphäre und das großartige Essen brennen sich ein, je länger ich hier sitze. Ich bin tausende Kilometer weit entfernt von „Straßentellern“ und Anricht-Irrsinn, so nah an großartigen Zutaten und Genuss. Dafür reise ich, dafür teile ich hier diese Erlebnisse!

Der Weinservice ist nicht ganz so flüssig. Ich hatte jeweils eine halbe Flasche 2014 Kistler Chardonnay „Vine Hill“ (ca. € 77) sowie einen 2011 Kosta Browne Pinot Noir (ca. € 105) bestellt, musste beim Weißwein von einem unpassend schlanken Schott-Zwiesel-Glas auf ein breiteres von Riedel umsteigen sowie beim Rotwein um Kühlung bitten. Alles kein Beinbruch, aber seltsam, wenn ein Sommelier diese wesentlichen Standardaufgaben nicht gemeistert bekommt.

Es geht weiter mit Abalone aus der Monterey Bay, überglänzt und umhüllt mit einer Sauce („Gumbo“) ihrer Leber. Gumbo bezeichnet eine Sauce aus der US-Südstaatenküche, bei der eine dunkle Mehlschwitze (Roux) die Grundlage für Bindung und nussigen Geschmack bildet. Die Abalone selbst ist von einer bemerkenswerten Qualität; ich ziehe die Exemplare in Nordamerika oft denen aus Japan vor. Die Abalone bildet eine grandiose Grundlage für die herzhafte, dickliche Sauce, der durch viel frisches Gemüse wie Gurke und Schnittlauch jegliche Schwere genommen wird. Auf japanischem Sushi-Großmeister-Niveau gekochter Klebereis ist schon ganz pur genossen ein Erlebnis, mit den Resten der Sauce jedoch das Tüpfelchen auf dem I dieses außergewöhnlichen Gerichts. — 10

Umami, Sonne, Frische, Wohlgeschmack, Kühle, Regionalität, Qualität, Handwerk und technische Präzision: all assoziiere ich mit dem nächsten Gang, der mit Ingwer „parfümierte“ gelbe Tomate mit einer Bouillon aus Schwein und Sardellen kombiniert. Etwas Rosmarin dazu rüttelt wach und macht auch diesen Teller zu einem kleinen Meisterwerk. — 10

Ich tue mich ja wirklich schwer mit rosa gegartem Geflügel, aber die gegrillte Ente, von der auf dem nächsten Teller einfach nur zwei Scheiben mit einem fantastischen Jus mit etwas Kardamom und herrlich aromatischem Pfeffer serviert werden, ist die beste Ente, die ich je probiert habe. Das gilt sogar, obwohl es sich etwas kurios anfühlt, von dem Jeff-Koons-Teller zu essen, der Michael Jackson mit seinem Affen zeigt. Zusätzlich zu dieser hervorragenden aromatischen Ente mit Röstnoten und zartem Fleisch gibt es Mitspieler wie Pflaume („Andy’s Plums“) ganz fein geschnittene Scheiben säuerlich frischer Birne sowie Zwiebeln mit einer Art Minz-Pesto. Diese Minze ist traumhaft, für sich allein, und noch viel mehr in der Kombination mit dem Geflügel. Wohlschmeckend, skurril, grandios. — 10

Geflügel kann man hier. Ein Stück Perlhuhnbrust ist beim folgenden Gang wunderbar aromatisch und sehr saftig. Die hauchdünne knusprige Kruste kommt mit ansprechend viel Salz und etwas Fett. Kleine Rübchen, Oliventapenade und weitere kleine, aber auffällig stimmige Akzente machen auch diesen Gang zu einem der besten Gerichte, die ich je gegessen habe. Die Authentizität aller Komponenten begeistert mich besonders. Großartige Küche braucht nicht viel, außer viel Verzicht. — 10

Nach diesem starken Auftritt, der mich auch emotional aufgeheizt hat, sorgt eine Eisspeise mit Joghurt, Honig und Sauerampfer für einen kühlen Kopf. Knusprig geröstetes, karamellisiertes Getreide, sowie Nüsse, sind „laut“ beim Draufbeißen und machen wach. Sehr gut, aber auch sehr kalt und von geradezu „nordischer Bitterkeit“. — 8

Kandierte Aprikose, Nussbutterkrumen, Vanille und Bayerische Creme mit Thymian und Zitrone bilden die süßen Grundlagen eines glücklich machenden Desserts, das erheblich unspektakulärer aussieht als es schmeckt. Heiß und kalt, Vanille und Honig, und über allem diese wundervoll aromatische Aprikose: besser kann ein Dessert nicht sein, nur anders. — 10

Ein handwerklich etwas komplexeres Arrangement mit Schokoladensorbet, Kirsche und Karamell ist in jeder Hinsicht extrem. Extrem süß, extrem kirschig, extrem gut. Etwas zu extrem, vielleicht, aber bei all der Finesse des Menüs darf man auch mal einen solchen Akzent setzen. — 8,9

Die Mignardises schließen den Kreis zu den Aperitifsnacks, nun aber deutlich süßer, u. a. mit einem abermals hervorragenden Geleewürfel mit Erdbeere. Die anderen Pralinen sind sehr gut, aber nicht überragend. Im Schnitt 8.

Mit phänomenalem Geflügel, beispiellos frischen Produkten und großartigen, authentischen Aromen brennt sich dieses Essen tief in mein Gedächtnis ein. Die höchste Bewertung, die ich diesem Essen in Summe nur attestieren kann, „flackerte“ manchmal etwas, aber allein die Häufigkeit der vielen unvergesslich großartigen Gerichte lässt mir gar keine Wahl.

Es gibt keinen Grund für Bescheidenheit. Man sollte David Kinchs Speisekarte einrahmen und zu den anderen hängen. Sie hingen dort weiterhin in bester Gesellschaft.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Manresa (→ Website)
Chef de Cuisine: David Kinch
Ort: Los Gatos, USA
Datum dieses Besuchs: 26.07.2017
Guide Michelin (SFO/Bay Area 2017): ***
Meine Bewertung dieses Essens (?): 10
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Grace ‒ Gnade

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Das Grace in Chicago ist das letzte der derzeit vierzehn Drei-Sterne-Restaurants in den USA, das ich noch nicht besucht habe. Obwohl meine Kurzreise ihren Schwerpunkt in Kalifornien hatte, wollte ich die Gelegenheit nicht auslassen, auf meiner Rückreise hier den Sack zuzumachen. Chicago liegt ja so gut wie auf dem Weg.

Die Reservierung im Grace war unkompliziert und steht schon seit Wochen, genauso wie der ambitionierte Plan, heute dorthin zu gelangen.

Es ist fünf Uhr morgens als ich das Single Thread in Healdsburg verlasse, wehmütig und immer noch aufgewühlt von gestern. Niemand ist zu dieser Zeit hier, es ist gespenstisch leer und still.

Mein Plan hat wenig Spielraum. Ich muss jetzt mit dem Mietwagen zum Flughafen nach San Francisco, diesen dort abgeben, zum Terminal fahren, den Flug nach Chicago wahrnehmen und dann, je nach Verspätungslage und Verzögerungen am Gepäckband, entweder schnell noch im Hotel einchecken (mein eigentlicher Plan) oder sofort ins Restaurant fahren, samt Reisegepäck und griffbereitem frischem Hemd (mein Notfallplan).

Es wird der Notfallplan. Zwanzig Minuten Verspätung bei United Airlines, dreißig nervenaufreibende Minuten am Gepäckband und weitere zehn Minuten im Verkehrschaos vor dem Terminal sei Dank. Ich komme nur wenige Minuten vor meiner Reservierungszeit im Grace an ‒ meine Art von Abenteuerurlaub.

Nachdem ich etwas Zeit hatte, mich aufzufrischen, sitze ich endlich, immer noch außer Atem, am Tisch. Die Klimatisierung und ein Glas 2012er Talley Vineyards „Rincon“ Chardonnay (ca. € 21) helfen, runterzukommen. Ich sehe mich um.

Fast lautlos huscht das ganz in Schwarz gekleidete Personal durch den graubraunenen, sachlich eingerichteten Speisesaal. Durch das einzige Fenster blickt man im hinteren Teil des Restaurants in eine klinisch grell beleuchtete Küche. Recht monochrom, die Kulisse.

Zwei Menüs stehen zur Auswahl, „Flora“ und „Fauna“. Ich entscheide mich für letzteres (ca. € 200) und nehme schon mal die Amuse-Bouches in Augenschein, die auf einem Gebilde aus Bienenwachs an den Tisch gelangen.

Es gibt einen quaderförmigen Panisse (Kichererbsenfladen) mit australischem schwarzem Trüffel und Meyer-Zitrone (8); ein halbkugelförmiges Yuzu-Gummibärchen mit Jackfrucht und Kardamom (7); einen Chip aus Chia- und Leinsamen mit Beete und Umeboshi (7,5) sowie ein recht dick geschnittenes Stück Iberico-Schinken (7). Alles sehr gute Canapés, aber auch so winzig, dass man Mühe hat, sie am Gaumen zu „entziffern“.

Das Menü beginnt mit einer im Joghurtbecher servierten Perlhuhnrillette. Unter der Anleitung des Personals öffnet man den Aludeckel, woraufhin dichter Rauch entweicht, dann leckt man das Innere des Deckels ab, das mit einer Masse aus Kokosnuss und Zitronengras versehen ist. Wegen des beißenden Rauchs schmeckt man das aber nicht. Hilfreich also, dass jemand danebensteht und das Gericht untertitelt. Im Glas selbst findet man neben der handwerklich makellosen Rillette herzhafte Mitspieler wie Radieschen, Schnittlauch(-blüte) und weiteres. Gut aufgewertete Hausmannskost. — 7

Der folgende Gang wird in einem kegelförmigen Glas serviert, in dem eine dünne, karamellisierte Zuckerschicht verschiedene Zutaten voneinander trennt. Vermengt man alles, entsteht ein vielschichtiges Geschmacks- und Texturensemble mit Königskrabbe aus Alaska, Gurke, Sudachi, Lachsrogen und Minze. Das Meerestier ist von hervorragender Qualität, und das Faszinierende an dem frischen, belebenden Gericht ist eine deutlich präsente Schärfe, die alle Komponenten miteinander verbindet. Absolut hervorragend. — 9

Ich hoffe auf einen Verbleib auf diesem Niveau, denn der Einstieg in den Abend war bisher eher unauffällig.

Es geht weiter mit rohen Jakobsmuscheln, denen man in dieser Qualität in unseren Breiten kaum begegnet. Sie sind serviert in einem aufgeschäumten Sud aus Dashi, Milch und „Schalottenöl“, weiter spielt Kapuzinerkresse eine Rolle. Die kleinen, fleischigen Muscheln sind ein Genuss, aber der gesamte Rest schmeckt recht einheitlich fad nach Milch. Hier wurde offenbar nicht richtig abgeschmeckt, denn die Zutaten klingen insgesamt vielversprechend und stimmig. — 7

Der folgende Gang thematisiert Karotte. Diese ist Teil eines kreisförmigen Zutatenarrangements, das ich optisch eher in einem überambitionierten Restaurant in Deutschland einordnen würde. Die Karotte selbst wurde durch irgendeinen Prozess dehydriert und klebt wie eine Lakritzstange zwischen den Zähnen. Ein seltsames fadenartiges Gebilde, vermutlich aus Karottenabrieben, das man kaum in seinen Mund bekommt, sowie viele Cremes und Gels tragen zur weiteren Verwirrung bei. Geschmacklich findet man eine durchaus interessante Kombination mit Erdbeere, Haselnuss und Orange vor, aber das Gericht ist weit weg von irgendeiner Form von Genuss oder kulinarisch sinnvoller Kreativität. — 6,5

Auch das folgende Gericht enttäuscht. Eine sehr süße, polentaähnliche Creme mit Mais und Pecorino begleiten Komponenten wie (sehr guter) australischer Trüffel, Pfifferlinge sowie krümelige und staubige Zutaten, mit deren Identifizierung ich mich nicht lange aufhalte. Das Gericht entzieht sich, trotz einiger erneut interessanter Geschmackskombinationen, nahezu völlig meinem Verständnis von guter Küche. — 6

Weiter geht die Talfahrt mit geschmortem Schwein mit „knusprigem Kohl“. An Dehydration von Komponenten scheint der Küchenchef großen Gefallen zu finden, wenig zu meiner Begeisterung. Die trockenen Kohlfransen lassen sich kaum essen. Und wenn man es doch schafft, das Zeug in seinen Mund zu stecken, bestraft einen ein irritierender, chlorähnlicher Geschmack. Eine wachsweiche, klebrige und neutral schmeckende Masse am Tellerrand hievt das Gericht auch nicht auf irgendeine Genussebene, und auch das Fleisch ist in diesem gesamten Kontext ebenfalls belanglos. Ein Graus. — 5

Miyazaki-Rind schmückt den folgenden Gang, und gäbe es diese Rosinen zum Herauspicken nicht, ließe ich das schlabbrige Gericht mit gekochtem Getreide und abermals gummiartigen und dehydrierten Zutaten wohl komplett stehen. So fehlen zumindest ein paar Gabeln als der Teller in die Küche zurückgeht. Interessieren tut das niemanden, mich allerdings inzwischen auch nicht mehr. Schade um das exzellente Fleisch, das man erheblich attraktiver hätte zur Geltung bringen können. — 6,9

Zum süßen Teil leitet ein kleines gefülltes Gebäckstück über, das mit einer Art Granité mit Blutorange gefüllt ist. Mandarine und Vanille sind zusätzliche Aromen. Abgesehen von der extremen Kälte, die mir wie ein Blitz in den Kopf schießt, ist das recht gut. — 6,9

Trotz erneuten Austobens der Küche mit Dehydration ist das folgende Sorbet mit Heidelbeere unerwartet hervorragend. Zur süßlich-säuerlichen Beere passt exzellent eine Aromenwelt mit Basilikum, Honig, Pfeffer und Kaffee.— 8

Ein Ausrutscher.

Bei dem nächsten Dessert weiß ich gar nicht, was ich als erstes liegen lassen soll. Die fürchterlichen Schokoladenzylinder? Die trockenen Kakaoschwämme? Oder doch lieber die banalen Cashewkerne in Creme-fraîche-Tupfern? Es wird das grüne Eis aus mexikanischem Blattpfeffer (hoja santa), der geschmackliche Ähnlichkeiten zu Zyankali aufweisen muss, so beißend bitter wie das schmeckt. — 5

Zum Abschluss der ganzen Misere hält man mir eine nach nichts schmeckende Praline auf einem langen Holzbalken unter die Nase, der so aussieht wie ein Stuhlbein, das man irgendwo im Keller gefunden hat. Wie das Personal dieses Gebilde vor sich herträgt ergibt ein besonders belustigendes Bild.

Drei Sterne? Ich mache drei Kreuze, dass ich das hinter mich gebracht habe und flüchte hinaus in die Nacht.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Grace (→ Website)
Chef de Cuisine: Curtis Duffy
Ort: Chicago, USA
Datum dieses Besuchs: 28.07.2017
Guide Michelin (Chicago 2017): ***
Meine Bewertung dieses Essens (?): 6,9
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Le Bois sans Feuilles (Troisgros) ‒ das nächste Kapitel

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Das neue Restaurant der Gastronomiedynastie Troisgros befindet sich ungefähr eine Autostunde entfernt vom alten Standort Roanne. Roanne ist eine unsympathische Industriestadt, zu deren Tristesse das geschmackvolle Innenleben des Hauses Troisgros kein größerer Kontrast hätte sein können.

Im ländlichen Ouches, der neuen Adresse, findet man solche Gegensätze nicht. Auf einem großen Grundstück mit Garten, Wald und See hat die Familie eine alte Villa und eine Scheune restaurieren lassen, dabei viele Attribute, die offenkundig ihren einstigen Charme ausmachten, erhalten und die beiden Gebäude durch einen flachen, von der einen Seite hinter hohen Gräsern fast versteckten Anbau aus Glas miteinander verbunden.

Auch der moderne Glaskasten erscheint hier nicht als Fremdkörper, sondern als harmonisches Element, dessen gleichzeitig spiegelnde und transparente Fassade intelligent mit dem Element der Täuschung spielt. Bäume und Himmel reflektieren auf den Scheiben, die wiederum den Blick auf baumähnliche Stahlstreben im Inneren freigeben. Letztere begründen auch den eigentlichen Namen des Restaurants, Le Bois sans Feuilles („der blätterlose Wald“).

Etwas verträumt und durch einen Aperitif mit Gin und Yuzu, den ein wunderbares Törtchen mit hauchdünnen Steinpilzen und Petersilienpulver begleitet (9), leicht beseelt, schweife ich an diesem lauwarmen Sommerabend auf der Terrasse gedanklich etwas ab. Das Anwesen ist wunderschön. Man könnte hier mühelos ein paar Tage verbringen. Die Zimmer des Hotels sind geräumig, modern und individuell eingerichtet; es werden diverse Aktivitäten angeboten, wie z. B. eine Angeltour mit lokalen Fischzulieferern, und das Thema Genuss steht ohnehin die ganze Zeit im Vordergrund. Allein im Weinkeller könnte man sicherlich einen feuchtfröhlichen Nachmittag verbringen.

Das neue Haus Troisgros ist damit ein typisches Relais & Châteaux, die einzige Hotelmitgliedschaft, die ich kenne, von deren Mitgliedshäusern man genau diese einzigartige Mischung aus individuellem Charme, Luxus und Genuss erwarten kann.

Die drei Michelin-Sterne, die alle (Haupt-)Restaurants der Familie bereits seit 1968 auszeichnen, verzieren bereits das Eingangstor zum Grundstück. (Im Guide Michelin Frankreich 2017 ist das Restaurant noch am alten Standort gelistet, wohingegen die Sterne auf der Website des Michelin schon umgezogen sind, was ich so auch noch nicht gesehen habe. Man geht offenbar mit der Zeit.)

Dass diese Auszeichnung außen am Haus überhaupt kenntlich gemacht wird, beobachte ich in letzter Zeit häufiger. Der Michelin verschickt offenbar seit neuestem diese Plaketten. Ich finde das gut, immerhin macht es noch mal deutlich, dass die Sterne am Haus prangen und nicht am Koch.

Der Moment, abends am Tisch Platz zu nehmen, ist ein Erlebnis. Wenn es noch hell ist, hat man durch das viele Glas das Gefühl, im Freien zu sitzen; wenn es dunkler wird halten die organisch geformten Stahlstreben und eine Decke mit gestalterischen Elementen aus Kupfer, die an Laub erinnern, die Illusion aufrecht, in einem Wald zu sitzen. Futuristisch und gemütlich zugleich.

Wie fast immer in den französischen Spitzenrestaurants, und überhaupt wie überall dort, wo eine produktbetonte Küche den Ton angibt, entscheide ich mich für ein Essen à la carte. Die Speisekarte ist in Kategorien wie „frisch und leicht“, „die wilde Natur“, „pointierte Aromen“ und andere unterteilt. Das ist zunächst etwas verwirrend, korrespondiert am Ende aber dennoch mit einer üblichen Reihenfolge beginnend mit Vorspeisen, gefolgt von Fisch- und Fleischgerichten. Die Gänge selbst sprechen die Sprache von Produkten. Keine Querstriche, keine Rechtschreibfehler, keine anderen typografischen Unsitten lenken vom Wesentlichen ab. Bereits an dieser Sachlichkeit habe ich große Freude.

Noch mehr begeistert mich das Selbstverständnis von guter Küche, das von meiner ersten Vorspeise ausgeht. Ein „Opus“ von Kalbskopf und Tomate (halbe Portion, € 35) ist ein quaderförmiges Werk aus mehreren Bausteinen, die mit getrockneter, marinierter und gehäuteter Tomate umwickelt sind. Die inneren Komponenten sind geschmortes Kalbfleisch samt zentimeterdicker Fettschicht und ein großes Stück Steinpilz. Das Fett ist ganz leicht zu schneiden, hat einen buttrigen Geschmack und eine sehr angenehme, weiche, aber nicht glibberige Textur. Ich halte das zunächst sogar für einen Pilz. Das Fett dient als Geschmacksverstärker für die intensiven, fleischigen Tomatenaromen und das beherzt gewürzte, sehr zarte und saftige Kalbfleisch. Zu dem lauwarm servierten Ensemble wird eine ganz klassische Vinaigrette serviert, die man ständig nachnehmen kann, und allein das sollte jeden Freund von französischer Küche glücklich stimmen. Zwiebeln und ein paar in Butter ausgebratene Brotkrumen sorgen für weiteren Wohlgeschmack eines Gerichts, das sich durch Umami, Fett und Säure als eines der besten Gerichte dieses Jahres entpuppt. Ein grandioser Auftakt. — 10

Danach probiere ich, ebenfalls als halbe Portion (€ 45), Flusskrebse. Makellose, perfekt gegarte Exemplare dieser seltenen Delikatesse weder bei diesem Gericht mit viel „Grün“ serviert, u. a. Petersilie und Basilikum, sowie mit einer gelben Blüte und einer Art Pesto. Haselnussöl fügt der Komposition eine weitere Geschmacks- und Texturebene hinzu. Es ist ein erstaunliches Gericht, das sich einem erst allmählich offenbart. Die Bitterkeit der Blätter ist anspruchsvoll wie guter Gin, dennoch gehen die Flusskrebse mit ihrem zarten Aroma darin nicht unter. Das Ergebnis ist ein vielschichtiges, komplexes Gericht, das sich mit viel Chlorophyll und anspruchsvoller Bitterkeit bestimmt nicht jedem erschließt. Ich finde es großartig. — 9

Meine Reise durch die Speisekarte geht weiter mit Aal (halbe Portion, € 45), dessen zerbrechliche Filets gebraten wurden, eine für diesen Fisch eher seltene Zubereitungsart. Dazu gibt es halb aufgeschnittenen, mit Butter, Senf und würzigen Brotkrumen gratinierten Trevisano sowie Kräuterbutter, die auf dem warmen Teller in Richtung des Aals zerfließt. Der hohe natürliche Fettgehalt des Aals ist durch das Braten nicht ganz so präsent wie bspw. beim Räuchern, daher ist die Butter, auch als aromatische Unterstützung, sehr passend. Am Gaumen ergibt sich in Summe eine erneut von leichten Bitternoten geprägtes Gericht, das durch die viele Butter aber auch einen etwas altmodischen Anstrich bekommt. Exzellente Produkte und der erfrischende Umgang mit Bitterkeit und naturbelassenen Aromen dominieren jedoch insgesamt diesen sehr guten, aber nicht überragenden Gang. — 8,5

In Erinnerung an ein denkwürdiges Lammgericht, das ich bei Troisgros vor zwei Jahren genossen habe, bestelle ich auch heute Abend Lamm (halbe Portion, € 45). Es entpuppt sich als das gleiche Gericht wie damals, was mich auf den Gedanken bringt, dass es hilfreich sein könnte, Klassiker als solche zu kennzeichnen. Doch auch in diesem Fall wäre meine Wahl nicht anders ausgefallen. Das Rippenstück wurde in Joghurt mariniert, bei niedriger Temperatur perfekt rosa gegart und schließlich mit einem würzigen, knusprigen Kräuter- und Gewürzmantel fertiggebacken. Fernöstliche Aromen aller Art schwirren um das Lamm wie Glühwürmchen; Fernweh, Hitze, und tiefschwarze Sternennächte tauchen in meinen Gedanken auf, während ich mich in dem Gericht verliere wie ein Tourist in der Menge eines orientalischen Gewürzmarkts. Märchenhaft. — 10

Eine exzellente Flasche 1999er Volnay „Clos des Chênes“ von Michel Lafarge (€ 250) passt hierzu wie maßgeschneidert.

Nach einer längeren Pause entscheide ich mich noch für Käse vom Wagen. Meine Auswahl (€ 35) fällt auf Klassiker wie Saint Nectaire, Epoisse, Fourme d’Ambert und weitere Sorten. Sie sind perfekt gereift und temperiert, condiments sind Orangensenf sowie eine Art Chutney mit Aprikose und Paprika. Ein klassischer Hochgenuss.

Ein cremiges, kühles Pré-Dessert in Ei-Optik transportiert Aromen von Grapefruit und Minze. Die Aromen sind gelungen, die Texturen wirken auf mich aber etwas artifiziell. — 7

Als Dessert wähle ich Baba, der hier nicht mit Rum, sondern mit Himbeerschnaps aromatisiert ist. Das steht ihm außergewöhnlich gut, besonders in Kombination mit den roten Waldfrüchten, die à part dazu serviert werden. Die Vanillecreme hat einen perfekten Schmelz, ist nur leicht gesüßt und rundet ein Dessert ab, das auch ich dieser leichten Abwandlung vom Original, welches vor allem Alain Ducasse in seinen Restaurants perfektioniert, nicht weniger als unvergesslich ist. — 10

Nach einem wunderbaren Frühstück am nächsten Morgen (Pasteten! Käse! Wurstwaren! Marmeladen! Warmes Brot! Früchte! Eierspeisen!), das ich wegen meiner bevorstehenden Rückreise leider nur recht hastig zu mir nehmen kann, verlasse ich dieses paradiesische Fleckchen Frankreich mit großem Widerwillen. Ein zweiter, herrlicher Sommertag hätte hervorragend mit Ausflügen in der Region ausgeschmückt werden können ‒ und natürlich mit einem weiteren Essen. Es gibt noch viel zu probieren!

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Le Bois sans Feuilles (→ Website)
Chefs de Cuisine: Michel & César Troisgros
Ort: Ouches, Frankreich
Datum dieses Besuchs: 12.08.2017
Guide Michelin (F 2017): ***
Meine Bewertung dieses Essens (?): 9
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Bois Giroult ‒ im Gemüsegarten von Alain Passard

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Alain Passard ist ein verträumter, charismatischer Küchengott in Weiß, den man irgendwie nicht greifen kann. Wenn man mit ihm spricht, wirkt es immer so, als holte man ihn aus einer anderen Welt zurück. So, als würde er an etwas ganz anderes denken und etwas anderes sehen als wir alle.

„Tu te régales?“ („Lässt du’s dir schmecken?“) fragt mich Passard, als ich kurz aufstehe, um ihm beim Kochen zuzusehen, aber als ich Sekunden später die Antwort zusammenhabe, ist er schon wieder woanders. Sein Arm ist noch auf meiner Schulter, aber seine Gedanken und sein Blick sind bei ein paar Tomaten, die auf einem riesigen gusseisernen Herd auf kleiner Flamme neben Thymianzweigen dahinschmelzen.

Ich bin auf Alain Passards Anwesen „Bois Giroult“ in Buis-sur-Damville in der Haute-Normandie. Das Gut umfasst mehrere Gebäude und einige Hektar Land. 450 Gemüsesorten lässt Passard hier anbauen, zwei bis drei pro Gattung. Der Geschmack der Karotten sei hier ein ganz anderer als der von den Karotten seines anderen Gartens „Gros-Chesnay“, sechzig Kilometer weiter westlich von hier, erklärt sein Gärtner. Das gilt natürlich nicht nur für die Karotten, sondern für alle Gemüse, die Alain Passard hier kultiviert und in seinem Pariser Drei-Sterne-Restaurant auftischt.

Als richtiger Stammgast im L’Arpège darf sich daher vermutlich erst derjenige bezeichnen, der die Herkunft der Zwiebeln des Zwiebelgratins einwandfrei identifizieren kann. Ich war erst zwei Mal in seinem Restaurant, fand als Produktliebhaber beide Essen zwangsweise hervorragend, aber einige Fragezeichen blieben. Es könnte, etwas überspitzt, hinter Fragen stehen wie: Das war es jetzt? Deswegen ist er so berühmt? Drei Sterne und 400 Euro für ein paar Gemüse?

Abschließende Antworten auf diese Fragen suche ich sprichwörtlich bis heute, an diesem etwas regnerischen Tag im August. Essbegeisterte Freunde, die Passard nahestehen, haben dieses außergewöhnliche Ereignis ins Leben gerufen. Knapp über zwanzig Gäste sind angereist. Alain macht das nicht zum ersten Mal, das Haus ist optimal auf den Ansturm von Essverrückten aus aller Welt vorbereitet. Jeder ist nur deshalb hier. Ich treffe Genussmenschen aus New York, Kopenhagen, London, Dubai, Tokio, einige davon wieder; mit vielen tausche ich mich regelmäßig im Internet aus. Der Kreis an „Foodies“ ist klein, man trifft sich in den Metropolen der Welt, begeistert sich für dieselben Dinge. Getupfte Teller mit zig Mikrokomponenten zählen übrigens nicht dazu. Jeder hier am Tisch ist Produktfanatiker bis ins Mark.

So begeistert man sich hier zum Beispiel für die Kisten mit prachtvollen Zutaten (Tomaten, Sellerie, Kräuter, Hummer!), über die traumhafte Feuerstelle aus Edelstahl und Ziegelstein, bei der sich hinten rechts gerade ein saftiger Braten ausruht. Es brutzelt, es duftet, alles beglückt Nase und Auge. Ich habe ja schon öfter das Schlaraffenland als Vergleich bei einem Restaurant herangezogen. Aber das hier ist kein Restaurant. Wir sind mitten auf dem Land, umgeben von großartigen Produkten.

Aus diesen ‒ und mit einer großen Prise geistreicher kulinarischer Kreativität ‒ entwirft Passard in den kommenden Stunden ein beeindruckendes Menü.

Es beginnt mit etwas Gemüse-Hummus aus Basilikum mit Himbeercreme und lila Brokkoli. Jede Zutat schmeckt intensiv, authentisch und befreit von Ballast. Schon dieser kleine Auftakt ist wunderbar. — 8

Ein „heiß-kaltes“ Ei, gefüllt mit einer (etwas zu) flüssigen Kombination von Eigelb, Petersiliencreme und Yuzu bereitet weitere, etwas gemäßigte, Freude. — 7

Es geht weiter mit einem ganzen Gemüsebeet auf dem Teller. Man findet dort hauchdünne Gurkenscheiben, kleine Brokkoliröschen, Beten, gelbe und orange Karotten, eine Erdbeere, Blüten und Kräuter. So extrem puristisch wie das klingt, ist dieses Gericht vollkommen. Jede einzelne dieser Zutaten springt einem aromatisch mitten ins Gesicht. Die Aromen wirken regelrecht überzeichnet. „Normale“ Gemüse duften nicht so und schmecken nicht so. Oder ist alles andere vielleicht unnormal? — 10

Eine Platte mit dünn aufgeschnittenen Ochsenherztomaten wird zwischendurch um den Tisch gereicht. Bestes Olivenöl ergänzt diesen schlichten, aber denkwürdigen Teller ‒ ein Klassiker von Passard ‒, dem ich nichts anderes als meine Höchstnote für unverarbeitet servierte Produkte attestieren kann. — 8

Sensationell ist auch das folgende Gazpacho aus gelben Tomaten. Umami ist der Geschmack der Stunde, und hier ist er ganz konzentriert. Alle Rezeptoren für Glutaminsäure feuern im Akkord und melden meinem Genusszentrum im Hirn fleischigen Wohlgeschmack. Ein paar Frühlingszwiebeln kommen mit einer knackigen Frische zu Wort, und eine Nocke geeister Sahne mit körnigem Senf macht aus dem schlichten Gang ein raffiniertes Meisterwerk, das sich hinter einer eher belanglosen Optik ‒ wie bei einer nichtssagenden Vorspeile aus einer Bankett-Küche ‒ versteckt. Wie sehr die äußeren Werten täuschen können! — 9

Ein Stück Nigiri-Sushi mit Roter Bete und Geranienöl ist der nächste Streich. Ich kenne diese Zubereitung bereits aus Passards Restaurant, aber das heutige Stück ist noch besser. Das shari (der Reis) ist auf japanischem Niveau, mit perfekter Balance zwischen Klebrigkeit und Luftigkeit. Etwas Säure, florale Aromen eines Blütenblatts und das hocharomatische Öl vollenden diesen Gang, der sich handwerklich mit den besten Nigiris Japans messen kann. — 10

Auch der nächste Teller ist auf rätselhafte Art und Weise großartig. Rätselhaft deshalb, weil einem die Zutaten auf den ersten Blick so gewöhnlich vorkommen. Gurke, gelbe Zucchini, Erdbeere, Mozzarella. Aber wie das leuchtet! Und dieser Duft: nach frischer Gurke, Rosenblättern, Pfeffer und Basilikum. Allein dieses Bouquet ist zum Augenschließen. Wäre da nicht dieser plumpe Mozzarella, wäre das eine weitere Höchstnote. — 8,9

Ein Rote-Bete-Tartar, begleitet von hauseigenem Senf, Tomate, Gurke und Kräutern fällt etwas bescheidener aus, wenngleich auch dieser Teller durch die cremige Textur des süßlich-herzhaften Tartars in Kombination mit dem Senf und der Frische der weiteren Gemüse ein Genuss ist. — 7

Bretonischer Hummer kommt ganz aus der Nähe von den Chausey-Inseln und wird ganz schlicht mit Olivenöl und etwas Estragon serviert. So sehr ich mir, allein der Textur wegen, etwas Salz zum Darübersprenkeln wünsche, ist das eine eindrucksvolle Produktdarbietung mit einem perfekt zubereiteten Hummer allererster Güte. — 8

Der zehnte Gang ist eine Tomatenessenz, darin zwei gefüllte Teigtaschen, eine mit Tomate, die andere mit Aubergine, Pinienkernen und Rosmarin ‒ all das schmecke ich zumindest ganz klar heraus. Auch dies ist hervorragend! — 8

Pure Schlichtheit auch beim nächsten Gang: gegrillter Steinbutt, Olivenöl, geschmolzene Tomaten, alles abermals in außergewöhnlichen Qualitäten. — 8

Eines der unvergesslichsten Gerichte dieses Essens folgt, und es ist nicht einfach, die Großartigkeit dieses so simpel anmutenden Tellers in Worte zu fassen. Es geht um ganz einfach gegarte Kartoffeln. Sie sind geviertelt und liegen auf einer Estragoncreme, dazu gibt es noch mehr Estragon sowie Frühlingszwiebeln und Blüten ‒ kein Salz! Als ich die Kartoffeln probiere, wird mir bewusst, dass ich so feine Kartoffeln mit einem so außergewöhnlichen Aroma noch nie probiert habe. Sie sind mild nussig und haben eine angenehme, saftige Textur wie bissfeste Pasta. Zusammen mit den frischen, leicht pikanten Aromen der Kräuter erzeugt das Gericht bei mir sommerliche Assoziationen; klare, aber traumartige Bilder von lauen Abenden irgendwo in Frankreich … — 10

Auberginenkaviar, das weiche Innere der Beerenfrucht, wird beim folgenden Gang mit etwas Schnittlauch und einer weiteren Komponente serviert, die ich nicht notiert habe. Insgesamt etwas weniger beeindruckend. — 6,9

Eine Schüssel makelloser Miesmuscheln überbrückt genussvoll die Zeit zum nächsten Gang. — 8

Huhn, dessen Herkunft ich im Eifer des Festessens nicht mitbekommen habe, ist der saftige, schmackhafte Hauptdarsteller des nächsten Gangs, bei dem die Qualität und Garung überragend ist, die violetten Kartoffeln jedoch zu hart. Wen kümmert’s bei diesem Essen? — 7,5

Drei Stunden nach dem ersten Gang folgt noch ein Stück Kalbskarree bester Qualität mit ein paar geschmolzenen Tomaten. — 8

Ich hätte diesen Gang gar nicht mehr essen dürfen. Google Maps zeigt mir eine äußerst pessimistische Fahrtdauer für meinen Rückweg nach Roissy an. Meine Maschine verpasse ich nur deshalb nicht, weil sie fast vierzig Minuten verspätet ist.

Alain Passards Küche hat mich zutiefst beeindruckt. Je länger ich mich für gute Küche interessiere, je weiter ich reise und je mehr ich probiere, umso klarer lassen sich meine Präferenzen formulieren. Der Anspruch an Qualität und Authentizität steigt, während das Bedürfnis nach Ablenkung davon sich nahezu komplett zurückgezogen hat. Und Passard schafft es, aus den scheinbar einfachsten Zutaten himmlische Gerichte zu kreieren. Dabei bestimmt die Natur eigentlich viel mehr als er selbst, was auf den Teller kommt. Oft lässt Passard die Zutaten einfach nur für sich sprechen. Das ist dann zwar simpel, aber überaus eindrucksvoll, immer schmackhaft und oft eine Referenz für die jeweilige Zutat. Nur wer sich solche Referenzen aneignet, kann Essen realistisch beurteilen. Optisch und handwerklich aufwändig präsentierte Gerichte machen es einem einfach, diese zu loben, aber ich weise oft genug darauf hin, dass die wahren Qualitäten eines Gerichts woanders zu suchen sind.

Wenn Passard dann nicht nur auftischt, sondern auch noch kreativ wird, was er gar nicht immer will, gelingen ihm ausnahmslos kleine Meisterwerke. Diese „Zweischneidigkeit“ ist es, die einem in seinem Restaurant L’Arpège bei einem einmaligen Besuch irritieren kann. Es ist nicht jedes Gericht perfekt. Auch heute nicht. Aber seine Küche in Summe ist es. Jedes Mal ein bisschen mehr. Es lebe das Produkt, es lebe hoch!

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