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Ernst ‒ 23 Jahre, 29 Gänge

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Dylan Watson-Brawn ist ein leiser, bescheiden wirkender Koch, nicht mal Mitte zwanzig und aus Kanada. Seinen Lebenslauf dekorieren bereits Stationen in Kyoto, Tokio, Kopenhagen und New York. Nun hat er ein Restaurant in Berlin eröffnet. Es ist ein Tresenrestaurant mit zwölf Plätzen, die eine offene Küche übers Eck begrenzen. Bevor man auf einem der Stühle Platz nehmen kann, muss man ein Ticket erworben haben (€ 135) und an einer Tür klingeln. Vorhänge in den Fenstern kaschieren den Blick von innen nach außen ‒ und umgekehrt. Man kennt das alles, bis auf die Tickets, schon vom Nobelhart & Schmutzig. Auch die „Private Dinners“ vor der Restauranteröffnung fehlten bei Dylan nicht. Und auch die Idee, extrem regionale Küche zu servieren, klingt zunächst wie der Lebenslauf von Billy Wagners Speiselokal.

Ein großer Unterschied ist allerdings, dass man im Ernst mit Englisch am besten weiterkommt. Die Website und das Reservierungssystem sind auf Englisch, die Rückbestätigung und Nachfrage nach Unverträglichkeiten sind auf Englisch ‒ ich habe auch brav geantwortet, dass one in our party keine pigeon oder undercooked poultry isst ‒, und als ich im Restaurant mit „Hi! Welcome to Ernst. We’re happy to have you!“ begrüßt werde, habe ich Mühe, das nicht affektiert zu finden. Aber Dylan ist nun mal Kanadier und hat unter anderem auch Kanadische Kollegen mit an Bord. Haken dran.

Sprachlich anspruchsvoller wird es, wenn man den Erklärungen der Gerichte folgen möchte. Abgesehen davon, dass nur wenige Gäste einen so speziellen angelsächsischen Gastro-Wortschatz mitbringen dürften, dass sie Zutaten wie Schafgarbe, Kapuzinerkresse und Kartoffelhaut-Dashi auch auf Englisch verstehen, die auch noch sehr leise und nuschelig vortragen werden, muss man sehr viel Geduld aufbringen, bevor man das, was vor einem steht, auch endlich essen darf ‒ ob nun auf Englisch oder Deutsch vorgetragen. Die halbe Lebensgeschichte der oft beim Vornamen genannten Zulieferer, die geologische Beschaffenheit der Böden, in denen jedes einzelne Gemüse gedeiht und die detaillierte Zubereitungsart jedes Gerichts hat man sich anzuhören. Das ist insgesamt eher lehr- als hilfreich, eher störend als genussfördernd. Am Ende des Abends wird man sogar wissen, dass ein gewisser Max die Deckenleuchten entworfen hat.

Eines der größeren Probleme solcher langen Vorträge ist, dass sie den Gast maßregeln. Sie maßregeln ihn dabei, innerhalb der Gesellschaft zu kommunizieren, mit der er im Restaurant ist, und sie maßregeln ihn dabei, zu genießen. Das Essen wird serviert, es sieht ansprechend aus, duftet vielleicht schon appetitanregend, aber man darf es eben noch nicht essen. Man muss erst artig zuhören, selten weniger als zwei Minuten. Das fällt insbesondere deshalb so krass auf, weil das Verspeisen des eigentlichen Gerichts dann selten länger als ein paar Sekunden in Anspruch nimmt ‒ oder wie lange man eben für zwei bis vier Gramm Speise benötigt, die hier einen Gang, grob geschätzt, ausmachen. Man hört hier also deutlich länger jemandem zu als man etwas verspeist. Nach dem zwölften Gang ist das ermüdend, nach dem neunundzwanzigsten eigentlich nicht mehr auszuhalten. Man hat dann ungefähr eine Stunde zugehört und sechs Minuten gegessen.

Man könnte die ausgiebige Warte- und Zuhörzeit natürlich damit verbringen, dem Bacchus eine Ehre zu erweisen. Aber auch diesem hedonistischen Anspruch wird ein Riegel vorgeschoben, denn die ‒ durchaus umfangreiche ‒ Weinkarte liest sich wie eine Zusammenfassung von Rudolf Steiners gesammelten Werken. Naturweine sind hier der Schwerpunkt, also Weine, die zugunsten eines übergeordneten spirituellen Weltbilds und auf Kosten des Geschmacks auf anerkannte und fundierte Techniken im Weinbau verzichten. Dieser Irrweg der Branche bringt gerne trübe, saure Tropfen zutage, zum Beispiel einen völlig untrinkbaren 2014 Nuits-Saint-Georges 1er Cru von der Domaine Prieure Roch für zweihundert Euro. Dieser Wein schmeckt ungefähr so als würde man auf einen Mandelkern beißen. Alles, was guten Pinot Noir seit Jahrhunderten anerkanntermaßen auszeichnet, fehlt bei diesem Wein. Am Ende des Abends stehen mehrere Flaschen auf dem Tisch. Richtig gut fand ich davon keine einzige, einige davon gingen dafür aufs Haus.

Wenn man es dann irgendwie schafft, sich durch dieses Dickicht an Ideologie, Esoterik und Hipstertum durchzuschlagen, kann man endlich einen Blick fürs Essen haben. Und das lohnt sich.

Es beginnt mit einer Zubereitung aus Frischkäse mit puddingartiger Textur in einem grünen Sud mit Fenchel. Geschmack oder Aroma fehlt der hübschen Speise zwar nahezu vollkommen, doch wohnt ihr eine Art japanische Ästhetik inne (sowohl kulinarischer als auch optischer Art), die man erst mal beherrschen muss. — 6

Frische Radieschen, von Dylan persönlich wenige Augenblicke vorher geschnitten – dieses Timing ist ihm wichtig ‒, kommen mit einem säuerlich frischen Dressing mit Holunderblüte. Die knackige Frische ist exzellent, das ist gelungene Produktküche. — 7

Sparsame Abschnitte von gerösteten Frühlingszwiebeln folgen. Aprikose und Sonnenblume spielen in einigen Creme-Tupfern eine Rolle, die geschmacklich interessanterweise an Sesam erinnern. Zusammen mit den Röst- und Räucheraromen schmeckt das überraschend japanisch und äußerst elegant. Die winzige Portion ist jedoch ein Problem. In einem Kaiseki-Arrangement, von denen diese kleinen Speisen vermutlich alle inspiriert sind, ist das etwas anderes, weil man dort ein Dutzend davon parallel verkostet. Die ein, zwei Gramm Essen, die man hier alleine auf dem Teller hat, finde ich etwas aus dem Kontext gerissen. Aus welchem, kann ich noch gar nicht genau sagen. Dennoch: geschmacklich sehr gelungen. — 7,5

Kirschtomaten von exzellenter Qualität mit, unter anderem, einem Sud mit Pfirsich, ergeben eine weitere hervorragende Mini-Speise (7,5); und sizilianischer, sehr gehaltvoller und cremiger Ricotta mit hauchdünnen, leicht knusprigen Kürbisblüten macht ebenfalls Freude (7).

Gegrillte Gurke mit Schafgarbe-Gelee bietet wieder knackig-frischen Spaß wie bei den Radieschen (7,5), und gegrillter Salat mit Petersilie bringt ansprechende Bitterkeit und Frische (7).

Sehr gut bisher. Wenig, aber sehr gut.

Geschichtete Kartoffelchips mit Petersilie sind fein gearbeitet und ebenfalls auf spürbar hohem Niveau (7); gegrillte Shishito-Paprika ist leicht pikant und ein weiterer angenehmer Snack (6,5).

Eine Paste aus eingelegten Ume-Pflaumen sowie Pfirsich ergänzen nachfolgend einen natursüßen Gang mit roter Bete. — 6,9

Minutiöse Abschnitte von Schinken vom Mangalica-Schwein in exzellenter Qualität (7,5) leiten über zu einem warmen „Dashi“ aus ebendiesem Schinken, in dem man gekochte sowie halbgetrocknete Tomaten findet. Sie bereichern den feinen, angenehm salzigen Jus um reichlich Umami und machen diesen Teller zu einem ganz feinen, ausbalancierten Genusserlebnis. Ganz ausgezeichnet. — 8,5

Die nächste Zutat ist eine geröstete Karotte. Sie liegt zerschnitten auf dem Teller (was wegen ihrer schwarzen Farbe recht spektakulär aussieht), stammt aus der Uckermark und ist dort in Quarzsandboden besonders langsam (und behütet) aufgewachsen, was ihr alles ein intensiveres Aroma verleihen soll. Zwei bis drei Stunden wurde sie hier dann noch über Holzkohle gegart. Das Resultat ist ein eindrucksvolles Produkt mit wachsartiger Textur und einem sehr intensiven, leicht süßlichen Karottenaroma. Einzelne Zutaten zu bewerten ist immer eine schwierige Aufgabe, diese hier ist definitiv „besser als sehr gut“, daher 7,5.

Beim nächsten Gang wurde ein sechs Stunden lang gegartes Eigelb mit gebratenem Wirsing kombiniert. Der kleine Snack kombiniert die Cremigkeit des Eigelbs mit den gebrannten Röstnoten des Kohls auf wunderbare Weise. Ein „volles“, feines Geschmackserlebnis, sehr präzise zubereitet. — 8

„Linda“-Kartoffeln mit deutlichem Biss ‒ das ist so gewollt ‒ und einem Zucchini-Jus spielen mit ihrer ambivalenten Textur zwischen roh und gar, der Sud ist süßlich-mild. Ebenfalls exzellent. — 7,5

Lauch mit recht stark gebundenem Kartoffelhaut-„Dashi“ setzt das Prinzip, kleine, spannende Portionen auf hohem Niveau aufzutischen, fort (7), leicht gegarter Spitzkohl mit Sahne ist etwas weniger interessant, wenngleich das Produkt von auffällig guter Qualität ist (6,9).

Ein kleines Stückchen Paprika in herzhaft-süßem Jus schmeckt gut und authentisch, aber das ist schon wirklich sehr krasser Minimalismus. — 6,5

Der nächste Gang ist Chawanmushi, eine Art japanischer Eierstich, der mit Muscheldashi zubereitet wurde, mit Mais und Schnittlauch serviert wird und in einer ganz milden Sojasauce zieht. Das Gericht ist großartig! Zum ersten Mal gibt es in diesem langen Menü ein etwas aufwändigeres und doch schlichtes Gericht mit mehreren, komplex ineinandergreifenden Komponenten. Süße und Salzigkeit sind perfekt aufeinander abgestimmt, die etwas kühlere Temperatur ist ebenfalls optimal. Das ist ein wahrhaftiges, vollständiges und präzise zubereitetes Gericht, das eindrucksvoll demonstriert, in welche Richtung es hier offenbar gehen kann. — 9

Ein Fleischgang besteht aus zwei ganz kleinen Scheiben einer vierzehn Jahre alten Kuh. Das intensive Aroma ist charakteristisch für gereiftes Fleisch von alten Tieren und in dieser Kategorie ganz hervorragend. — 8

Eine interessant zubereitete Tomate bietet exzellenten Umami-Geschmack (7), und der Aal, den ich dramaturgisch jetzt wirklich gutheißen würde, ist leider zu stark geröstet und hat seltsamerweise nur wenig Eigengeschmack (6).

Die „Desserts“ holen mich alle nicht ab, wie immer wenn es eher um Kälte und Säure geht als um Süße und schmeichelnde Aromen.

Eine Himbeertarte ist trotz guten Gebäcks eher mäßig (6); ein Apfelgranité mit Haselnuss ist extrem kalt, aber geschmacklich ganz gut (6,5).

Eine Speise mit Mirabellen spielt gefühlt erneut mit Temperaturen um den absoluten Nullpunkt (6), und ein Kuchen, dessen Zutaten ich nicht notiert habe, ist geschmacklich sehr zurückhaltend (6).

Ein Dessert mit Brombeeren ist puristisch gut (6,9), und ein optisch unscheinbares Eis aus Himbeerblättern mit Matcha-Tee ist überraschend exzellent und erinnert an Matcha-Tee, der zum Abschluss eines Essens in Japan serviert wird (7,5).

Magalitza-Fudge“ ist dann der allerletzte Streich (6,5) dieses bemerkenswerten Menüs.

In Summe war das ein sehr gelungenes und in Deutschland äußerst eigenständiges Essen. Dylan Watson-Brawn schafft es, mit guten Produkten, wenig Ballast und bemerkenswerter Technik sehr präzise und nahezu immer gelungene Geschmacksbilder zu erzeugen. Mitunter wirken die Gerichte japanisch, sind aber wegen ihrer winzigen Portionen und wenigen Zutaten insgesamt schwer einzuordnen. Der extreme Minimalismus kommt auch mit einigen Fallstricken ‒ für Gast und Küche. Zum einen muss man sich erst einmal „leisten“ können, auf so vieles zu verzichten. Das geht in der Regel dann, wenn man ganz außergewöhnliche Zutaten auftischt ‒ sehr gut reicht dafür nicht ‒ und es damit schafft, abgeschlossene Gerichte zu kreieren. Serviert man, wie hier, eine so große Anzahl kleiner Probierportionen entsteht der Eindruck einer Experimentierküche, an der man den Gast teilhaben lässt. Das ist keinesfalls verwerflich. Aber wenn man sich mal ein etwas abgeschlosseneres Gericht aus dieser Küche, wie z. B. das Chawanmushi ansieht, erkennt man sofort, wohin die Reise gehen kann ‒ und vermutlich auch soll. Kaum vorstellbar, was passieren wird, wenn Watson-Brawn irgendwann mal „internationalere“ Zutaten wie feines Meerestier usw. zur Verfügung stünden. Denn ein weiteres dogmatisch regionales Restaurant brauchen wir in Berlin nicht. Laut Dylan möchte er das auch nicht sein, also stehen tatsächlich alle Möglichkeiten offen.

Das zweite Problem dieser kleinen Portionen ist ganz trivialer Art: ich spaziere nach vier Stunden hungrig aus dem Restaurant und freue mich gleich auf die Room-Service-Karte im Hotel. Das darf natürlich nicht sein, aber ich möchte darauf gar nicht so sehr herumreiten; mich hat heute in erster Linie das Essen an sich interessiert.

Watson-Brawn sollte auch überdenken, ob seinem Restaurant dieser ganze esoterische Berliner Überbau gutsteht. Damit meine ich die langen Predigten vor jedem Gericht aus ernsten Gesichtern, die Rudolf-Steiner-Weinkarte und eine Atmosphäre, die ich nicht in erster Linie mit Gastfreundschaft, Spaß und Genuss assoziieren würde.

Irgendjemand hat diesem ziemlich begabten jungen Koch eingeredet, dass man das im hippen Berlin wohl alles gerade so macht. Das ist fürs Erste auch in Ordnung. Die Aufmerksamkeit, die er verdient, ist ihm längst zuteil. Dylan wird es aber irgendwann schaffen, Berlin auch in Berlin hinter sich zu lassen, vor allem, weil er die internationale Erfahrung mitbringt. Dann wird das eine ganz große Sache.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Ernst (→ Website)
Chef de Cuisine: Dylan Watson-Brawn
Ort: Berlin, Deutschland
Datum dieses Besuchs: 09.09.2017
Guide Michelin: noch nicht bewertet
Meine Bewertung dieses Essens (?): 7
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Landhaus Scherrer ‒ auf ein Nierchen

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Emmi Scherrer, Heinz Wehmann und die legendären Vierländer Enten, der äußerst gutbestückte Weinkeller: das Landhaus Scherrer an der Elbchaussee ist eine Hamburger Institution. Ich respektiere das Küchenhandwerk von Heinz Wehmann genauso wie die Beständigkeit des Betriebs.

Es gibt viele Gründe, hier einzukehren, aber auch genauso viele, dies nicht zu tun. Der Gastronomiebetrieb als solcher ist ein einziges gutbürgerliches Restaurant-Klischee. Der Geruch nach Bundeskegelbahn beim Eintreten, die holzvertäfelten Wände, die steifgebügelten weißen Tischdecken und die zum Kegel gefalteten gestärkten Servietten; die langen hohen Kerzen auf dem Tisch, das kleine, bunte Blumengesteck im Glas, die Kellner in Anzug und Krawatte, all das ist so dermaßen spießig, dass es eigentlich kaum noch auszuhalten ist. Es sei denn, man sagt gerne Sätze wie: „Herr Ober, bitte noch ein Pils!“.

Und apropos steif und gutbestückt. Am befremdlichsten, am bizarrsten an diesem ganzen Haus ist die überall verteilte erotische „Kunst“. Auf den Tellern und an den Wänden, vom Speisesaal bis zum WC.

Bei der Fotografie einer mehr als nur kulinarischen Orgie aus den Achtzigerjahren im Foyer mag man ja noch schmunzelnd an Marcello Mastroianni und Philippe Noiret in „Das große Fressen“ denken, aber im WC über den Pissoirs hängen Zeichnungen von halbnackten Jungen und Mädchen, für deren entblößte Unterleibe sich Geflügeltiere zu interessieren scheinen. Was zum Geier …?

Aber davon abgesehen, so gut das eben geht, kocht Heinz Wehmann heute ein spezielles Innereienmenü (€ 159,50), welches er auf Anfrage und vorherige Bestellung zubereitet. Als Freunde mich fragten, ob ich Interesse daran hätte, habe ich sofort eingewilligt, weil sich die Gelegenheit, fein zubereitete Innereien zu genießen, nicht oft bietet. Ich kann gar nicht sagen, ob ich großer Freund von Innereien bin. Es kommt, wie immer, darauf an. Wie bei allen Zutaten überwiegt für mich auch hier der Qualitätsaspekt die Kategorie des Lebensmittels. Ob Obst, Gemüse, Fisch, Fleisch oder Innerei: erst die jeweilige Qualität bestimmt, ob ich irgendetwas gut oder schlecht finde.

Das Menü beginnt mit einem Amuse-Bouche-Teller bestehend aus vier Kleinigkeiten. Ein geräuchertes Kabeljaubäckchen ist trotz einer schaumigen Buttersauce etwas trocken (6,5); ein kaltes Tomatensüppchen ist einwandfrei zubereitet (6,9) und fast so gut abgeschmeckt wie ein geschmacklich noch intensiveres Tomatensorbet (7). Eine Praline mit Gänseleberterrine schmeckt angenehm nach Sherry, vermutlich von dem Gel obendrauf (7).

Der erste Gang des Menüs ist eine klare Mockturtlesuppe mit Stückchen vom Kalbsbauch sowie Markschnittchen und Petersilie. Die Suppe überzeugt mit makellosem Handwerk, ist durch die ausgekochten Knochen schön klebrig an den Lippen, ihr Aroma ist würzig, und die Fleisch- und Brot-Einlagen sind ebenfalls sehr gut. In einem solchen Gericht steckt viel Arbeit, das schmeckt man mit jedem Löffel. — 7

Gang zwei sind Kutteln à la crème mit Pfifferlingen. Die Kutteln ‒ in kleine Streifen geschnittener Pansen vom Kalb ‒ sind ganz zart gekocht und mit einer säuerlich frischen und gut gesalzenen Creme sowie Kapern verarbeitet. Dazu gibt es kleine, exzellent gebratene Pfifferlinge und etwas Kresse. Das schmeckt sehr gut, und auch hier kann sich das Handwerk sehen lassen. — 7

Der nächste Gang wird optisch etwas expliziter und passt damit zum frivolen Ambiente des Hauses. Es gibt sanft gegarte Zickleinzunge und Kalbszunge, letztere frittiert. Dazu kommen Graupen, einige Gemüse und eine schaumige Sauce. Die Kalbszunge ist durch das Frittieren ein eher unkomplizierter Genuss, bei dem Zicklein ist das Erlebnis etwas fordernder. Die Zunge hat eine feste, dichte, dennoch sehr zarte Textur und schmeckt etwas „stallig“. Mit den anderen Komponenten auf dem Teller gibt es aber ausreichend Abwechslung, um das Kopfkino zu bändigen. Erneut gutes Handwerk, aber geschmacklich etwas unauffällig. — 6,9

Als nächstes wird eine Kalbsleber im Ganzen am Tisch tranchiert. Wehmann selbst lässt sich dieses Vergnügen nicht nehmen, pfeffert das sichtlich perfekt gebratene Stück Leber etwas und schneidet fingerdicke Tranchen davon ab. Die Scheibe wird auf dem Teller etwas mit Meersalz bestreut, schmeckt exzellent und wird von süßen Kirsch-Condiments und Lakritzschaum begleitet, was ähnlich hervorragend zur Kalbsleber passt wie süße Komponenten zu Foie Gras. Einen klassischen Bratenjus gibt es ebenfalls dazu. Sehr gut. — 7

Der fünfte Gang hat Kalbshirn (frittiert) und Kalbsbries (sautiert) als Hauptzutaten, dazu gibt es violetten Brokkoli, Erbsensprossen sowie dunkle und helle Saucen. Das Frittieren der fragilen Zutat Hirn bringt zwar eine abwechslungsreiche knusprige Textur ins Spiel, verschleiert jedoch den Geschmack und die Textur der eigentlichen Zutat. So ist der Teller mit seinen vielen Komponenten ein etwas zu großes „Durcheinander“. — 6,5

Den nächsten Teller ziert ein an beiden Seiten abgesägter Rinderknochen, der senkrecht auf dem Teller steht. Eine Teigkruste verschließt den Knochen unten, auf seiner Oberseite liegt ein knusprig gerösteter Brotchip mit Tartar, Crème fraîche und einer großen Nocke Kaviar. Der Inhalt des Knochens, der vom Service auf den Teller entleert wird, ist ein heißes, schlotziges und exzellent gewürztes Ragout aus Schwarzfederhuhnleber und Kalbskopf. Wohlschmeckende Dekadenz, Hitze, Salz, Frische und vieles mehr macht diese Kreation zu einem hervorragenden, zugänglichen Gaumenschmaus. — 8

Lunge süßsauer“ schlägt eine andere Richtung ein. Das zarte Stück Lunge, ich glaube, vom Kalb, wird hier auf einem sehr aromatischen Tomatenkompott serviert, Basilikum und Estragon lassen das Gericht italienisch erscheinen. Eine Leichte Schärfe überrascht dazu angenehm. Leicht, „tomatig“, sommerlich. — 7

Das kurzweilige Menü fährt fort mit Kalbsniere, die, ummantelt von ihrem eigenen Fett, auf der heißen Steinplatte eines Tranchierwagens hörbar brutzelt. Auch olfaktorisch nimmt man die Niere naturgemäß war. Das leicht stechende Aroma ist für mich nicht das angenehmste, aber das heiße, brutzelnde Fett, die Röststoffe und der Rosmarin machen Appetit. Auf dem Teller wird das Stück Niere von einer hellen, mit Butter aufgeschäumten Sauce sowie Spinat und Senfkörnern begleitet. Niere zählt tatsächlich nicht zu meinen Lieblingszutaten, aber diese ist beispielhaft zubereitet. Es ist ein geschmacklich intensives und recht schweres Gericht, das abermals durch eine präzise Zubereitung aller Komponenten und exzellente Qualität überzeugt. — 7

Beim Dessert bleibt man klassisch. Die zwei weißlichen Kugeln auf dem Teller sind nicht etwa frittierte Lammaugen, sondern Topfenknödel, die dunkelrote Komponente hat nichts mit Blutwurst zu tun, sondern mit Blaubeeren. Dazu gibt es Vanilleeis. Solide. — 6,9

Das Menü hat bei mir in Summe einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Obwohl es keine kulinarische Offenbarung war, ist der Umgang mit Zutaten, denen man sonst eher selten begegnet, bemerkenswert und interessant. Ich nehm‘ dann noch ein kleines Nierchen, Herr Ober.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Landhaus Scherrer (→ Website)
Chef de Cuisine: Heinz Wehmann
Ort: Hamburg, Deutschland
Datum dieses Besuchs: 17.07.2017
Guide Michelin (D 2017): *
Meine Bewertung dieses Essens (?): 7
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Sébastien Bras vs. Guide Michelin

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Sébastien Bras, der zusammen mit seinem Vater Michel das berühmte, inzwischen Le Suquet genannte Restaurant im französischen Laguiole führt (siehe auch meinen Bericht von 2012), hat im September in einem Facebook-Video angekündigt, künftig auf die drei Michelin-Sterne verzichten zu wollen, die das Restaurant seit 1999 auszeichnen ‒ oder, genauer, vom Michelin künftig nicht mehr in dem berühmten roten Restaurantführer empfohlen zu werden. Als Gründe führt er unter anderem eine diffuse Sorge an, dass jeder einzelne der fünfhundert Teller, die die Küche täglich verlassen, theoretisch von einem Michelin-Inspektor inspiziert werden könnte und, so hört man aus seinen Aussagen heraus, es sich ohne das Korsett des Guide Michelin befreiter und kreativer kochen ließe.

Diese Äußerungen haben sich in den Medien wie ein Strohfeuer verbreitet, in erster Linie natürlich wegen der Berühmtheit der Familie Bras und deren Restaurant, aber auch, weil sie einige der einschlägigsten Debatten und Klischees befeuern, die rund um den Guide Michelin regelmäßig an die Oberfläche schwappen.

Mit Titeln wie „Starkoch verzichtet auf Michelin-Sterne“ („Der Spiegel“), „Sébastien Bras gibt Sterne zurück“ (gastronews.com) oder „Starkoch will frei sein – und seine Sterne abgeben“ („Die Welt“) beweisen die deutschen Medien jahraus, jahrein, dass sie noch immer nicht verstanden haben, dass man Sterne nicht zurückgeben kann wie eine Trophäe, und disqualifizieren sich damit schon in der ersten Zeile für eine sachliche Auseinandersetzung mit diesem Thema. Interessanterweise texten ausländische Medien bereits hier spezifischer: „Acclaimed French chef asks to be stripped of three Michelin stars” („The Guardian”), oder „Sébastien Bras renonce à figurer au guide Michelin“ („Le Monde“) machen zumindest schon mal deutlich, dass die Entscheidung dieses Themas nicht in der Hand von Sébastien Bras liegt. Besonders unaufgeklärte und unsensible Medien ziehen bei dem Thema noch die tragischen Tode von Bernard Loiseau und Benoît Violier aus der Konserve als ließe sich das zweifellos sehr anstrengende Leben berühmter Küche auf einen Restaurantführer reduzieren. Das ist taktlos, stellt andere Probleme, die diese Menschen ganz offensichtlich hatten, in den Hintergrund, und klingt in diesem aktuellen Kontext so als wäre der Freitod das nächste unausweichliche Übel, das Sébastien Bras erwarten wird, wenn ein berühmter Restaurantführer nicht endlich darauf verzichtet, seine Küche als eine der besten der Welt auszuzeichnen. Wie absurd.

Überhaupt sollte man bei der ganzen Thematik um Sébastien Bras den Ball flach halten. Ein Koch bittet also darum, dass sein Restaurant aus einem Restaurantführer gestrichen wird. Das bedeutet zunächst einmal nichts anderes, als dass er darum bittet, dass der Guide Michelin in seiner kommenden Ausgabe für Frankreich, die vermutlich im Februar 2018 erscheint, nicht mehr aufgeführt wird. Da der Guide Michelin allerdings ein Reiseführer für Gäste ist ‒ die aktuelle Ausgabe für Frankreich steht derzeit für € 29,95 im Buchhandel in den Regalen ‒, wäre eine solche Streichung mehr als sinnwidrig. Restaurants, die der Guide Michelin nicht in seinen Büchern aufführt, gelten grundsätzlich als „nicht empfohlen“, oder sind noch zu neu, um es in den Führer geschafft zu haben, oder haben ihre baldige Schließung angekündigt. All das trifft auf das Restaurant von Bras nicht zu, und die Kategorie „nicht aufgeführt, aber trotzdem empfehlenswert“ gibt es ‒ bisher ‒ nicht. Ließe sich der Guide Michelin auf die Bitte Bras ein, hätte der prinzipientreue Restaurantführer einen immensen Erklärungsbedarf bei seiner Leserschaft. Die Glaubwürdigkeit würde stark verwässern, weil man dann offiziell zugeben würde, sich von Köchen beeinflussen zu lassen, was ja von einer breiten Öffentlichkeit ohnehin gerne kolportiert wird. Und als ernsthaft interessierter Leser wüsste man gar nicht mehr, welche Selektion der Michelin bei der Auswahl seiner Restaurants tatsächlich betreibt. Bisher war dies eine Frage der Qualität der Küche, auf die man sich ‒ mit etwas Erfahrung ‒ ziemlich gut verlassen konnte. Fehlt das Restaurant von Bras in der kommenden Ausgabe tatsächlich, wird der Michelin zu einem löchrigen Schweizer Käse. Leser müssten dann mehr als bisher auf andere Quellen ausweichen, um „das ganze Bild“ einer Region zu erhalten. Es wäre ein Genickschuss für den ehrenwerten Führer.

Was Bras betrifft, finde ich seine Bitte in mehrerlei Hinsicht befremdlich. Zum einen gibt er zu, eine Küche zu betreiben, die auf irgendwelche angebliche Vorlieben von Michelin-Testern abzielt. Warum sonst sollte er sich in seiner Kreativität eingeschränkt fühlen? Niemand, wirklich niemand, hält Bras davon ab, so zu kochen wie er es für richtig hält. Der Michelin hat ja gerade keinen Kriterienkatalog für seine Sterne-Auszeichnungen. Hätte ich in nächster Zeit eine Reservierung bei Bras, fühlte ich mich angesichts dieses ganzen Themas ziemlich düpiert. Ich möchte keine Küche für Tester essen, sondern eine Küche für mich als Gast.

Alain Passard betrieb mit seinem Restaurant Arpège jahrelang eine der berühmtesten Rôtisserien von Paris. Er hatte also ein dreifach besterntes Fleischrestaurant. Als er sich dazu entschloss, irgendwann den Fokus radikal auf Gemüse zu verschieben, haben ihn viele schräg angesehen und einen Rückgang seiner Bewertung vorausgesagt. Passard war das egal. Er hat souverän und nach seiner Überzeugung weitergekocht ‒ und die drei Sterne behalten. Ich zähle ihn bis heute zu einem der kreativsten Köche unserer Zeit.

Wenn Sébastien Bras weniger Beachtung durch wichtige Restaurantführer wünscht, fragt man sich, warum er eingewilligt hat, einen ganzen Spielfilm über sein Restaurant drehen zu lassen („Entre les Bras“, 2011) oder den Zirkus der World’s 50 Best Restaurants insofern zu unterstützen als auf einschlägigen internationalen Koch-Events aufzutauchen anstatt sich in Ruhe um die Kreativität in seiner Küche zu kümmern, die er sich so sehr wünscht. Und ob wohl derzeit die rote Michelin-Plakette das Haus in Laguiole ziert?

Der Guide Michelin sollte nicht einmal darüber nachdenken, das Restaurant aus dem Guide Rouge zu streichen. Im Gegenteil, die Inspektoren sollten die Chance dieser Anfrage nutzen, um in diesem Jahr genauer denn je auf die Teller des Restaurants zu schauen. Aus einigen vertrauenswürdigen Quellen habe ich bereits gehört, dass die Küche dort in letzter Zeit etwas ins Schwanken geraten sei. Vielleicht wäre eine Abwertung auf zwei Sterne ja eine angemessene Reaktion auf Bras’ Anfrage. Wir Gäste wüssten dann zumindest, was Sache ist und dass sich der Michelin genauso wenig in sein Handwerk pfuschen lässt wie Bras es sich vom Michelin tun sollte.

Le Petit Nice – nachgeeicht

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Vor fünf Jahren kam ich im Le Petit Nice in den Genuss einiger der für mich einprägsamsten Fischqualitäten. Eine Frische, zu deren genauerer Beschreibung am ehesten Attribute wie Klarheit und Reinheit passen, serviert unter dem Einfluss des azurblauen Lichts des Mittelmeers, brachte mich zur Wortschöpfung „Eichspeise“ und verlangte irgendwann nach einer Wiederholung.

Mein Anspruch bei einer Reise zu einer Restaurant-Institution wie dieser ‒ das Haus feiert gerade sein hundertjähriges Bestehen ‒ ist dann weniger, Neues zu entdecken, als vielmehr Gerichte, die mich bis zum heutigen Tag geprägt haben und von denen ich regelmäßig erzähle als hätte ich sie erst gestern genossen, erneut zu probieren. Dabei ist mir das Risiko bewusst, dass ich es bei diesem Mal ein bisschen anders empfinde (durch gewachsene Erfahrung) oder das Gericht heute tatsächlich eine Nuance „schlechter“ ist, die Hervorragendes von Denkwürdigem unterscheidet. Ich werde das gleich herausfinden.

Ein bisschen trübt der Service heute von Anfang an den Aufenthalt. Ich bin niemand, der penibel auf vermeintliche Fehler achtet und daran herummäkelt. Es geht mir in Summe um eine Grundeinstellung des Servicepersonals in einem solchen Haus. Gutes Personal, entgegen des oft kolportierten Sprichworts, erfüllt einem Gast nicht einfach alle Wünsche. Wirklich gutes Personal „holt den Gast ab“, versteht seine Präferenzen, ist dabei souverän, freundlich und authentisch. Ein gutes Beispiel dafür, in welcher Situation ich solche Attribute schätze, ist beispielsweise, dass ich bei einer Auswahl von Gerichten à la carte oft keine abschließende Auswahl treffen kann oder möchte, sondern lediglich meine Präferenzen eingrenze. Ich sage oft: „Mich interessieren besonders diese und jene Gänge, allerdings wäre das sicherlich zu viel …“. Gutes Personal hilft einem in einer solchen Situation ungefragt aus der Bredouille und kümmert sich um Portionsgrößen, Reihenfolgen, zeitliche Abläufe und die endgültige Auswahl entweder ganz von selbst oder weist den Gast souverän und mit fundiertem Wissen über die Gerichte in die richtige Richtung.

Wenn man diese und weitere Kriterien zugrunde legt, ist an diesem Abend kein gutes Personal im Le Petit Nice tätig. Unsere A-la-carte-Auswahl – wir sind zu viert ‒ wird von der Servicekraft in etwa so freudig entgegengenommen als würden wir ihr etwas Kompliziertes diktieren. Einen Dialog suche ich mit der Dame vergeblich, wohlbemerkt in ihrer Muttersprache. Bei vielen Gängen verdreht sie die Augen und muss in die Küche laufen, um irgendetwas nachzufragen. Das ist besonders deshalb so skurril, weil der einzige Sonderwunsch, nach dem ich mich erkundige, derjenige ist, dass wir gerne einen Gang Bouillabaisse probieren würden, wohl wissend, dass das eigentlich ein ganzes Menü ist. Nach weiterer Rücksprache mit der Küche geht das auch in Ordnung. Man würde uns dann aus dem Bouillabaisse-Menü nur den Suppengang servieren. Genauso hatte ich mir das vorstellt, bin aber zu diesem Zeitpunkt noch ahnungslos darüber, dass sie das mit dem Suppengang wirklich wörtlich meint. Letztlich steht aber die Bestellung, und die Dame aus dem Service hat es irgendwie geschafft, dass ich mich regelrecht schuldig fühle, hier zu essen.

Und apropos gutem Service. Auch die Terrasse meines Zimmers, eine wunderschöne Ecksuite hinaus zum Meer, hätte man ja vorher mal von vertrocknetem Vogelkot befreien können, zumindest auf den Sitzmöbeln. Aber dies nur am Rande. Schon letztes Mal schrieb ich, dass im Hause Passedat „der Charme bröckelt“. Dagegen hat bisher ganz offensichtlich niemand etwas getan. Es leuchtet mir ein, dass es nicht ganz einfach ist, gegen die fortwährende Belastung durch Gezeiten, Möven und Tauben anzuputzen, aber wenn die Plaketten der fünf Hotelsterne, der „Relais & Châteaux“-Mitgliedschaft und der drei Michelin-Sterne das einzige sind, was hier am Haus blitzt, dann bekommt Nachlässigkeit eine ganz eigene Dimension. Man verlässt das Haus immerhin mit einer saftigen Rechnung.

Als Snacks zum Aperitif gibt es einen kurzweiligen Vorgeschmack auf die Schätze aus dem Meer, die einen hier im Restaurant erwarten. Ein Stück sehr zart gegarter Tintentfisch wird auf einem Chip serviert und erhält durch eine Garung in Rinderjus ein besonders intensives Aroma; ein überfrisches Stück roher Bonito begeistert mit Basilikum und einem jodig-salzigen Schaum; gegrillte Aubergine mit Kaviar weist ansprechende Röstnoten auf; und zwei große, flache Gebilde entpuppen sich als unterschiedlich verarbeitete Häute von Seebrasse bzw. Rotbarbe und bieten salzigen Knabberspaß. Alles in allem ein exzellenter, frischer Auftakt, der aber an einigen Stellen noch etwas mehr Perfektion vertragen könnte, um großartig zu sein. — 8

Ein weiterer Auftakt ist ein (offenbar nur zu optischen Zwecken) in ein Feigenblatt eingerolltes Stück rohe Makrele von herausragender Produktqualität, das mit Sumach gewürzt ist, was man seltsamerweise nicht sieht, aber durch eine reizvoll exotische Säure umso mehr schmecken kann. Etwas Koriander komplettiert diesen durchaus merkwürdig präsentierten, aber hervorragenden Snack. — 8

Das letzte Amuse-Bouche ist eine optisch verschwommene Kreation in verschiedenen gelblichen bis roten Farbtönen, hinter denen sich dünne Scheiben von Seebrasse und Tomate unter einer Schicht Tomatengel verstecken. Anstatt hier die Zutaten für sich sprechen zu lassen, verschiebt die Verwendung von Mandelöl das Gericht leider in eine seltsam artifiziell schmeckende Amaretto-Marzipan-Richtung, die die feinen Aromen der anderen Zutaten unter sich begräbt. Die Qualitäten der Produkte sind anhand der Happen, die man ohne das Öl erwischt, erkennbar exzellent, aber der penetrante Geschmack dominiert das Gericht. — 6,5

Meine erste Vorspeise hört auf „Le Poisson de Roche“ (€ 95) und besteht überwiegend aus Großem Rotem Drachenkopf (rascasse), eine in lebendigem Zustand mindestens so auffällig wie dieser Teller aussehende Fischart aus der Region. Der Fisch ist roh aufgeschnitten und wird mit Meerfenchel, Algen und einem „jodierten Gel“ serviert, dessen Zubereitung auf Basis von eingekochten Fischknochen und Weißwein sich über mehrere Monate hinzieht und hierdurch einen intensiven Geschmack entwickelt. Der Fisch schmeckt dabei transparent und klar, fast flüchtig, und dient als angenehmer Texturmitspieler in dem von Frische und jodig-salzigen Meer-Aromen dominierten Gericht. Hervorragend, aber ein paar ‒ entscheidende ‒ Grad zu warm aufgetischt. — 8

Anschließend probiere ich „La Caravane“ (€ 100), ein Gericht mit kleingezupften Stückchen geräucherter regionaler Fische, u. a. Seebrasse, die zu einer Halbkugel geformt sind. Diese ist mit leicht knusprigem Bottarga gespickt sowie mit Kaviar dekoriert, Letzterer steht auch noch mal separat zum Nachnehmen daneben. Eine helle Sauce wird dazu noch angegossen. Dieses Gericht spielt gekonnt mit Räuchernoten und Salzgeschmack, und die Frische des Fischs dient auch hier als raffiniertes Bindeglied zwischen allen Komponenten. Trotz der hervorragenden Produkte empfinde ich die große Portion als recht monoton und die abermals eher zimmerwarme Temperatur des Gerichts auf hohem Niveau als verbesserungsfähig. — 8

Der „Loup Lucie Passedat“ (€ 120), benannt nach Passedats Großmutter, ist einer der absoluten Klassiker der französischen Spitzenküche. Die Streifen von Zucchini und Gurke, die das dicke Filet vom Wolfsbarsch nebst einer runden Trüffelscheibe schmücken, sind das optische Markenzeichen dieses simplen, aber eindringlichen Gerichts. Durch behutsame Dampfgarung über einem mit Gemüsen aromatisierten Fischfond sind die Filets bemerkenswert saftig und wohlschmeckend. Unterstützt werden diese Aromen von der Saucenbasis auf dem Teller, die sich aus viel gutem Olivenöl und mediterranen Gemüsen und Kräutern zusammensetzt, vorwiegend Tomate, Zitrone, Fenchel, Basilikum und Koriander, wobei jede einzelne Zutat herauszuschmecken ist. Wer sich in die Klarheit und den unverfälschten Geschmack der französischen Mittelmeerküche zum ersten Mal oder erneut verlieben möchte, für den ist dieses zeitlose, kanonische Gericht ein sicherer Treffer. Ganz wundervoll. — 10

Ein Salbeisorbet danach ist frisch und leicht bitter, sehr ansprechend. — 7

Dann wird ein Teller Suppe aufgetischt, eine raumfüllend duftende, hervorragende Fischsuppe, ohne jeden Zweifel. Aber eben nur diese Suppe. Und jetzt dämmert es mir allmählich, was die Dame, die am Anfang unsere Bestellung entgegennahm, mit „Suppengang“ meinte. Es ist ihr nicht übel zu nehmen, dass sie sich präzise ausdrückt. Allerdings war es völlig unmissverständlich, was wir an dieser Stelle des Menüs eigentlich essen wollten, nämlich eine Bouillabaisse. Dazu gehören zumindest ein paar Fische. Nach einiger Diskussion, die es in der Art, wie sie gerade von Seiten des Personals stattfindet, nicht in einem gehobenen Restaurant geben sollte, wird die (köstliche) Suppe (ich habe sie kurz probiert) wieder abgeräumt.

Lange Wartezeit später – das muss jetzt so sein ‒ gibt es das volle Programm. Verschiedene kleine Fischfilets auf einem separaten Teller erfreuen mein kulinarisches Auge mehr als jeder aufwändig dekorierte Teller. Die Fische, u. a. Seebrasse und Rotbarbe, schmecken herrlich, und garen in der erneut hervorragenden Fischsuppe sanft nach, ohne dabei ihren Gargrad nachteilig zu verändern. Sie saugen sich voll mit dem ätherischen, nach Safran und Krustentierfond duftenden Elixir und machen diese Suppe zu einer der besten Fischsuppen, die man sich vorstellen kann. Durch die herausragenden Fischqualitäten, die bis in die Suppe hineinverarbeitet sind, wird aus einem gutbürgerlichen Gericht ein absoluter, unvergesslicher Spitzenteller (€ 90). — 10

Eine Bouillabaisse aus diesem Haus eignet sich übrigens gut als eines von vielen Beispielen, wie unterschiedlich das Verständnis von Spitzenküche in Frankreich zu dem in Deutschland ist. Spitzenküche ist eben zunächst einfach nur die Perfektionierung bekannter Gerichte und Zutaten, die man durchaus auch zu Hause zubereiten würde, nur eben auf einem professionellen und qualitativ viel höheren Niveau. Man geht in ein Spitzenrestaurant, um dort eben eine ganz besonders hervorragende Bouillabaisse zu essen. Bei uns identifiziert man ein Spitzenrestaurant immer noch gerne damit, dass man dort etwas völlig anderes als zu Hause serviert. Auch Letzteres ist vollkommen legitim und auch in Frankreich üblich, aber die erstgenannte Brücke und damit das Verständnis, was eine Spitzenküche bedeutet, wurde bei uns nie geschlagen.

Für ein Dessert ist jetzt kein Platz mehr, und ein Tisch mit einer zwölfköpfigen, rein männlichen Tischgesellschaft, die feuchtfröhlich feiert, hat den Lautstärkepegel inzwischen auch auf ein weniger entspanntes Maß angehoben. Heiter ist gut, grölend ist nervig, und eine Flucht an die „Bar“ genannte depressive Sitzecke in einem Vorraum bietet die einzige Möglichkeit für eine Flucht, um den Abend in Ruhe ausklingen zu lassen. Schade, dass man „ein Glas Champagner“ dann noch mal dreist mit vierzig Euro abkassiert.

Service und Ambiente beiseite ‒ es war gut, wieder hier zu sein. Die Referenzqualitäten der Fischgerichte haben sich bestätigt, und ich habe sie ‒ vor allem in ihren jeweiligen Zubereitungsarten ‒ spürbar vermisst. Die französische Mittelmeerküste ist eine schroffe Gegend. Felsig, mit Steinstränden und vielen Bausünden. Aber es gibt unzählige Perlen. Dieses Haus ist bei weitem keine makellose Perle, aber die einmaligen Fischgerichte von Gérald Passedat sind es allemal.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Le Petit Nice (→ Website)
Chef de Cuisine: Gérald Passedat
Ort: Marseille, Frankreich
Datum dieses Besuchs: 01.10.2017
Guide Michelin (F 2017): ***
Meine Bewertung dieses Essens (?): 8,5
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Jean-Georges ‒ dafür steht er mit seinem Namen

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Mit seinem Namen für etwas zu bürgen darf man als Garantie verstehen, dass jemand persönlich hinter der Sache steht, so wie Claus Hipp hinter seinem Babybrei. Es wäre aber voreilig, sich auf diese Garantie zu verlassen, zumindest im Fall des Flaggschiffrestaurants des französischen Gastro-Moguls und Wahl-New-Yorkers Jean-Georges Vongerichten, der allein in dieser Stadt dreizehn Restaurants betreibt. Die meisten davon beruhen eher auf legeren, trendigen Konzepten wie z. B. die ABC-Reihe oder das Mercer Kitchen.

Das Fine-Dining-Restaurant, untergebracht am Central Park im Trump International Hotel and Tower ist eine Ikone in New York, hält hohe Weihen in diversen Gastro-Führern und dient nicht nur in Fernsehserien und Filmen gerne als Kulisse für exklusive Essen einer noch exklusiveren Upper-East-Side-Klientel. Bei vielen privaten Essbegeisterten außerhalb dieser Kreise steht das Restaurant dagegen nicht hoch im Kurs. Einen Besuch dort vor vielen Jahren (und noch ohne Blog) habe ich kaum in Erinnerung, Negatives blieb allerdings auch nicht hängen.

Heute Abend fühle ich dem Restaurant also wieder auf den Zahn, leicht vom Jetlag umnachtet, dafür jedoch bewaffnet mit Appetit, Lust auf New Yorks schillernde Restaurantszene und einem deutlich umfangreicheren Erfahrungsschatz.

Das Restaurant ist ausgebucht, überall schwirrt Personal umher. Im Nachbarrestaurant Nougatine ergibt sich dasselbe Bild. Ich versacke etwas zu tief in einer der Sitzbänke und stöbere in der Karte. Diese hält verschiedene Menüs bereit, die für amerikanische Drei-Sterne-Verhältnisse moderat budgetiert sind (z. B. drei Gänge prix fixe für umgerechnet € 138 oder zwei umfangreichere Menüs für jeweils € 222). Man ist insgesamt flexibel, ich wähle mehrere Gänge aus der Prix-Fixe-Karte.

Die Weinkarte ist anstrengend umfangreich. Hauptsächlich gibt es hier die großen Gewächse aus Bordeaux, Burgund und Kalifornien. Wer hier nicht aus Gewohnheit zum Romanée-Conti-Abschnitt blättert, ist gut darin beraten, schon vorher in der Karte zu stöbern, die, wie bei vielen Restaurants in den USA, auch online einsehbar ist.

Nach einem offenen Glas Chablis Premier Cru (Erzeuger nicht notiert, € 20), begleitet mein Menü eine Flasche 2007 Château Malartic-Lagravière blanc aus Bordeaux (€ 206, aktueller Marktpreis ca. € 56).

Amuse-bouches gelangen auf einem Teller an den Tisch, der bereits optisch nicht allzu viel Großartigkeit vermuten lässt. Und in der Tat, eine Art Gazpacho schmeckt eher nach einer soliden Tomatenbasis für Pizza (6,5), ein zylinderförmiges Stück Räucherlachs auf einer Creme mit Sonnenblumenkernen offenbart nicht mehr als eine gute Fischqualität (6,5), und ein Stück frittierte Aubergine mit einem trockenen, schwitzenden Parmesanabschnitt obenauf (6) ist der letzte Zeuge eines insgesamt lieblos und in Massen vorbereiteten Vorspeisetellers auf dem Niveau von Catering-Häppchen für eine Stehparty beim Autohändler. Da habe ich eigentlich gleich schon Lust, aufzustehen und woanders einzukehren.

Mein erstes gewähltes Gericht ist eine Komposition aus einem Stück überraschend guter, gehaltvoller Forelle von leuchtend-frischer Farbe, dazu Forellenrogen, Olivenöl-Zitrone-Schaum, Dillpüree und Rettich. Die Komposition „funktioniert“ sehr gut, die bemerkenswerte Qualität von Fisch und Rogen, die vom ätherischen Dillaroma und der Zitronensäure flankiert wird, gefällt mir gut. Aber auch dieses Gericht kann sich von dem „vorbereiteten“ Eindruck nicht befreien, was es nicht schlechter macht, aber liebloser. Dennoch hervorragend. — 8,5

Auf der sicheren Seite war ich mit meiner folgenden Wahl. Seeigel aus Santa Barbara sind von vorzüglicher Qualität, leicht jodig und mit einem ganzen Ozean an Meeresfrische. Yuzu und Jalapeno bereichern die kleinen Fingersnacks mit blumiger Säure und fruchtiger Schärfe. Das Servieren auf Schwarzbrot bringt einen angenehmen, malzigen Kontrast. Das könnte ich den ganzen Abend so weiteressen. — 8,9

Kalbsbries „süßsauer“ kommt dann vermutlich aus dem Vakuumbeutel und wurde nur unzureichend nachgeröstet. Die dadurch etwas fade und von der Textur her leicht gummiartige Zutat wird in einer von der Idee her ansprechend süßsäuerlichen Sauce auf Kalbsfondbasis serviert, in der jedoch ein bisschen zu viel Essig Verwendung findet. Das macht sie recht bissig, was aber wiederum gut zu dem kleinen Salat mit Waldpilzen und Pistazie passt. Trotz der kleinen Mängel hat man hier einen durchaus ansprechenden Teller vor sich. — 7,5

Beim ersten Hauptgang mit dry-aged Prime Ribeye, pochiertem Winterrettich sowie seltsam mit Senf an den Tellerrand geklebtem Grünkohl ist der Rettich das einzige Highlight. Das Fleisch offenbart seine unerwünschten Attribute bereits bei kurzer Berührung mit dem Messer: es ist trocken und zäh, das Fett dazwischen verbrannt und überschüssig. Eines der Stücke ist dazu noch sehnig, was insgesamt alles auf eine minderwertige Fleischqualität schließen lässt. Das Gericht geht zurück in die Küche. — 5

Lammkoteletts, ebenfalls am Tisch, sind eine ähnliche Farce. Außen sehr stark geröstet, innen gräulich durchgegart. Auf dem Teller findet man dazu noch weichgekochten Knollensellerie und Babyfenchel, beides so zerkocht als hätte man die Gemüse direkt aus dem Saucenfond gefischt ‒ dem Fond für ein anderes Gericht allerdings, denn hier ist eine rote Currysauce auf dem Teller. Sie kann das katastrophale Gericht, das jedem Kochanfänger zu Hause besser gelingen dürfte, auch nicht retten. Auch dieser Teller wandert in die Küche zurück. — 5

Ersatz wünsche ich nicht, probiere aber noch von zwei Desserts, einer kuhfladenförmigen, unappetitlich stabilisierten Mousse au chocolat mit, unter anderem, wässrigem Minzeis (5), sowie ein Schwarzwälder-Kirsch-Dessert mit ganz vielen süßen Massen, Schokoladensplittern, qualitativ dürftigen Feigen und sandigem Boden, ebenfalls in allen Aspekten mangelhaft (5).

Auf der Rechnung werden später die kaum gegessenen Teller nicht berechnet, zusätzlich werden sogar noch einmal 25 Prozent Rabatt auf die Speisen gewährt, wegen der Umstände. Das ist freundlich und amerikanisch, aber in Summe alles dennoch sehr beklagenswert. Die einzigen Gäste, die diesem Restaurant wohl wirklich wichtig sind, bestellen fünfstellige Weine und haben möglichst wenig Anspruch an gutes Essen. Das ist vielleicht ein valides Geschäftsmodell, hat aber mit drei Michelin-Sternen nichts zu tun.

Ich gehe dann mal ‒ und mache Platz für die vermutlich dritte Belegung dieses Tischs heute Abend. So durchgesessen, wie die Polster hier sind …

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Jean-Georges (→ Website)
Chef de Cuisine: Mark Lapico
Ort: New York City, USA
Datum dieses Besuchs: 22.10.2017
Guide Michelin (New York City 2017): ***
Meine Bewertung dieses Essens (?): 6,5
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Eleven Madison Park ‒ make it nicer

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In den letzten Monaten wurde in unzähligen Medien rund um den Globus viel über das Eleven Madison Park berichtet. Das ist nachvollziehbar, wenn man bedenkt, dass das Restaurant um den Schweizer Daniel Humm und seinen New Yorker Partner Will Guidara erst kürzlich auf den ersten Platz der zweifelhaften, aber medienwirksamen Liste „World’s 50 Best Restaurants“ gewählt wurde. Zum grenzüberschreitenden Stadtgespräch hat ferner beigetragen, dass das Restaurant kürzlich einer umfangreichen Renovierung unterzogen wurde. Kurze vier Monate hat das gedauert, und damit in dieser Zeit weder die Angestellten noch die Stammgäste in die Röhre gucken mussten, wurde als Überbrückung kurzerhand das Pop-up-Restaurant EMP Summer House in den Hamptons eröffnet. Dort wurden entspannte Gerichte wie der „Lobster Boil“ einfach direkt auf der Tischplatte angerichtet, während andere Gäste sich im Garten bei Gesellschaftsspielen, anspruchsvollen Drinks, leichter Kleidung und leichten Snacks den lauen Sommerwind des Atlantiks um die Haare wehen ließen. Im Sommer ist die EMP-Klientel ohnehin nicht in Manhattan, das war zeitlich also perfekt umgesetzt. Ich wäre auch zu gerne im Sommerhaus Gast gewesen, aber man kann schließlich nicht überall sein.

Mit der Renovierung des Eleven Madison Park kommen auch neue Gepflogenheiten ins Haus, so werden Reservierungen jetzt nur noch über das Ticketsystem Tocktix verkauft. Ein Ticket für ein reguläres Essen kostet pro Person umgerechnet ca. € 275, ein weniger umfangreiches Menü im Barbereich € 144. Das Restaurant hat sieben Tage in der Woche geöffnet und dürfte sich über unverkaufte Tickets über die nächsten Jahre keine Sorgen machen. Ich hatte zum Zeitpunkt der Ticketfreigabe blitzschnell zugeschlagen, und nur wenige Sekunden nach meiner Buchung waren schon alle verfügbaren Tickets der nächsten Wochen ausverkauft. Das ist New York!

Das nach seiner Adresse benannte Restaurant befindet sich im MetLife North Building, einem Art-Déco-Hochhaus, das ursprünglich einmal das höchste Gebäude der Welt werden sollte. Nach dem 25. Stockwerk wurden die Bauarbeiten jedoch beendet, weil für die weiteren Stockwerke keine Baupläne existieren. So wirkt das Gebäude aus der Ferne ‒ hierzu muss man Fotos zurate ziehen ‒ wie ein gigantischer, abgeschnittener Wolkenkratzer. Es ist ein faszinierendes Gebäude, dessen architektonische Grandeur man zwischen dem Ausstieg aus dem Taxi und dem Betreten des Restaurants nur erahnen kann.

Man betritt das EMP wie immer über den imposanten Eingang mit schwerer, in eine Marmorfassade eingelassene Drehtür. Wer aufmerksam hinsieht und schon einmal hier war, kann erkennen, dass das Logo mit den vier Blättern behutsam modernisiert wurde. Und auch sonst haben die Betreiber kein einziges Detail dem Zufall überlassen. Sogar das Geschirr wurde eigens für das Restaurant neu entworfen. Diverse Künstler, Handwerker und Architekten, viele davon Freunde von Humm und Guidara, haben sich am neuen Interieur beteiligt. Wer wollte, konnte den Entstehungsprozess des neuen Restaurants über die sozialen Netzwerke mitverfolgen.

Nur daher ist mir auch bekannt, dass die unscheinbare Schwelle, über die man in den Speisesaal schreitet, nichts weniger ist als die gesamte ehemalige Küche, eingeschmolzen zu einem tonnenschweren Block aus Stahl.

Der neue Speisesaal ist zunächst ungewohnt, wie alles Neue. Er ist jetzt grün-weiß-grau statt beige-weiß-braun, und der amerikanische Brasserie-Charakter mit Nussholz-Charme ist einer sachlicheren, zeitgemäßen Optik gewichen. Eine enorm bissig eingestellte Klimaanlage, die krampfhaft versucht, die Raumtemperatur unter 20 Grad zu halten, unterstreicht die etwas kühlere Wirkung des Interieurs. Für den Gast wirkt die Neugestaltung zwar etwas beliebiger ‒ das Restaurant schrie vorher „New York“ aus allen Polsternieten ‒, gleichwohl ist der Ort für die Betreiber nun ein persönlicherer. 2011 waren Daniel Humm und Will Guidara hier noch angestellt, als sie das Restaurant samt Einrichtung vom damaligen Inhaber Danny Meyer übernahmen. Der Bedarf nach einer Umgestaltung nach eigenen Vorstellungen ist nachvollziehbar. Ich finde das alles sehr gelungen. Nur Reaktionäre schreien hier nach dem alten Interieur.

Zum Aperitif wird, wie hier üblich, eine Schachtel mit herzhaften Keksen gereicht. Apfel und Cheddar schmeckt man heraus, das passt sehr gut zum Champagner (Krug NV, halbe Flasche € 136). — 7

Dann erreicht eine sechskantige Holzschachtel den Tisch, die der Kellner in vier einzelne „Etagen“ trennt. Man findet dort geröstete Kastanie mit schwarzem Trüffel (leicht knusprig mit erdigem Trüffelaroma — 7); Süßkartoffel-Tarte mit schwarzem Knoblauch (letzterer kaum wahrnehmbar, dafür mit exzellenter Säure und knusprigem Boden, hervorragend — 8); Apfelscheiben zum Stippen in Karamell und Foie Gras (cremig, würzig, dekadent gut — 8) sowie eine Tartelette mit Wild und Perlzwiebeln (weihnachtlich, würzig, wunderbar — 8,5).

Weiter geht es mit einer herzhaften Version des New York Cheesecake. Es handelt sich um ein dünnes Tortenstück aus einer Blumenkohlmasse, serviert mit geräuchertem Stör und Kaviar. Separat dazu gibt es eingelegtes säuerliches Gemüse mit Dill und Senfkörnern. Das Gericht ist ein „klassischer Humm“: eine mit wenigen Komponenten umgesetzte Hommage an die Vielseitigkeit und Ambivalenz dieser Stadt, von den Hotdog-Ständen neben dampfenden Straßengullis und dem Luxus gleich um die Ecke, von dem ohrenbetäubenden Lärm von Lkw und Sirenen bis zur Ruhe im Central Park. Das Gericht schmeckt genauso: rauchig, „schmutzig“, salzig, dann wieder mondän und sauber, manchmal klar und „ruhig“ nach Blumenkohl. Ein Klassiker eines Klassikers! — 9

Das nächste Gericht präsentiert ausgelöste Venusmuscheln, die wie Dachziegel auf einem Bett von Fenchelstücken aufeinandergeschichtet sind. Die Muscheln sind von makelloser Frische, die durch eine säuerlich-fruchtige Marinade mit Meyer-Zitrone unterstrichen wird. Ein leichtes, hervorragendes Gericht mit abermals wenigen, aber exzellenten Zutaten und einem stimmigen Geschmackserlebnis. — 8

Als andere Option an dieser Stelle gibt es im Menü ähnlich wie die Muscheln geschichtete, hauchdünn geschnittene Champignons auf einer Creme mit Gerste und Knoblauch. Der (regelmäßig unterbewertete) Pilz ist exzellent und entfaltet sein waldiges, erdiges Aroma in voller Pracht, die Creme darunter ist jedoch etwas zu mächtig geraten. Dennoch sehr wohlschmeckend. — 8

Es folgt Hummer aus Maine, die ich, wie auch in diesem Fall, qualitativ regelmäßig zu den besten zähle. Dieses perfekt ausgelöste Exemplar ist sehr zart, schmeckt vorzüglich, leicht nussig und buttrig, die Garung ist genau auf den Punkt. Ein Krustentierjus daneben demonstriert klassisches Handwerk in leichtem Gewand. Dazu gibt es hauchdünn aufgeschnittene Pfifferlinge auf einer Kartoffelcreme, eine zum vorherigen Gericht sehr ähnliche Idee, die ich auf diesem Teller nun nicht mehr besonders aufregend finde. Der vorzügliche Hummer entpuppt sich hier als einziges, aber wahrhaftiges, Highlight. — 7

Die zweite Option an dieser Stelle, die ich auch probiere, ist eine Komposition aus Pastinaken-„Pasta“, Torpedobarsch und Zanderrogen. Die nudelähnlichen Gemüseabschnitte sind etwas fransig, der Fisch ist zu meinem großen Befremden deutlich übergart und trocken. Sehr nachlässig, das Ganze. — 6

Das Menü fährt fort mit einem gerösteten Stück Kürbis, das man in einem herzhaften Sud aus Algen und Speck wiederfindet. Das Gericht spielt gekonnt mit vier Grundgeschmacksempfindungen gleichzeitig, ohne sie dabei zu überfordern. Die Süße des leicht wachsigen Kürbis bekommt den nötigen Gegenwind durch den Jus, bei dem Salz und Umami im Vordergrund stehen, eine ganz leichte Bitternote von den Algen schwingt auch noch mit. Sehr intensiv, aber auch sehr mächtig. — 8

Mein Hauptgang ist Ente mit einer geschmacklich exzellenten Honig-Lavendel-Kruste und einer Zubereitung aus gebackenem Apfel. Separat dazu am Tisch gibt es Grünkohl mit Ei und Perlzwiebeln, sowie Kartoffelscheiben unterschiedlicher Sorten und Püree. Das Stück Fleisch selbst offenbart leider einige handwerkliche Probleme. Es ist eher zäh als zart, und der rote Fleischsaft, der kurz nach dem Servieren aus dem Stück läuft, zeugt von zu wenig Ruhezeit. Aromatisch ist das alles stimmig und vorweihnachtlich, aber verpasste Garpunkte, eine abermals nachlässige Zubereitung und ein nicht gerade vor Besonderheit strotzendem Teller machen dieses Gericht insgesamt zu einer Enttäuschung. Den Gang esse ich nicht auf. — 6,9

Überragend hierzu ist an dieser Stelle der 2004er Pinot Noir „Jensen“ vom kalifornischen Weingut Calera vom Mount Harlan (ca. € 300), der mein Menü seit einigen Gängen nach dem Champagner begleitet.

Ein Dessert mit Moosbeere (cranberry) und Birne in verschiedenen Zubereitungen ist mir „too much“; viele artifizielle Texturen und eine extreme Süße lassen mich von einer Schale Walderdbeeren mit Crème Chantilly träumen. — 6,9

Das neue Eleven Madison Park hat sich herausgeputzt, doch die Leichtigkeit und Frische des neuen Speisesaals, die akribische Detailarbeit des Interieurs, findet man auf den neuen Tellern derzeit nicht wieder. Dem Eröffnungsmenü fehlt es besonders an überragenden Produkten und interessanten Ideen. „Make it nice“ lautet das Credo der Betreiber, „make it nicer“ wäre zum Neustart vielleicht die bessere Motivation gewesen.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Eleven Madison Park (→ Website)
Chef de Cuisine: Daniel Humm
Ort: New York City, USA
Datum dieses Besuchs: 24.10.2017
Guide Michelin (New York City 2017): ***
Meine Bewertung dieses Essens (?): 7,5
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Sushi Amane ‒ Saitos Lehren

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Jeder fängt mal ganz unten an. Shion Uino, ein junger Japaner, den man hier in New York vermutlich noch nach seinem Ausweis fragt, wenn er Sake einkauft, wirkt zum Beispiel gerade im Untergeschoss des japanischen Zwei-Sterne-Restaurants Mifune. Allerdings ist dies schon das zweite Kapitel in Uinos jungem Leben.

Angefangen hat er ganz oben, bei Sushi-Großmeister Takashi Saito in Tokio. Wer einmal bei Saito zu Gast war und sein überirdisches Sushi probiert hat, für den fängt zwangsweise ein neues Kapitel an, ob als Gast oder als Schüler.

Über acht Jahre war Uino bei seinem Meister, dessen Ruf dem talentierten Flügelmann Saitos nun bis nach New York folgt. Es gibt hier viel Konkurrenz. In kaum einer Stadt außerhalb Japans hat man derzeit so viele Möglichkeiten, in den Genuss von exzellentem, authentischem Sushi zu gelangen. Sushi Amane ‒ die Namensgebung des Restaurants hat sich mir bisher nicht erschlossen ‒ ist eine der heißesten Neueröffnungen der Stadt. Eine Reservierung war allerdings ohne große Umstände möglich.

Nach meiner Ankunft in New York an diesem Samstagmittag ist eine frühe Achtzehn-Uhr-Reservierung in einem Sushi-Restaurant genau das Richtige, um sich zu akklimatisieren.

Durch das Hauptrestaurant werde ich zusammen mit anderen Gästen eine steile Treppe nach unten geführt. Es gibt hier mehrere Räume mit regulären Tischen und Stühlen, die jedoch den gesamten Abend über unbesetzt bleiben werden. Wahrscheinlich handelt es sich um Räume für private Veranstaltungen des Hauptrestaurants.

Für einen kurzen Moment bin ich abgelenkt, mache ein Foto, drehe mich um, und alle sind verschwunden. Zwischen leeren Tischen, Wandspiegeln und dünnen Trennwänden fühle ich mich wie in einem Labyrinth. Ich stolpere in die Waschräume und muss einen Angestellten nach dem Weg fragen. Wohlbemerkt, es geht um einen Raum, der sich keine drei Meter von mir befindet.

Ein japanisches Restaurant ist eben immer nur dann authentisch, wenn man direkt davorsteht und es trotzdem nicht findet.

Als Uino-san mit dem japanischen Mise en Place beginnt ‒ Keramikgefäße an die richtigen Positionen schiebt, Messer zurechtlegt, Zutaten auspackt ‒ denke ich zunächst noch, es handelt sich um einen Gehilfen, so jung sieht der Kerl aus. Doch als er anfängt, mit dem Messer zu hantieren und Zutaten zurechtzuschneiden, weiß ich, dass die Vorstellung begonnen hat.

Ich fühle mich gut. Der überlange Tag legt sich zwar langsam wie ein Schleier über mich, doch allein der charakteristische Geruch eines Sushi-Restaurants ‒ nach hellem Holz, Soja und „appetitlicher Reinheit“ ‒ ist eine Wohltat, die jeden Flugkilometer wert ist. Meine Vorfreude auf die feinen Genüsse und auch auf die Herausforderung, die vielschichtigen subtilen Nuancen auszumachen, die dieses Handwerk auszeichnen, sind groß.

Das Menü ist mit ca. € 230 so teuer wie manch ein Drei-Sterne-Restaurant in Tokio. Das ist eine hohe Messlatte, aber es sind auch noch nicht die € 560, die man hier in New York im Masa als Minimumeinsatz auf den Tisch legen muss.

Uino-san beginnt das omakase-Menü wie sein Meister in Tokio. Es gibt zwei Stück gedämpfte Abalone (Seeohr) sowie gekochten Oktopus, dazu Wasabi, selbstverständlich frisch gerieben. Und so sehr es sich scheinbar um ein und dieselbe Eröffnung wie im März bei Saito-san handelt, trennen diese kleinen Teller Welten. Der Oktopus hier wurde z. B. so mariniert, dass er eine etwas unpassende Süße angenommen hat, zudem ist er deutlich zu kaubedürftig. Die Abalone ist sehr gut, aber ihr fehlt etwas Glanz, und auch die Schnitttechnik ist noch ausbaufähig. Wer solche Nuancen nicht kennt, für den erscheinen sie nichtig oder extravagant, doch sie sind tatsächlich leicht auszumachen. — 6,9

Mir fällt auch schnell auf, wie anders Uito-san in seinem kleinen Reich agiert. Während Saito von Anfang an so wirkt als wäre er eigentlich in einer ganz anderen Welt, ist der junge Japaner hier zwar ganz bei der Sache, dabei aber etwas „menschlicher“. Sein Blick schweift manchmal ab, es gibt Unregelmäßigkeiten in seinen Bewegungen, Momente des Zögerns, Korrekturen von Positionen, Asymmetrien beim Anordnen von Dingen. Es fehlt ihm (noch) die fast schon autistische Hochbegabung eines Saito-san.

Warum diese Vergleiche? Weil sie das A und O des Sushihandwerks sind. Scheinbar Perfektes muss sich mit wirklich Perfektem messen, und dann kommt noch etwas Perfekteres, und deklassiert alles Vorherige. Jeden Tag alles von vorne. Jahrelanges Reiskochen. Immer wieder. Immer wieder ein bisschen besser. Immer wieder der Vergleich zum Vortag. Jahraus, jahrein, bevor man überhaupt den Fisch berühren darf. Wie sollte man als Gast eine solche Hingabe ignorieren? Wie sollte man nicht vergleichen? Achselzuckendes Leckerfinden wäre die größte Beleidigung.

Es folgt eine Portion Sashimi eines thunfischähnlichen Fischs ‒ ich habe den Namen nicht genau verstanden ‒, der vier Tage gereift ist. Das Reifen von Fisch ist in Japan eine bewährte Methode, um dem Fisch noch mehr Umamigeschmack zu entlocken. Die Konsistenz dieses Stücks ist vergleichbar mit geräuchertem Lachs, der Geschmack weit subtiler, etwas fleischiger, geriebener Ingwer bringt einen angenehmen, frischen Kontrast zu diesem beispielhaften Snack. — 8

Uino-san hantiert inzwischen mit zwei kostbaren Schachteln mit Seeigelgonaden. Die eine aus Hokkaido ‒ der angesehensten Region für diese Zutat ‒, die andere aus einer ebenfalls japanischen Region, die ich leider nicht verstanden habe. Sie klingt wie „kishiyu“, aber ich habe hierzu nichts recherchieren können. Die Exemplare von dort schmecken sehr mild und erinnern mich entfernt an Haselnussöl. Der Klassiker von der Hokkaido-Halbinsel schmeckt dagegen in gewohnter Weise nach Jod, Gischt und Meeresspaziergang. Eine exzellente Produktschau, die im Westen nicht ohne Weiteres zu erleben ist. — 8

Weiter geht das Menü mit einem Süppchen auf Dashi-Basis, darin gegartes Muschelfleisch und obenauf hauchdünn aufgeschnittenes Perilla-Blatt (Shiso). Der Duft des herzhaften, dichten Suds und das blumige Chlorophyll-Aroma des exotischen Blatts lassen mich die Augen schließen. Wie wohltuend auch diese Hitze ist! Ich bekomme Gänsehaut und genieße diese meisterhafte Suppe wie in einer Wolke. — 9

Mit anderen Teilen vom Tintenfisch gefüllte Tintenfischringe kenne ich in sehr ähnlicher Darbietung ebenfalls von Saito. Das Meerestier ist hier eine Nuance zu zäh, besonders merkwürdig finde ich hier die stark angedickte Sauce, die zwar kräftigen und passenden Umamigeschmack aufweist, von ihrer Textur her jedoch artifiziell und „unjapanisch“ wirkt. Etwas frisch darüber geriebene Yuzuschale verleiht der schweren Speise ein bisschen Leichtigkeit. — 6,5

Als nächstes wird eine großzügige Menge Krebsfleisch (hairy crab, Chinesische Wollhandkrabbe) in seiner eigenen Karkasse serviert. Das ausgelöste, faserige Fleisch schmeckt exzellent und wurde zuvor in einer leichten Marinade mit Soja und Essig eingelegt, was dem Ganzen etwas appetitanregende Säure verleiht. Sehr exquisit und hervorragend umgesetzt. — 7,5

Eine sanft gegarte Makrelenart (sawara, Scomberomorus maculatus) folgt. Sie wird serviert mit einem säuerlich-herzhaften Sud und einer kühlen, kugelförmigen Zutat, die geschmacklich an Sauerkraut erinnert, vermutlich eine Art geriebener, marinierter Kohl. Das Stück Fisch ist an einigen Stellen etwas trocken, aber in Summe ist das ein qualitativ und geschmacklich attraktives Gericht. — 6,9

Es geht dann weiter mit der Abfolge von Nigiri-Sushi, im Einzelnen:

Glänzender Schleimkopf (kinmedai)

Seebrasse (tai)

Hering (kohada)

Uino-sans Sushi-Reis (shari) ist gekennzeichnet durch eine ungewöhnlich hohe Temperatur, eine milde Säure und hohe, kompakte Stabilität. Die Portionsgrößen sind genau richtig, Linkshändern serviert er die Stücke entsprechend gedreht, korrigiert dies jedoch hin und wieder. (Bisher alles 7.)

Es geht weiter mit einer Abfolge von Thunfisch-Nigiri.

Magerer Thunfisch (akami)

Mittelfetter Thunfisch (chūtoro)

Fetter Thunfisch (ōtoro)

Alle Qualitäten sind exzellent (8) und in unseren Breiten kaum zu finden, es existieren gleichwohl Steigerungen.

Tintenfisch folgt; der Reis ist nun aber definitiv zu warm, da wird man vermutlich nicht mehr von einem persönlichen Stil sprechen können. Wie immer ist dies aber nur eine von Dutzenden Stellschrauben einer ansonsten sehr guten Vorstellung.

Es folgt ein Stück Sushi mit gedämpftem Fisch („white fish“). — 6,9

Jackmakrele (aji) ist exzellent. Der Reis ist hier nun deutlich besser temperiert (handwarm). — 7,5

Aal, hier ist nun der Fisch ziemlich heiß, dafür aber qualitativ herausragend. — 7

Eine Handrolle mit mittelfettem Thunfisch schmeckt besonders ansprechend, weil auch ein zwiebelartiges Gemüse mitverarbeitet wurde.

Eine klare Suppe auf Dashi-Basis mit viel Schnittlauchgeschmack (7), sowie ein makelloses, dichtes Tamago (7) beenden ein sehr zufriedenstellendes, authentisches Sushi-Menü.

Der Facettenreichtum und die Komplexität dieser Küche sind beispiellos. Meine Faszination für Sushi und die japanische Küche im Allgemeinen bleibt nicht nur ungebrochen, sondern wächst mit jedem weiteren Mahl auf einem solchen Niveau. Shion Uino hat lange bei einem der größten Meister unserer Zeit gelernt, und doch sind die Unterschiede sehr deutlich. Der Guide Michelin vergibt im neuen Führer für New York City wenige Tage nach meinem Essen hier einen ‒ völlig angemessenen ‒ Stern, und ich freue mich schon, die Erfolge dieses jungen Meisters weiter zu verfolgen.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Sushi Amane (→ Website)
Chef de Cuisine: Shion Uino
Ort: New York City, USA
Datum dieses Besuchs: 21.10.2017
Guide Michelin (New York City 2017): noch nicht bewertet
Meine Bewertung dieses Essens (?): 7,5
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Jante ‒ Schwamm drunter

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Wenn man aus einem Toilettenhäuschen unter einer U-Bahn-Brücke in Hannover etwas Ansehnliches machen wollte, dann wäre dieses Ziel mit dem Jante zweifellos erfüllt. Anstatt eines WC-Schilds zieren jetzt eine Plakette mit Michelin-Stern und eine Speisekarte den Eingang des Restaurants, der gar kein Eingang ist, wie ich nach mehrmaligem Klopfen herausfinde.

Erst, wenn man hinters Haus geht, findet man den eigentlichen Zugang. Ein entsprechender Hinweis am nur scheinbaren Eingang wäre sicherlich nicht verkehrt. Ich stehe gerade etwas ungeschickt davor im Regen.

Das Interieur lässt den Regen schnell wieder vergessen. Der bogenförmige Grundriss des Restaurants strahlt in Kombination mit viel Holz und warmem Licht eine rustikale Gemütlichkeit aus, die in vielen Details geschmackvoll ist. Nicht in allen. Die mickrige Papierserviette, die ständig vom Schoß rutscht, könnte man ja noch mal zu Gunsten einer sittlichen Tischkultur überdenken.

Das alleinige Menü trägt den Namen „Eifrig“ und steht in drei unterschiedlich umfangreichen Varianten zur Auswahl (fünf bis sieben Gänge, 77 bis 99 Euro). Ich entscheide mich für die mittlere Variante, die einen Gang mit geeister Gänseleber auslässt. Ich bin für dieses Produkt nicht mehr allzu oft zu begeistern, da sich dessen Genussmöglichkeiten für mich in Grenzen halten, insbesondere bei kreativeren Zubereitungen.

Es gibt zur „Einstimmung“ drei Amuse-Bouches. Zitronenthymian passt gut zu einer halbierten und leicht säuerlich marinierten Pflaume (6,5), ein dehydriertes Röllchen mit Zutaten drin thematisiert auf leichte, frische Art Blumenkohl und Erbse (7), und ein Blatt Chicorée mit Walnuss schmeckt irgendwie muffig nach altem Koffer, was nicht so schlimm gemeint ist wie es sich anhört (6). Große alte Weine tun das auch manchmal.

Leise ist es hier, flüsterleise, obwohl alle Tische besetzt sind. Das mögen die Gäste in Deutschland so. Als wäre heitere Konversation am Tisch etwas Unanständiges. Laut ist es in der Bierschänke, leise im Sternerestaurant, so die einhellige Meinung, auf die man sich ‒ stillschweigend ‒ einigt, sobald man den Raum betritt und seine ernsten Blicke in alle Ecken speit. Als würde man dem Kochhandwerk keinen Respekt zollen, wenn man fröhlich ist. Das genaue Gegenteil ist der Fall. Wenn ich beim Essen nicht voller Freude sein kann, bin ich entweder ein trostloser Mensch, oder die Küche bietet keinen Grund, mir Freude zu entlocken. Dass so viele Menschen auf einmal trostlos sind, halte ich eher für unwahrscheinlich.

Es gibt Sauerteigbrot, das ist gut gelungen, dazu aufgeschlagene Butter mit Liebstöckel und Selleriepulver. Letztere beiden Akzente sind geschmacklich ganz pfiffig, aber aufgeschlagene Butter hat immer eine etwas merkwürdig schleimige Textur, so als hätte man Rinderknochen im Pacojet püriert. Das kann man so machen, wenn das Motto „mehr ist mehr“ ist, aber besser wird die Butter durch all das eben nicht. Sonst würde man in französischen Restaurants die Butter von Jean-Yves Bordier ja auch aufschlagen und mit dies und jenem aromatisieren. Tut man aber, zum Glück, nicht.

Als nächster Gang, der noch nicht dem eigentlichen Menü zugeschrieben wird („Kurz davor“, so die Überschrift in der Karte, als wäre der Spannungsbogen schon am Maximum), ist eine sehr schwierig aufs Besteck zu befördernde Komposition mit Schwarzwurzel, Joghurt und Waldmeister. Wenn man den Kampf gegen die sich im Mund querstellenden dehydrierten Schwarzwurzelabschnitte und die ständig von der Gabel herunterfallenden, ebenfalls dehydrierten, weißen Joghurtstückchen gewonnen hat, stellt sich am Gaumen ein gar nicht mal so ungeschicktes Geschmacksbild ein. Die Frische vom Waldmeister passt gut zum Süßholzgeschmack, der sich auch noch von irgendwoher dazugesellt. Geschmacklich also gut, aber unnötig verkopft, und kompliziert dargeboten. — 6

Das eigentliche Menü beginnt mit Spitzpaprika als Leitmotiv, die es unter einem Sammelsurium von Zutaten wie Speck, Friseesalat, einer schaumigen rauchigen Sauce, einem dehydrierten Röllchen und einigen Portionen von extrem kaltem und hartem Hibiskusblüteneis schwer hat, sich in Szene zu setzen. Lässt man die trockenen und eiskalten Störer beiseite, ergibt das geschmacklich durchaus Sinn. Paprika, etwas Rauch, salziger Speck, das passt. Wozu all diese Ablenkungen? — 6,5

Weiter gibt es drei Häppchen bestehend aus Zwiebelschalen, die mit kleinen Steinpilzwürfeln gefüllt sind. Kirsche, Brunnenkresse und eine knusprige Komponente spielen auch noch eine Rolle. Erneut ist das Geschmacksbild zugänglich und ansprechend ‒ Zwiebel, Röstnoten und etwas Säure passen sehr gut zueinander ‒, aber über einen ganz annehmbaren Geschmack kommt das alles nicht hinaus. — 6,5

Den nächsten Gang zieren dann wieder diverse Röllchen, alle aus verschiedenen Beten, zwei davon erneut als dehydriertes, knuspriges Element. Schwammige hellgrüne Quader liegen auch auf dem Teller, auch diese ziert ein Röllchen. Wie schon bei allen anderen Gängen zuvor, erklärt der Service ausführlich, welche geschmackliche Rolle die einzelnen Komponenten übernehmen. Sätze wie „Wir haben [dies und jenes] getan, um eine Frische reinzubringen“ bekommt man über fast jede Zutat zu hören. In diesem Fall wurde bei der küchenseitigen Telleranalyse jedoch die Erklärung vergessen, warum man sich dafür entschieden hat, den Zander so zu malträtieren, dass er sich ‒ völlig zu Recht ‒ beleidigt und trocken in sich zusammenzieht, und warum schon wieder Röllchen überall drauf liegen, die nach wenig bis nichts schmecken. — 5

Ein Teller wie dieser ist eine Zumutung auf vielen Ebenen. Er stellt, besonders durch die allenfalls mäßige Fischqualität und -zubereitung, das Urteilsvermögen aller Gäste in Frage, bedient mit seinen unnötigen Spielereien das Klischee, dass Sterneküche in Deutschland immer verspielt und dekorativ sein muss und trägt damit nicht weniger als dazu bei, es dem Stand der gehobenen Küche in Deutschland noch schwer zu machen als das ohnehin schon der Fall ist. Wer so eine Küche als überflüssig bezeichnet, hat völlig recht. Gerichte wie diese sind vollkommen entbehrlich. Aber das ist eben nicht nur die Schuld des Kochs. Alle, die diese Teller hier brav, schweigend und mit ernsten Mienen aufessen und so etwas nicht in Frage stellen, machen sich mitschuldig an der Situation eines kulinarisch immer noch verarmten Deutschlands.

Es folgt „Spanferkelhaxe“, oder besser Fleisch davon, das man in Rollenform gepresst und 36 Stunden lang sous-vide gegart hat. Die Scheibe, die man davon dann abgeschnitten hat, weist eine artifizielle, gummiartige Textur auf. Dazu gibt es eine ausgelöste Auster (!), rohen Grünkohl und Senfstaub. Man ist hier nun wieder dabei, ein eigentlich stimmiges, rustikales Geschmacksbild (Schwein, Kohl, Senf) so zu verkopfen, dass daraus nichts Besseres wird als wenn man das ordentlich zu Hause zubereitet: geschmort, saftig und mit anständigem Senf. Und ohne Auster. Schmeckt fürchterlich. — 5

Rehrücken wurde ebenfalls sous-vide gegart und bestätigt abermals, dass diese Technik oft eher schlechtere als rechte Ergebnisse hervorbringt. Da streiten sich zwar die Geister, aber diese sehr homogene Textur des Fleischs, das auch nicht mehr nachgebraten wurde, empfinde ich nicht als optimal, zudem tritt ständig Fleischsaft aus. Das kann man deutlich besser hinbekommen. Und wenn es zu so einem Fleisch schon eine glänzende Sauce gibt, so wie hier, hofft man auch auf eine entsprechende Aromatik. Diese hier schmeckt merkwürdig säuerlich und gewollt anders. Karotte, Buchweizen und Heu spielen weitere Rollen, aber der Protagonist schwächelt und mit ihm das Gericht. Ich probiere davon nicht mehr als nötig. — 6,5

„Kurz danach“ geht es laut Speisekarte weiter mit Birne, Kopfsalat und Mandel, offenbar als Erfrischung vor dem Dessert konzipiert. Das Gericht ist ein Teller voller klebriger, pappiger und teilweise verbrannter Komponenten, die man sich danach aus den Zähnen pulen muss. Ich habe schon großartige Birnen gegessen, zuletzt fantastische Nashis in meinem Hotel in New York, die jeden Tag frisch aufs Zimmer gebracht wurden, und an deren intensives Aroma ich bis heute denke. An diesen Teller möchte ich nach diesem Text nicht mehr lange denken. — 5

Das Dessert rankt um das Thema Mohn. Ein Mohnschaum mit Hefe belegt die Zunge mit einem käsigen Geschmack, ein Stück eines einigermaßen unverfremdeten Apfels ist ein Lichtblick in diesem mäßigen Dessert, das mehr die Kreativität des Patissiers als den Appetit auf Süßes befriedigt. — 6

Ein Windbeutel mit Sauerteig (6,5) sowie auch ein Schälchen mit einer Art sehr süßem Quarkschaum und ziemlich guten Beeren (6,9) machen das wieder einigermaßen wett.

Unnötig zu sagen, dass ich angesichts der vielen nur halb gegessenen Gerichte noch hungrig bin; unnötig zu sagen, dass ich das Essen alles andere als ausgezeichnet fand. Aber wer meinen Text genau liest, kann erkennen, dass meine Kritik nicht nur der Küche gilt. Sie gilt maßgeblich allen Beteiligten, die eine solche Küche aktiv (z. B. der Guide Michelin mit seiner Auszeichnung) oder passiv (die Gäste mit ihrer Akzeptanz) fördern. Ich habe keinen Grund anzunehmen, dass hier irgendjemand nicht kochen kann. Ich habe aber jeden Grund anzunehmen, dass die Gäste damit zufrieden sind und man eben deshalb so kocht. Und genau das ist eines der größten kulinarischen Probleme in unserem Land.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Jante (→ Website)
Chef de Cuisine: Tony Hohlfeld
Ort: Hannover, Deutschland
Datum dieses Besuchs: 10.11.2017
Guide Michelin (D 2017): *
Meine Bewertung dieses Essens (?): 6
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Bianc ‒ Algarve trifft (auf) Hamburg

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Wenn man im Internet nach mediterranen Restaurants in Hamburg sucht, erscheinen dort auf den obersten Rängen Touristenfallen, Nachbarschaftsspelunken und Systemgastronomiefilialen. Zu einem Restaurant, das dem eindeutigen Foto nach zu urteilen billige Garnelen aus Südostasien mit einer klebrigen Sahnesauce überzieht und dazu aufgeblähtes Industrie-Ciabatta serviert, titelt ein Bewerter „Klassiker küsst Fine Dining“, ein weiterer lobt ein paar Würfel gräulich trockenen Thunfischs „in sensationeller Sashimi-Qualität“.

In einer Stadt, in der solche Restaurants voll sind bis zum Anschlag, wurde jetzt ein italienischer Spitzenkoch installiert, der vorher in der zweifach besternten Vila Joya in Portugal Küchenchef gewesen ist und ebenfalls mediterran kochen will. Matteo Ferrantino heißt der Mann der Stunde. Vermutlich hat man ihm von dem mediterranen Grauen in dieser Stadt nicht erzählt, sonst wäre er bestimmt mit klinischem Schockzustand wieder nach Portugal zurückgereist, wo man ihm ein paar authentisch gegrillte Fischgerichte mit Zitrone unter die Nase gehalten hätte, damit er wieder zur Besinnung kommt.

Stattdessen hat man ihm ein eigenes Reich in der HafenCity überlassen, das sich im Hochparterre eines modernen Bürohauses versteckt. Ein Hamburger Privatinvestor steckt dahinter; offenbar hat ihm das Essen in Portugal so gut geschmeckt, dass er den Küchenchef von dort gleich zu sich nach Hause locken konnte. Auch das Küchenpersonal und Teile des schicken Interieurs sind aus dem Ausland mit angereist.

Das Restaurant wirkt daher schon mit seiner Entstehungsgeschichte wie ein Fremdkörper in dieser von modernen gastronomischen Einflüssen weitestgehend abgeschotteten Stadt. Wie ein willkommener Fremdkörper, muss ich ergänzen, denn als ich heute Abend hier eintrete, sieht das ein bisschen so aus wie in einem spanischen Avantgarde-Restaurant. Der Olivenbaum in der Mitte erinnert an Restaurants wie das El Celler de Can Roca oder Azurmendi, die runden Tische aus hellem Holz, ohne Tischdecke und mit akkurater Spotbeleuchtung kennt man sonst auch nicht in diesen Breiten. Nicht, dass die spanische Avantgardeküche zu meinen liebsten zählt, aber bereits das Gastronomiekonzept hier ist so neuartig für Hamburg, dass jeder auch nur halbwegs an spannender Gastronomie interessierte Gast dem Bianc die Tür einrennen sollte.

Doch an diesem Donnerstagabend zähle ich, mich eingeschlossen, genau sieben Gäste, die sich auf vier von insgesamt sechzehn Tische verteilen. Man würde absichtlich etwas „piano“ starten, erklärt die freundliche Dame aus dem Service, und sei ja ohnehin „erst am Anfang“, eine Woche nach der Eröffnung. Aber die sieben Gäste heute Abend sind natürlich dennoch eine schallende Ohrfeige des Hamburger Restaurantpublikums. Ich plaudere mit der Sommelière etwas über die hiesige Gästelandschaft, über London und New York und fülle das vor Leere hallende Restaurant mit etwas Heiterkeit.

Am Nachbartisch flüstert man und wird erst wieder lauter, als etwas nicht zu stimmen scheint: „Wir mögen beide keine Chorizo. Das hatten wir Ihnen am Anfang auch gesagt!“ höre ich von rechts und traue meinen Ohren kaum. Das Gericht, auch noch eine Offerte aus der Küche, wie ich zwangsweise mitbekomme, wird zurück in die Küche geschickt. Herzlich willkommen in Hamburg, Herr Ferrantino! Es ist aber sonst ganz schön hier.

Das Essen (Menü „Emotion“, sechs Gänge € 129) beginnt mit einem außergewöhnlich präsentierten Arrangement. Es besteht aus einem Granny-Smith-Gazpacho im Reagenzglas (süßlich-säuerlich, nach unten hin kälter, aromatisch sehr gut), einem in Büffelbutter gestippten Radieschen (könnte noch Salz vertragen und aromatischer sein), einem Baiser mit Entenleber und Mango (ähnlich präzise gearbeitet wie bei Nachbar Kevin Fehling, aber geschmacklich weniger ausgeklügelt), Hähnchen mit Piri-Piri (leicht curryartig), und Rindertartar in einem Teighörnchen. Letzteres ist ganz hervorragend, weil eine prägnante, aromatische Zitronensäure, vermutlich Limette, hier gewitzt mit südlichem Charme spielt. — Letzteres 8, alles zuvor um die 6,9.

Der Chef persönlich bringt das Brot an den Tisch. Es ist ein luftiges, an Focaccia erinnerndes Brot, ölig und nach Rosmarin duftend. Ferrantino präsentiert das Brot in einer knisternden Papiertüte, alles so wie er es von seiner Mutter auf dem Schulweg mitbekommen hat, erzählt der Koch mit markantem Charaktergesicht sichtlich berührt. Butter von guter Qualität ist mit Olive und Tomate aromatisiert, das passt in Kombination mit dem mediterranen Brot exzellent. Etwas Meersalz fehlt mir hier lediglich, um diese einfache Freude ganz perfekt zu machen.

Lírio, eine Makrelenart aus Portugal, wird auf dem nächsten Teller als Sashimi zusammen mit hauchdünnen, rohen Blumenkohlscheiben und eingelegter Zitrone (Salzzitrone) serviert. Eine ansprechende, frische Säure und die hohe Qualität des Fischs stehen im Mittelpunkt dieses Tellers. Allein der Einsatz diverser Cremes stören das Ensemble etwas, weil ihre sehr glatte, an Zahnpasta erinnernde Textur etwas Artifizielles mit sich bringt. In Summe hat man es hier aber mit einem sehr ansprechenden, durchdachten Teller zu tun. — 7

Es folgt tourniertes Artischockenherz. Dies ist geschmacklich exzellent und in einer säuerlich angemachten Olivenölemulsion angerichtet. Diese verbindet die Aromen des Olivenöls mit denen von Zitrone vermutlich über einen Texturgeber wie Lecithin oder Xanthan. Das nimmt auch diesem wunderbar puristischen Gericht etwas Natürlichkeit. In der Emulsion findet man noch Thunfischquader von guter Qualität ‒ dicht, kühl und leuchtend frisch ‒ sowie Kapern, die ein sehr mediterranes Geschmacksbild komplettieren. Doch fehlen auch Akzente (Salz, Säure), um die positiven Eigenschaften aller Zutaten noch deutlicher herauszuarbeiten. — 7

Seeteufel folgt. Er ist von guter Qualität, weist ansprechende Röstnoten auf, die sowohl optisch als auch geschmacklich eine Brücke zu dem Chorizosud bauen. Dieser ist süffig und von geschmacklicher Tiefe, aber erneut etwas stark abgebunden. Zu dem Gericht gehört, à part serviert, ein Teller mit einem Toastbrot, welches mit dem aromatischen Inneren von Tomate sowie dünnen scheiben exzellenter Chorizo drapiert ist ‒ die, die am Nachbartisch verschmäht wurde. Die leicht pikante Herzhaftigkeit und der Umamigeschmack der Tomate passen exzellent zum Sud des Fischgerichts. Zwei ebenfalls dazu servierte, kalte Babytintenfische haben allerdings wieder eine etwas befremdliche Textur, in etwa wie erkaltete Pasta, und schmecken sehr „vorbereitet“ ‒ ein Symptom, das sich hier leise, aber auffällig, von Teller zu Teller zieht. — 6,9

Das Prinzip, Fisch mit süffiger dunkler Sauce zu kontrastieren, findet auch beim nächsten Gang Anwendung. Saftiger, zarter Kabeljau wird hier in einer herzhaften, süffigen Sauce mit prononciertem Salzgehalt serviert, und etwas zu knusprige Topinambur-Chips sorgen für einen Texturkontrast (den ich hier nicht unbedingt benötige). Schwarzer italienischer Trüffel ist nicht mehr ganz so frisch, fügt aber eine gelungene erdige Note hinzu. Das ist geschmacklich sehr gelungen, und mit etwas mehr Achtsamkeit für Details wäre das noch deutlich besser. — 7

Kalbfleisch, als Bäckchen und Filet, letzteres sous-vide gegart, folgt mit Ochsenherztomate und einer dunklen Sauce mit Pesto-Schaum. Durch die Tomate und die Basilikumnoten des Pestos will ein leichtes, mediterranes Geschmacksbild entstehen, das sich gegen den dunklen Jus und das schwere Kalbsbäckchen jedoch nicht durchsetzen kann. Das Filet präsentiert sich zudem auch etwas trocken, und damit wird das Gericht entbehrlich. — 6,5

Ein Dessert mit Ziegenjoghurt und Pflaume ist exzellent. Das Eis ist cremig und nicht zu süß, ein sehr schmackhaftes Pflaumenkompott addiert Fruchtsüße. Feingehobelte gefrorene Gänseleber obenauf ist optisch pfiffig, fügt dem Gericht jedoch weder geschmacklich noch texturell irgendetwas hinzu. Dennoch exzellent. — 7,5

Schokolade, Mascarpone, Birne und Erdnuss folgen als Komponenten unterschiedlicher Zubereitungsarten im nächsten Dessert. Das bekannte Schokolade-Birne-Geschmacksbild wird hier um interessante Akzente wie Salz und Karamell ergänzt. Auch hier findet man viele Cremes und Pasten wieder, was sich am Ende immer so anfühlt als nähme man Industrienahrung zu sich. Dennoch geschmacklich eher recht als schlecht. — 6,9

Das Bianc ist ein spannender Zuwachs in Hamburg. Die Weinkarte ist ebenfalls eine überraschend ansprechende Fundgrube mit fairen Aufschlägen und diversen guten Tropfen, überwiegend aus Deutschland und Frankreich.

Betrachtet man das ambitionierte Preisniveau, wünschte ich mir allerdings mehr exzellente Produkte, mehr Authentizität und dafür weniger Thermomix und Texturgeber. Gerade eine mediterrane Küche ‒ auch, wenn man sie modern interpretiert ‒, verlangt nach einer Nähe zum Produkt, nach Röstaromen und Grill, nach Zitrusfrüchten und Sonne, nach Speisen, die an Zikaden und Eukalyptusbäume erinnern. Das Erwecken solcher Emotionen ist selbsternanntes Ziel des Restaurants, aber das will noch nicht ganz gelingen. Ein vielversprechender Start ist das aber allemal.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Bianc (→ Website)
Chef de Cuisine: Matteo Ferrantino
Ort: Hamburg, Deutschland
Datum dieses Besuchs: 23.11.2017
Guide Michelin (D 2018): noch nicht bewertet
Meine Bewertung dieses Essens (?): 7
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Chef’s Table at Brooklyn Fare – César Lucullus

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Julien,” – wir sind inzwischen per (amerikanischem) Du – „there are planes coming in from Tokyo every day. I can get everything I want!“ sagt César Ramirez, mit neuem Schnauzer, neuer Gelfrisur, neuem Restaurant und mit regelrecht kindlicher Freude. Seine Augen leuchten als hätte man einem kleinen Jungen ein neues Lego-Raumschiff geschenkt. Ich habe ihn gerade gefragt, wie es angehen könne, was er hier auf jeden der kostbaren „Hering Berlin“-Teller zaubert. Wie es angehen kann, dass diese kleinen, scheinbar simplen Speisen so perfekt und wohlschmeckend sind, dass sie mich jedes Mal die Fassung verlieren lassen.

Doch der üppig gedeckte Blankoscheck, den der mexikanische Wahl-New-Yorker von seinem Financier erhält, und mit dem er sich nicht zu schade ist, sogar Holzkohle aus Japan einfliegen zu lassen, um sie in seinem Binchotan zu verheizen, ist längst keine hinreichende Erklärung für die Großartigkeit, die an diesem Tresen in New York zu erleben ist. Die Erklärung, er könne sich einfach alles kaufen, was er will, ist fast schon bescheiden. Denn die Genialität, die es braucht, um die besten der besten Zutaten nicht nur zu kennen und zu beschaffen, sondern diese dann so klar und puristisch, aber auch nicht karg, und eben immer so ungemein wohlschmeckend zuzubereiten, spielt Ramirez mit einem geradezu naiven Understatement herunter, als wisse er gar nicht, dass er längst den Schlüssel zu einer gänzlich makellosen Küche gefunden hat.

In diesem Jahr ist Ramirez mit seinem Restaurant von Brooklyn nach Manhattan gezogen. Immer noch ist das Restaurant der namensgebenden Supermarktkette Brooklyn Fare zugehörig, aber dieses Mal ist das Restaurant wirklich in dem Supermarkt. Der Eingang ist ganz hinten bei den Nudeln. In einer Ecke steht dort ein kleiner Tresen mit einer Empfangsperson, dahinter öffnet sich die Tür zu Ramirez‘ neuem Reich.

Größer, heller und betriebsamer ist es geworden. Am weitläufigen Tresen finden jetzt um die zwanzig Gäste großzügig Platz, zusätzlich gibt es noch einige normale Tische. 38 Personen werden hier insgesamt pro Abend bekocht, aber es gibt nur noch ein seating, mit versetzten Uhrzeiten, aber ohne „Austausch“ von Gästen. Auch das berüchtigte Fotografieverbot hat Ramirez aufgehoben. Locker und entspannt soll es hier jetzt sein, sagt der Küchenchef, und genauso gibt er sich auch. Er wirkt entspannter in seiner neuen Wirkstätte.

Der erste Streich des Menüs (ca. € 300) ist eine Tartelette mit einer großzügigen Portion gewürfelter Makrele aus Japan, bedeckt mit hauchdünnen, knusprigen Fäden aus Seetang und mit Perillablüten gespickt. Neunzehn Monate ist es her, seitdem ich zuletzt eine Speise von Ramirez gegessen habe. Ich bin richtig aufgewühlt und zittere leicht vor Aufregung. Am Gaumen spürt man eine Explosion von Frische und Knusprigkeit. Ich muss sofort die Augen schließen, um mich auf alles zu konzentrieren, möchte keinen Sinneseindruck verpassen. Das Aroma erinnert interessanterweise an das von allerbestem Sushi, obwohl hier kein Reis im Spiel ist. Etwas Wasabi bemerke ich auch, sowie milde Säure, Meer und „Blumigkeit“. Es ist, wieder einmal, ein großartiger Auftakt. — 9

Es geht weiter mit einem Klassiker, Seeigel aus Hokkaido auf luftiger Brioche, darauf eine Scheibe schwarzen Trüffels. Die phänomenale Qualität der Meeresdelikatesse kann man sehen ‒ es ist ein einheitliches, leuchtendes Dunkelorange ‒, riechen ‒ es duftet nach Meer und Gischt ‒ und schmecken, wenn die großzügige Menge dieser exquisiten Zutat die Geschmacksnerven mit ihrer jodigen, kühlen Süße flutet. Man schließt die Augen und ist in einer Parallelwelt, in die man für ein paar Sekunden hineinblicken kann. — 10

Der nächste Streich aus dieser Parallelwelt ist ein Schälchen, das ein Tartar aus dem fettigen Bauchfleisch von Rotem Thun, dazu eine Art Auberginen-Pudding sowie „Kaluga Queen“-Kaviar enthält. Letzterer stammt aus der Zhejiang-Provinz aus China und zählt inzwischen zu einer der begehrtesten Sorten Störrogen. Die fast linsengroßen, grünlich-gräulichen Eier sind sanft salzig, weisen eine angenehm „schmelzige“ Textur auf und sind eindeutig der Protagonist eines luxuriösen Gerichts, das dennoch unglaublich zugänglich ist. Der Geschmackswelt des Seeigel-Gerichts folgend, erweckt auch diese Speise starke Assoziationen zum Meer. Alles ist rein und klar und animiert zum Augenschließen und Abtauchen. — 10

Der Zustand, in denen mich dieses Restaurant jedes Mal bereits nach kurzer Zeit versetzt, macht glücklich und süchtig. Im Glas ist jetzt gerade ein 2005er Pouilly Fumé „Silex“ von der Domaine Dagueneau von der Loire, ein großer Wein, wie alle, die hier in der Weinbegleitung ausgeschenkt werden. Mittelmäßiges gibt es in diesem Restaurant genauso wenig wie „Gutes“. Es gibt hier nur Großartigkeit.

Goldener Schleimkopf (kinmedai), der dank meiner Besuche in den Spitzenrestaurants der USA und in Japan längst zu einem meiner favorisierten Fische zählt, gelangt für den nächsten Gang mit einem kühlen Püree von Winterrettich und einem kleinen Zweig Szechuanpfeffer auf den Teller. Mehr benötigt es nicht, um eine in sich perfekte, abgeschlossene Speise zu kreieren, bei der ich wirklich emotional werde. Die Temperatur des Fischs ist irgendwo zwischen lauwarm und heiß, schmeichelnd, die Qualität fast unbegreiflich, der Rettich kühlend und der zitrusartige Pfeffer stimulierend. Der prachtvolle Fisch kam heute erst aus Japan hier an. — 10

Die schmackhafte Warenkunde fährt fort mit einem Fisch aus der Familie der so genannten Laternenbäuche, hier schlicht bei seinem japanischen Namen Akamutsu benannt. Er stammt aus der Bucht von Chiba, östlich von Tokio, und schmeckt ganz deliziös. Das Filetstück ist dicht und schwer und weist einen recht hohen integrierten Fettgehalt auf, der perfekt den frischen, säuerlichen Geschmack eines beachtenswerten Jus transportiert, in dem der Fisch liegt. Leichte Röstnoten vom Holzkohlegrill sorgen für weiteres Wohlbefinden und ungläubiges Kopfschütteln. — 10

Hummer aus Stonington, Maine, gegrillt und ausgelöst, serviert Ramirez beim nächsten Gang mit einer Reduktion von Blutorangen aus Valencia. Diese seien dort gerade „very nice“, sagt er voller Freude, und erklärt weiter, dass es sich bei den gelben Blüten obenauf um Senfblüten handelt. Der Hummer ist von einer der allerbesten Qualitäten, die ich je probiert habe und ist perfekt zubereitet. Ramirez lehnt moderne Küchentechniken wie Sous-vide-Garung ab und röstet und schmort lieber in Kupferpfannen und über Holzkohle. Die Sauce auf Krustentierbasis bekommt durch die intensiv aromatische Blutorange einen säuerlich-fruchtigen Geschmack, während die Senfblüten im Hintergrund eine ganz leichte, ansprechende Bitterkeit mit einbringen. Ein Geniestreich. — 10

Aus Kanada stammt dann ein Filetstück vom Kohlenfisch, das in einem Sud mit Matsutake-Pilzen serviert wird, einem der in Japan begehrtesten Speisepilze, der Kilopreise im vierstelligen Eurobereich erzielt. Diese Exemplare stammen jedoch aus Oregon, was ihrem einzigartigen, nussig-waldigen Geschmack keinen Abbruch tut. Der Fisch ist gehaltvoll und rein im Geschmack; die Haut ist so fein, dass sie sofort einreißt, wenn man sich mit dem Löffel an sie herantastet, und dann am Gaumen schmilzt. Alles fügt sich zu einem harmonischen, wohlschmeckenden Ganzen zusammen. — 10

Das Niveau reißt nicht ab, Ramirez ist kompromisslos. Ein Kaisergranat aus Schottland ist ebenfalls auf Referenzniveau, doch damit ist es hier ja nie getan. Der Wohlgeschmack, der jeder einzelnen Speise hier innewohnt, ist faszinierend und zutiefst befriedigend. Auf diesem Teller sorgt ein süffiges, „schlotziges“ Risotto aus Koshihikari-Reis für weitere Genussmaximierung. Salz, Hitze, die Körnung vom Reis, die süße Nussigkeit des Krustentiers, all das ist nicht weniger als erneut grandios. — 10

Eine Wachtelkeule aus dem Südwesten Frankreichs (wo genau habe ich nicht erfragt, vielleicht aus dem Périgord) folgt, klassisch knusprig braun gebraten, mit einer glänzenden, duftenden Sauce, dazu gibt es Granatapfel und etwas Senf (etwas versteckt unter dem Geflügel). Ist es nicht großartig, dass Ramirez dieses köstliche Condiment nicht zu simpel erscheint? Aber es ist natürlich auch kein Dijon-Senf, sondern ein besonderer aus Japan. Nichts gegen Dijon-Senf, aber es gibt eben selbst von sehr guten Dingen noch Steigerungen. Hier erlebt man sie. Ich benutze Besteck und meine Finger, bis nichts mehr auf dem Teller übrigbleibt. — 10

Die Reise geht weiter mit Miyazaki-Rind der höchsten Qualitätsstufe A5, serviert auf einem glänzenden Saucenspiegel mit Pfeffer und Rettich. Das Fleisch ist so zart und buttrig, dass man kaum seine Zähne bemühen muss, um es zu zerkleinern, beinahe wie Fisch. Diese exklusive Delikatesse ist nicht mit einem Steak zu verwechseln. Das ist hier ist nichts für „Fleischliebhaber“, sondern für Liebhaber grandioser Produkte, ganz weit weg vom entbehrlichen Mittelmaß der allermeisten Fleischgerichte. — 10

Ein fruchtig säuerliches Grapefruit-Eis mit Sake-Gelée kühlt und beruhigt die aufgeheizten Sinne. Der Fruchtgeschmack ist intensiv, die Säure perfekt austariert, und der Sake sprenkelt etwas fernöstliche Exotik mit hinein. Die Grapefruit ist eine der besten, die ich je probiert habe. Süße, Säure, Frucht und Kälte sind hier perfekt im Einklang. — 10

Es folgt ein cremiges, weiches Eis mit intensivem Vanillegeschmack, das mit der dickflüssigen Karamellsauce bereits ein perfektes Dessert ergibt. Dünne Scheiben von weißem Trüffel setzen dem Erlebnis jedoch noch einen drauf. Die zuerst fordernde, dann vollends überzeugende Kombination aus dem geschmacklich intensiven Edelpilz mit dem leicht salzigen Karamell und dem kühlenden Eis ist zwar mehr als dekadent, aber geschmacklich ein unerwarteter Volltreffer. — 10

Und dann kommt noch ein Dessert. Noch ein Meisterwerk. Noch eine Referenz. Schokoladenpudding. Ich bin nicht der größte Freund von Schokoladendesserts, meist reizen mich Nachspeisen mit Früchten mehr. Die schillerndste Ausnahme ist der Schokoladenkuchen von Bernard Pacaud im L’Ambroisie ‒ und seit heute Abend auch dieser himmlische chocolate custard vom Chef’s Table in Manhattan. — 10

Das Dogma von Ramirez ist es, die Zutaten, die er für seine Gerichte ersinnt, in bestmöglicher Qualität zu beschaffen und sie so wohlschmeckend wie möglich zuzubereiten. Hierfür kann er auf scheinbar unerschöpfliche Ressourcen zurückgreifen sowie auf die vielfältigen logistischen Möglichkeiten dieser pulsierenden Metropole. Zur Zubereitung greift Ramirez auf die klassischen Methoden der japanischen und französischen Küche zurück, modernistische Techniken lehnt er dabei genauso ab wie Regionalität. Das ist ein hedonistischer, dekadenter, aber auch kosmopolitischer Ansatz, der perfekt zu New York passt und damit dann doch schon wieder ein bisschen regional ist.

Ich gehe spät, gehe hinaus in einen grell beleuchteten Supermarkt, durch Gänge mit Nudeln, Chips, Obst, Gemüse, Käse, hinaus auf die 37. Straße. Die Nacht ist klar und leuchtet, Sirenen heulen, Taxis hupen. Ich komme bald wieder. Mein nächster Termin steht bereits.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Chef’s Table at Brooklyn Fare (→ Website)
Chef de Cuisine: César Ramirez
Ort: New York City, USA
Datum dieses Besuchs: 25.10.2017
Guide Michelin (New York City 2017): ***
Meine Bewertung dieses Essens (?): 10
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Frantzén – Feuer, Butter, Japan und Trüffel

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Im Jahr 2008 eröffneten Björn Frantzén und Daniel Lindeberg in Stockholm das Frantzén/Lindeberg, das ich vor knapp fünf Jahren besuchte. Schon damals begeisterte mich dort eine weltoffene, eher weniger „nordische“ Küche mit modernem Gastronomiekonzept. Besonders die Möglichkeit, an einem kleinen Tresen den Köchen bei der Arbeit zuzusehen, war in Europa damals noch recht neu. 2013 verließ Partner Lindeberg das Restaurant, das fortan nur noch Frantzén hieß. Im Sommer letzten Jahres schloss Björn Frantzén das inzwischen mit zwei Michelin-Sternen ausgezeichnete Haus, um genau ein Jahr später sein neues Restaurant zu eröffnen.

Das brandneue Frantzén befindet sich in einem restaurierten Haus in Stockholms Altstadt. Ich bin ein paar Minuten zu spät, weil ein langwieriger Flugzeugtypwechsel am Hamburger Flughafen meinem knapp geplanten Essens-Trip einen Strich durch die Rechnung zu machen drohte.

Ich drücke eine Klingel, und eine freundliche Dame öffnet die Tür zu einer anderen Welt. Schon hier unten am Empfang ist erkennbar, dass jedes Detail darauf ausgelegt ist, dem Gast ein kulinarisch und gastfreundschaftlich einmaliges Erlebnis zu bieten. Das ist heutzutage paradoxerweise auch in einem Restaurant nicht selbstverständlich. Viel zu oft geht es um die Köche selbst und nicht um den Gast.

Im Eingangsbereich bestaunt man große, durchsichtige Kühlkammern mit einigen der Ingredienzen des späteren Menüs. Über einen dunklen Gang, der sicherlich ein bisschen vom Alinea in Chicago inspiriert ist, geht es dann per Fahrstuhl in einen Lounge-Bereich zum Aperitif.

Während ich einen Augenblick später in den gemütlichen Sesseln über das geschmackvolle Interieur staune, bringt einer der smarten Jungs ‒ Kellner kann man so jemanden ja kaum nennen ‒ einen Rollwagen mit Champagner. Einige Details gestalten diesen sonst oft langweiligen Akt, von dem ich sonst eher Abstand nehme, hier außergewöhnlich erfrischend. Erstens gibt es überhaupt schon mal eine exzellente Auswahl an Champagnern, u. a. von Jacques Selosses und Krug. Zweitens werden die (eisgekühlten) Flaschen zunächst stehend präsentiert, kurz mit ihren Eigenschafen beschrieben und auch erst bei der Auswahl durch den Gast geöffnet. Bereits durch diese entspannte Art des Präsentierens wird dem Gast jegliche Hemmung genommen. Es geht hier nicht um eine Auswahl zwischen Mittelmaß und „etwas Besonderem“, wie das bei uns gerne passiert. Hier soll sich der Gast einfach als Gast fühlen. Drittens wird hier auch nicht „null eins“ in ein Glas abgemessen, sondern einfach eine großzügige Menge in ein Zalto-Bordeaux-Glas eingeschenkt und auch wieder aufgefüllt, wenn es sich dem Ende zuneigt. Abgerechnet wird dennoch nur ein Betrag, z. B. faire 450 Kronen (ca. € 45) für meine „Krug“-Auswahl.

Das Prinzip, dass man hier nicht mit kleinlichen Mengen mäßiger Tropfen abgespeist wird, findet man auch in der Weinbegleitung wieder, die offensichtlich auch nicht nach dem Motto „ein Gang, ein Glas“ konzipiert wurde. Stattdessen steht einfach das Öffnen ein paar guter Flaschen im Vordergrund und nicht die ‒ ohnehin völlig überbewertete ‒ „Begleitung“ jedes Gangs. Für umgerechnet ca. € 165 gibt es hier fünf exzellente Weine, die ein Menü von über zehn Speisen begleiten (ca. € 300). Das klingt nach Spaß.

Zum Champagner gibt es erste Snacks.

Ein „Macaron“ mit Sanddornmarmelade, Kürbis und Foie Gras ist sehr präzise zubereitet und eröffnet das Essen bereits außergewöhnlich. Die Textur ist leicht und knusprig, die geschmacklichen Akzente süßlich-fruchtig und ansprechend bitter; kühle, cremige Gänseleber dient als verbindendes Element. Das ist begeisternd (9), genauso wie ein knuspriges Röllchen mit frittierten Kartoffelfäden, Felchenrogen, Dill und roter Zwiebel, bei dem erneut eine betörende Knusprigkeit, die überhaupt nicht nach Frittiertem schmeckt, ein herzhaftes, nordisches Geschmacksbild umzingelt (9).

Ein Gebäckschälchen mit Yuba (Milchhaut), Entenei, Ahornsirup und Trüffeln von der schwedischen Insel Gotland lässt mich ebenfalls genussvoll die Augen schließen, spätestens als am Gaumen das flüssige, warme Eigelb mit dem erdigen Trüffel zusammenkommt (9). Es folgt Chawanmushi (eine Art japanischer Eierstich) mit Zwiebelcreme, Zwiebelbouillon, Mandelcreme und Süßholz – ein kleines Meisterwerk zum Niederknien (10). Es setzt den Maßstab für alles Folgende.

Mit dem Glas Wein in der Hand wird man zu einer Anrichte gebeten. Ein weiterer smarter Kerl öffnet dort eine Klappe, in der, auf Eis gelagert, alle Hauptzutaten des heutigen Menüs präsentiert werden. Diese Idee ist einfach, aber grandios. Was gibt es Wichtigeres als die Zutaten? Eine derartige Präsentation nimmt kein Blatt vor den Mund und schafft Vertrauen. Auch toll an dieser Idee: man muss während des Essens nicht alles erläutert bekommen und kann sich aufs Genießen konzentrieren.

Die hier präsentierten Produkte sind schon mit bloßem Auge als Spitzenklasse identifizierbar. Kaisergranat von prächtiger Farbe und Größe, japanisches Wagyu der höchsten Kategorie A5 und Marmorierungsgrad 12, daneben ein schwedisches Äquivalent, schwarzer und weißer Trüffel, überfrische Jakobsmuscheln, Seeigel, Kaviar, Krebsscheren, eine Wachtel … Sogar eine frische Yuzu ist dabei, was mich am meisten beeindruckt. Ihr Duft könnte direkt in Parfumflakons abgefüllt werden.

Nach dieser einnehmenden Ouvertüre geht es eine weitere Etage nach oben ins eigentliche Restaurant. Die Atmosphäre ist spektakulär. Ein rechtwinkliger Tresen rahmt eine betriebsame Küche ein, in der Kupfertöpfe auf schweren Herdplatten stehen, und bei der hinten rechts Geflügel über offenem Feuer schmort. Das Personal ist jung und international, es wird Englisch gesprochen. Das Interieur wirkt wie eine Schnittmenge aus den amerikanischen Restaurants Saison und Chef’s Table at Brooklyn Fare. Ich habe mich selten so schnell so wohl in einem Restaurant gefühlt.

Für die Weinbegleitung wird der erste Korken gezogen. Dies geschieht für jeden „Tisch“ (d. h. für jede zusammenhängende Reservierung) individuell. Niemand Fremdes muss sich auf diese Weise eine Flasche teilen. Das ist eine Geste, die zwar für den Genuss nicht wichtig ist, die aber für ein sehr individuelles Erlebnis sorgt. Der erste Wein, der geöffnet wird, ist ein exzellenter 2016 Scharzhofberger Riesling Kabinett von Egon Müller.

Es gibt rohe Stückchen Jakobsmuschel, dazu dünne, eingelegte Radieschenscheiben, Meerrettich und eine Mayonnaise mit dem Rogen der Muschel. Man isst diese Speise, wie alle hier, mit Stäbchen. Die Qualität der Muschel, die sich zwischen den Radieschen versteckt, ist prägend. Jakobsmuschel ist ein Produkt, das mich nur in den allerbesten Qualitäten überzeugen kann (mäßige Exemplare schmecken oft muffig und „fischig“), roh ist das Thema noch einmal schwieriger. Diese Muschel ist kühl, „klar“ und nussig, die Sauce mit dem Rogen umso jodiger und intensiver. Radieschen und Rettich bringen einen animierenden, säurebetonten Gegenpol. Alle Geschmacksempfindungen werden angesprochen, es herrscht absoluter Wohlgeschmack. — 10

Als nächstes gießen Köche eine Vinaigrette mit französischem Olivenöl in ein Glas, die mit gerösteten Knochen vom Seesaibling aromatisiert wurde und hierdurch einen Duft nach entferntem Lagerfeuer trägt. In dem Glas befindet sich Tartar vom gleichen Fisch, darauf Kaviar („Rossini Prestige Selection“) sowie Algen, die ein wenig nach Frühlingszwiebel schmecken. Auch dieses Gericht ist eine Sensation. Es schmeckt nach Meer, Salz und Räucherschinken. Die Qualitäten brillieren wie ein Diamant. — 10

Für den nächsten Geniestreich ‒ denn es scheint jetzt schon so als hielte die Küche nur solche bereit ‒ gibt es einen der prachtvollsten Kaisergranate, die ich je gesehen habe. Er wurde wie ein übergroßes Stück Nigiri-Sushi auf wertvollem Koshihikari-Reis gebettet und dann, zusammen mit dem Reis, genau zwölf Sekunden lang frittiert. Durch diese kurze Zeit in starker Hitze ist das Krustentier perfekt gegart, und der Reis hat eine kurzweilige, knusprige Textur wie Puffreis.

Diesen bereits grandiosen Fingersnack stippt man in eine cremige Emulsion von mit Ingwer aromatisierter und mit Pulver von getrockneten grünen Zwiebeln geklärter Butter. Der Kaisergranat ist heiß und saftig, mit süßlich-nussigem Geschmack, die Creme dazu ist üppig und herzhaft und viel zu schnell verputzt, so viel Zeit man sich auch nimmt. Warmes Rosenwasser reinigt die Finger von den kostbaren Resten einer Speise mit extravaganten, selten erlebbaren Zutaten. — 10

Ein Bier wird eingeschenkt (Kuma Beer). Es ist ein speziell für dieses Restaurant hergestelltes japanisches Lager, das mit einem Anteil Reis gebraut wird. Es passt gut zur Situation „zwischen den Gängen“. Ich gelange ins Gespräch mit Köchen, genieße den Blick in das umtriebige, koordinierte Treiben in der Küche, aus der trotz offenen Feuers und Frittierens kein störender Geruch zu den Gästen vordringt. Es ist hier wirklich für jedes Detail gesorgt.

Der folgende Gang hat ausgelöstes Fleisch von über Birkenholz gegrillter Königskrabbe als Hauptzutat. Dazu gibt es eine scharfe Sauce, die so ähnlich wie die chinesische „XO-Sauce“ hergestellt wurde, aber deutlich feiner im Geschmack ist, weil sie anstatt mit Garnelen mit dem Fleisch des edlen Krebstiers hergestellt wurde. Die Schärfe zu dem feinen Krebsfleisch ist hemmungslos und genau deshalb exzellent. Das Fruchtfleisch von Australischer Fingerlimette fügt dem Ensemble eine kühlende Ebene hinzu, Chrysanthemenblätter eine blumige Bitterkeit. Alles ist perfekt zubereitet, geschmacklich äußerst feinsinnig kombiniert und von bester Qualität. — 10

Inzwischen steht ein weiterer Wein auf dem Tisch, ein sehr guter 2014er Corton von der Domaine Chandon de Briailles aus Burgund.

Kulinarisch geht es mit Steinbutt weiter. Dieser wurde im Ofen gegart und weist eine perlmuttfarben schimmernde Oberfläche auf, was auf einen besonderen Reifungsprozess hinweist. Das Reifen von Fisch ist nicht etwa mit nachlässigem Liegenlassen zu verwechseln. Vielmehr handelt es sich um eine recht aufwändige und in Japan sehr verbreitete Prozedur, um den Umamigeschmack des Fischs zu maximieren (hier gibt es weitere Informationen). Für diesen Gang wird ein prachtvolles Mittelstück des Steinbutts mit einer schaumigen, salzbetonten Buttersauce aufgetischt, die mit weißem Miso und Vin Jaune zubereitet wurde ‒ ein himmlisches Vergnügen mit dekadenter, süffiger Üppigkeit und lebhafter Säure. Der Fisch selbst ist fantastisch, die Textur fest und zart zugleich, der Geschmack intensiv und dennoch exquisit. Eine raffinierte Zutat, die angenehm mit den Sinnen spielt. Nussbutter mit Walnuss sowie kleine Trompetenpilze runden einen weiteren Gang ab, der nur mit Superlativen hinsichtlich Qualitäten, Zubereitungen und Wohlgeschmack zu beschreiben ist. — 10

Und es reißt nicht ab. Es folgt ein Stück in Butter ausgebackenes Stück Brot (Armer Ritter), auf das eine Mayonnaise mit gereiftem Parmesan sowie eine großzügige Menge 100-jährigen Balsamessigs aufgetragen wird. All das bildet die Basis für einen Berg an frisch gehobelten Périgord-Trüffeln, die die Speise vom Volumen her kurzerhand verdoppeln. Die Kombination von knusprigem, warmem Brot, mildsüßem Balsamico, herzhaftem Käse (Umami!) und erdigen Trüffeln ist an Gaumenfreude kaum zu überbieten. Frantzén, der heute nicht anwesend ist, und sein ebenso qualitätsversessener executive chef Marcus Jernmark, vermitteln über ihre Speisen konzentrierten Wohlgeschmack ohne Umschweife, direkt ins Dopamin ausschüttende Glückszentrum des Hirns. — 10

Sie hören damit auch nicht auf. Das nächste Arrangement wird wie ein Kaiseki-Gang serviert. Es handelt sich hierbei im Zentrum um verschiedene bittere Salate und Gemüse, manche Komponenten davon sind eingelegt, fermentiert und frittiert. Es ist eine Hommage an das ehemalige Gericht „Satio Tempestas“, das schon 2013 im Frantzén/Lindeberg aus über 50 Zutaten bestand.

Ein Duft von Lagerfeuer entströmt dem teils warmen, teils kalten Salat, am Gaumen ist alles knackig und frisch, was die Üppigkeit der vorherigen Speise willkommen kontrastiert. Und dann wird es noch besser. Als begleitende Zutaten ‒ und das ist nun die Weiterentwicklung dieses Gerichts ‒ gibt es knusprige Fischschuppen mit Kräutersalz, die man über den Salat sprenkelt wie Maldon- oder Murray-River-Salzflocken; es gibt geschlagene Buttermilch mit einem gerade erst zubereiteten Pesto aus Kresse und weiteren Kräutern, die eine bittere Parallele zu dem Salatgrün herstellen; und es gibt eine warme Infusion mit Yuzu, die wie ein Parfum duftet. Man trinkt sie zwischendurch aus einem Schälchen. Zwischendurch, das heißt zwischen dem häppchenweisen Genuss eines sehr komplex aufgebauten, aber dennoch äußerst zugänglichen Gerichts, das neben den profaneren Schmeichlern wie Fett, Salz und Räuchernoten auf eine ganz elegante Art Bitterkeit, Säure und knackiger Frische den Hof macht. Unfassbar. Ein Gericht wie ein Filmklassiker. — 10

Die leichten Bitternoten des Salats werden im folgenden Gericht in Form von karamellisiertem Chicorée und Birne wiederaufgenommen, sodass das Verabschieden des vorherigen Gerichts nicht allzu schwerfällt. Die grünen Komponenten begleitet eine halbierte Wachtel, die über Holzkohle gegart und mit einer herzhaften, dunklen Sauce lackiert wurde, die soeben in einer Entenpresse fertig gestellt wurde. Das Resultat ist eines der besten Stück Geflügel, die ich je probiert habe, ungemein zart und saftig, dabei aber nicht „roh“ wie das bei neumodischem Sous-vide-Garen immer praktiziert wird. Durch die Röstnoten, die durch den Saucenanstrich noch dunkler wirken, bekommt das Fleisch einen Geschmack als säße man gerade am Lagerfeuer. Gleichwohl kommt der feine Eigengeschmack des Vogels ganz zur Geltung. Das sind erneut, von der Wachtel bis zum Salat, sensationelle Qualitäten. — 10

Inzwischen im Glas ist ein 1997er Château Soutard aus Saint-Émilion; ein 2015er Lynmar Estate Pinot Noir aus dem Russin River Valley kommt auch noch von irgendwo her. Das bereitet alles ziemlich großen Trinkgenuss.

Der nächste Gang lautet „Sweden vs. Japan“ und präsentiert regionale Küche einmal nicht in egozentrischer Form, sondern, fast noch intelligenter, im direkten Vergleich zu einer weltweiten Referenz. Links auf dem Teller befinden sich Abschnitte vom Porterhouse eines schwedischen Rinds, das eine vergleichbare Aufzucht wie die japanischen Tiere genossen hat und ähnliche Attribute hinsichtlich des Fettgehalts und der Textur aufweist. Das japanische Stück der Qualität A5 aus Miyazaki, rechts auf dem Teller, schmeckt im spannenden Vergleich dazu etwas nussiger, buttriger und ist noch zarter am Gaumen; das schwedische Äquivalent hat dagegen einen präsenteren Eigengeschmack. Qualitätsfragen stellen sich bei beiden Produkten keine mehr. Doch wir wären nicht hier, wäre der Gang damit bereits zu Ende beschrieben. Die beiden Sorten läuternden Rindfleischs werden begleitet von einem dekadenten Potpourri mit weißem Albatrüffel, Enokipilzen, einer mit dem Bratenjus hergestellten Sauce bordelaise sowie einem Aioli mit Matsutake-Pilzen.

Dazu gibt es noch eine Parker House roll, eine Art Brioche mit dem Ursprung in Boston, die mit sehr viel Butter und karamellartigen Röstnoten ausgestattet ist. Man tunkt sie in ein grünes Elixir, bei dem u. a. Zwiebeln eine Rolle spielen. Es ist alles zum Niederknien. — 10

Ein „Tee“ aus Rinderabschnitten, fermentierten Pilzen und „Trüffel-Tofu“ zählt danach zu den handwerklich und geschmacklich besten heißen Flüssigkeiten, die ich je zu mir genommen habe. — 10

Nach einer angenehmen Pause, in der ich mich schon mal mit einer jungen, aber sehr guten 2016er Beerenauslese von Kracher aus dem Burgenland anfreunde, geht es mit dem Dessert weiter.

In drei verschiedene Pfeffersorten eingelegte Blaubeeren sind von frischen Kiefernnadeln umzingelt und mit Birkenöl aromatisiert. Dem Schälchen entweicht ein betörendes Aromabouquet von Nadelwald und Beeren. Letztere sind dunkel und schwer und schmecken intensiv fruchtig und „lila“, wie Veilchen. Meine Assoziationen sind schwere Parfüms von Serge Lutens oder Tom Ford mit edlen Ingredienzen. Daneben ein Meringue-Gebäck, das im Inneren ein cremiges Vanilleeis aus Büffelmilch zum Vorschein bringt. Das fruchtig süße, kühle und luftig-knusprige Dessert ist eine der besten Süßspeisen, die ich je genossen habe, vielleicht sogar die beste. Mein Puls schlägt höher, ich bin völlig aufgewühlt, selbst nach so vielen Gängen. — 10

Ein Stockwerk tiefer lässt man den Abend dann ausklingen. Es wäre gar nicht möglich, jetzt einfach auf die Straße hinaus zu gehen, viel zu intensiv waren die Eindrücke der letzten drei Stunden. Am Kamin geht es weiter.

Ein Eis mit Meyer-Zitrone und Eisenkraut (10); eine Praline mit Foie Gras und Rosine (9); eine Art Franzbrötchen mit viel Butter und viel Kardamom, das nach Sauna-Aufguss schmeckt (10).

Eine leise, karibische E-Gitarre aus der Musikanalge und die Wärme des Kaminfeuers rauben mir dann die letzten Sinne. Ich schlummere weg.

Das war’s. Gute Nacht. Willkommen im neuen Frantzén.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Frantzén (→ Website)
Chef de Cuisine: Björn Frantzén
Ort: Stockholm, Schweden
Datum dieses Besuchs: 01.12.2017
Guide Michelin (Nordic Countries 2017): noch nicht bewertet
Meine Bewertung dieses Essens (?): 10
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Tourniert: New York City

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Im Oktober dieses Jahres besuchte ich mal wieder eine der für mich gastronomisch spannendsten Städte: New York City. Über die „wichtigsten“ Restaurantbesuche berichtete ich bereits ausführlich, die weiteren fasse ich etwas kompakter in dieser neuen Ausgabe von Tourniert zusammen. Mein Fazit: die nächste Reise ist schon gebucht.

Inhalt:

→ Le Bernardin
→ Russ & Daughters Cafe
→ Marea
→ Babbo
→ The Grill


Le Bernardin

Eric Riperts erfolgreiches, auf exquisite Fischgerichte spezialisiertes Restaurant in Midtown Manhattan lasse ich bei kaum einem New-York-Besuch links liegen. Meinen kühnen Plan, an einem Tag sowohl mittags als auch abends hier einzukehren ‒ oder gleich hier zu bleiben ‒, habe ich allerdings noch nicht in die Tat umgesetzt. Meist bin ich zum Lunch hier. Ein paar leichte Gerichte von der Karte, dazu guten Weißwein, kombiniert mit der einlullenden und lebhaften Atmosphäre sind ein mir immer gelingendes Rezept für den Start in einen beschwingten Freizeitnachmittag.

Allein die Lachsrillette zum Aperitif ist ein Genuss. Lachs ‒ der Fisch, der bei uns zulande oft ein unwürdiges Ende in fischig-traniger Qualität, eingefroren und wiederaufgetaut als geschmacksneutrale Füllung belangloser Maki-Rollen oder übergart zwischen Sahne und Bandnudeln sein jähes Ende findet ‒ ist in New York so etwas wie eine Herzenszutat. Selbst Bagel bekommt man mit diesem Fisch mühelos in beispielhaften Qualitäten (siehe unten). Für den „Brotaufstrich“ im Le Bernardin wurde gewürfelter Lachs leicht in Weißwein und Schalotten pochiert, dazu kommen noch geräucherte Stücke. Eine leichte Mayonnaise mit Zitronensaft, Salz, Pfeffer und Schnittlauch machen diese einfache Speise zu einem Klassiker, den ich ohne mit der Wimper zu zucken gegen die meisten Amuse-Bouches, die einem mancherorts serviert werden, eintauschen würde. Auch das Brot, das dazu serviert wird, dünnes, mit Olivenöl knusprig geröstetes Baguette, bereitet Genuss. Das alles „zum Reinlegen“, und genau das darf und sollte gehobene Küche durchaus oft sein. — 8

Aus der umfangreichen Karte, aus der sich alles flexibel kombinieren lässt, wähle ich dann Kampachi (Kleine Bernstein-Stachelmakrele). Sie wird, ganz puristisch, als Sashimi in dicken Tranchen serviert, den Rest des Tellers schmücken Komponenten, die das Geschmacksbild eines griechischen Salats thematisieren: schwarze Oliven, Chicorée, Tomate, Frischkäse, Kräuter, Olivenöl. Die Fischqualität ist herausragend, der etwas zu simple Salat passt jedoch nicht so recht zu dieser Spitzenqualität, besonders der Fetakäse und die eher gewöhnlichen Kirschtomaten haben auf diesem Teller eigentlich nichts verloren. Wegen des Fischs jedoch allemal hervorragend. — 8

Ausgelöster Hummer mit Tagliatelle und einer verführerischen, buttrigen Sauce mit schwarzem Périgord-Trüffel reiht sich danach in die Kategorie „grandioses Wohlfühlessen“ ein. Die Qualität des Hummers ist auf Referenzniveau ‒ man kann das mit bloßem Auge erkennen ‒, die Trüffel sind frisch und erdig, auch die Pasta bringt bestes Handwerk zum Vorschein. Unscheinbar, wunderbar, schlicht, einfach perfekt. — 10

Zwei große Filetstücke Seezunge kommen goldbraun gebraten auf den Teller des nächsten Gangs. Eine Zitronen-Kartoffel-Mousseline und eine Schalotten-Emulsion steuern appetitanregende Säure bei. Ein klassisches, köstliches Gericht ‒ mit einem Problem: der Fisch ist deutlich zu weit gegart. Weil das Gericht so gut schmeckt, esse ich zunächst weiter, merke den Fauxpas jedoch wenig später an. Eine kurze Verschnaufpause später steht das Gericht erneut vor mir, diesmal tatsächlich tadellos gebraten: saftig und zart und auch deutlich heißer als bei dem Teller zuvor. Dennoch ein etwas schweres Gericht. In Summe 7,5. (Beide Teller stehen später wegen des Fauxpas nicht auf der Rechnung.)

Als Intermezzo vor dem Dessert folgt eine gesalzene Karamellcreme, ein Klassiker des Hauses und so gut wie immer (9). Das anschließende Dessert mit vielversprechenden Zutaten ‒ Kokosnuss, Ananas, Piña-Colada-Sauce ‒ weist wunderbare Kokosaromen auf, ist mir aber etwas zu homogen, sowohl von der etwas „pappigen“ Textur des Kokosnussimitats als auch von der einheitlichen Temperatur der meisten Komponenten. Ein kühles Eis mit Zitrusfrüchten wäre zum Beispiel keine schlechte Ergänzung. Trotz allem ist das Kritik auf hohem Niveau und in Summe hervorragend. — 8

Trotz einiger Inkonsistenzen, die das attestierte Niveau von drei Sternen dieses Mal nicht klar bestätigen, war das ein exzellentes und unkompliziertes Mittagessen (Menü prix fixe ca. € 74), weswegen ich das Restaurant in bester Laune verlasse. Hier nachher noch mal zum Abendessen einzukehren wäre eigentlich nicht die schlechteste Idee. Aber es gibt andere Pläne.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Le Bernardin (→ Website)
Chef de Cuisine: Eric Ripert
Ort: New York City, USA
Datum dieses Besuchs: 23.10.2017
Guide Michelin (New York City 2017): ***
Meine Bewertung dieses Essens (?): 8,5
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Russ & Daughters Cafe (Jewish Museum)

Bewohnt man in Manhattan ein Hotel in der Nähe des südlichen Central Park, lohnt sich bei gutem Wetter ein morgendlicher Spaziergang entlang der 5th Avenue ‒ oder direkt durch den Park ‒ in nördlicher Richtung bis zum Jewish Museum. Im Kellergeschoss befindet sich dort die zweite und jüngste Filiale des Restaurants Russ & Daughters Cafe. Die legendäre Gastronomie ist eine über hundertjährige Erfolgsgeschichte. Es ist eine jüdische Einwanderergeschichte aus dem Bilderbuch, eine von vielen, die New York zu New York macht.

Das unprätentiöse Tageslokal ist spezialisiert auf Räucherfisch, Kaviar, Gebäck und weitere Spezialitäten. Man kann hier den ganzen Tag über einkehren, es gibt auch ein Ladengeschäft und einen Lieferservice. Schon die Auslage mit verschiedenen Lachssorten und anderem Räucherfisch ist appetitanregend. Das Ambiente in monochromer Marmor-, Kachel-, Edelstahl- und Ziegelsteinoptik schreit New York City aus allen Poren. Auch die Gestaltung der Speisekarte, die hier bistrotypisch auch als Tellerunterlage dient, ist mit ihrer klaren Typografie in fetten Versalien eindeutig hier beheimatet.

Mir gefällt das alles sehr, ich fühle mich hier wohler als in vielen Spitzenrestaurants. Denn ob man hier nur zum Filterkaffee mit Toast oder zu Kaviar und Champagner einkehrt, interessiert hier ‒ im besten Sinn ‒ niemanden. Hier unten ist jeder gleich, und alle Dinge werden mit demselben Anspruch serviert. Auch das ist typisch für diese Stadt.

Sehr gut ist zum Beispiel gleich der Klassiker des Hauses, „The Classic“ (ca. € 19). Man erhält hiermit ein Gebäckstück seiner Wahl (z. B. Bagel), dazu geräucherten „Gaspe Nova“Lachs von sehr guter Qualität. Diese Sorte ist eher mild und dennoch vollmundig. Der Qualitätsaspekt macht sich auch in allen anderen Zutaten bemerkbar. Die Ochsenherztomate ist geschmacksintensiv und saftig, selbst über die scheinbar banalen Zwiebeln und Kapern kann man nicht einfach so hinwegsehen. Das sind Qualitätsdetails, die bei uns zulande auf dem Preisniveau völlig unbekannt sind. Im Rahmen seiner Möglichkeiten: 6,9.

Auch gut: Shakshouka (ca. € 19), eine israelische Spezialität in Form einer Art Auflauf bestehend aus Tomaten, karamellisierten Zwiebeln, Chili und Ei. Diese herzhaft-süffige Sauce genießt man hier mit einem Roggenbrot und einem frischen grünen Salat. Einwandfrei und sehr empfehlenswert. — 6,9

Das hier ist eigentlich nichts anderes als ein gutes Frühstückslokal ‒ und doch ist es so viel mehr. Es verkörpert genau die Art von alltäglicher Gastronomie mit einem Sinn für Qualität, die diese Stadt gastronomisch und kulinarisch so reich macht.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Russ & Daughters Cafe (Jewish Muesum) (→ Website)
Ort: New York City, USA
Datum dieses Besuchs: 22.10.2017
Guide Michelin (New York City 2017): noch nicht bewertet (andere Filiale: Bib Gourmand)
Meine Bewertung dieses Essens (?): 6,9
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Marea

Die 59. Straße in Manhattan hat einen besonderen Charme. Die letzten hohen Fassaden des gesamten südlichen Manhattans strecken sich hier noch einmal in die Luft, bevor sie der Lichtung dieser Stadt, dem Central Park, Platz machen. Im Westen der Straße, kurz vor dem Columbus Circle, befindet sich das Marea, ein italienisches Restaurant, dessen Küche mit zwei Michelin-Sternen ausgezeichnet ist.

Das Ambiente ist sachlich, dennoch angenehm. Es gibt ein Prix-Fixe-Lunch für umgerechnet ca. € 48 und eine Weinkarte mit einer vielfältigen Auswahl, auch an sehr guten offenen Weinen. Das ist besonders dann angenehm, wenn man entweder viel Abwechslung sucht oder nicht viel trinken möchte.

Die Speisekarte schreit danach, komplett durchprobiert zu werden. Kleine Vorspeisen mit rohen Fisch-Spezialitäten, verführerisch klingende Pasta, Trüffel, Fisch, Fleisch und mehr. Ich glaube, ich muss wiederkommen, dabei habe ich noch nicht einmal etwas bestellt.

Aber der Missstand ändert sich rasch. Von der „rohen“ Sektion probiere ich Schnapper, serviert in fingerdicken Stückchen mit einem Chip knuspriger Haut, Limette und Koriander (8) sowie danach Makrele mit leicht süßlicher, erstaunlich gut passender Feige und Fenchel (8). Beides sind ganz exzellente Häppchen. Die Frische springt einem regelrecht entgegen, und meine Freude allein über diese kleinen Speisen ist groß.

Danach wähle ich einen Klassiker des Restaurants, Fusilli mit in Rotwein geschmortem Oktopus, Knochenmark und Hartweizenpasta. Das Gericht ist erwartungsgemäß ein großer Gaumenschmeichler, süffig, dicht, heiß und „schlotzig“. Das ist ein Pastateller auf Spitzenniveau, dem für eine perfekte Bewertung jedoch ein bisschen was in Richtung Herzhaftigkeit, Kräuteraromen und vielleicht ganz leichter Schärfe fehlt. Doch auch so: ein enorm gutes ‒ und auch sehr sättigendes ‒ Gericht. — 8

Noch ein caffè, das war es dann schon mit einem kurzen, exzellenten Lunch. In ein paar Stunden geht es im Eleven Madison Park weiter. Aber schon diese wenigen Speisen werden das Marea in meine Agenda künftiger New-York-Besuche als Option fest verankern. Bis dahin. Ciao!

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Marea (→ Website)
Chef de Cuisine: Michael White
Ort: New York City, USA
Datum dieses Besuchs: 24.10.2017
Guide Michelin (New York City 2017): **
Meine Bewertung dieses Essens (?): 8
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Babbo

Wo wir schon mal dabei sind: nirgendwo gehe ich lieber italienisch essen als in New York. In einer Einwanderermetropole, in der jeder Zwölfte Italiener ist, ist diese Präferenz auch nicht verwerflich. 24 Stunden nach meinem Lunch im Marea statte ich einem der Klassiker schlechthin zum ersten Mal einen Besuch ab, dem Restaurant Babbo, das Aushängeschild des berühmt-berüchtigten Gastronoms Mario Batali.

Das Babbo ist ein „Nachbarschaftsrestaurant“ im Greenwich Village mit urigem Charme. Vollkommen unprätentiös entkräftet auch dieses Restaurant alle Klischees hinsichtlich Sternerestaurants, denen man in Deutschland immer wieder begegnet.

Am Tresen gibt es hier erst mal gutes Olivenöl in ein Schälchen eingeschenkt, dazu tadellos frisches Weißbrot und ebenso guten Chardonnay aus dem Aostatal (Les Crêtes „Cuvée Bois“ 2014 für ca. € 17, mit Coravin ausgeschenkt). Gut gewürzte Kichererbsen mit schwarzen Oliven und Knoblauch zum Aperitif sind einfach, aber gut (6,5).

Als Vorspeise wähle ich Calamaretti „alla Piasta“ (ca. € 13). Die sind scharf angebraten, werden mit weißen Bohnen, Kräutern und Chilischoten serviert und ergeben eine frische, bodenständige Vorspeise ohne Allüren, aber mit genügend Anspruch (6,9).

Danach probiere ich zwei Pastateller, einmal Orechiette mit Brokkoli-Pesto und scharfer kalabrischer Salami (ca. € 15) ‒ ein pikanter, heißer, süffiger Pastateller (7) ‒, sowie gefüllte Nudeln (pork belly pyramids, ca. € 18) mit Schweinebauch, Pilzen und einem Parmesansud, der den Gaumen mit betörendem Umami flutet, absolut hervorragend (8).

Satter als geplant, aber so zufrieden wie erhofft, verlasse ich das Babbo, das ich nur zu gerne in meiner Nachbarschaft wüsste.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Marea (→ Website)
Chef de Cuisine: Michael White
Ort: New York City, USA
Datum dieses Besuchs: 25.10.2017
Guide Michelin (New York City 2017): **
Meine Bewertung dieses Essens (?): 7
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The Grill

Über dieses Restaurant kann eigentlich nur berichten, wer damals und überhaupt mit dabei war. Damals, das heißt im New York der 60er und 70er Jahre, „überhaupt mit dabei“ heißt als einer von den oberen Promille Manhattans, für die das Restaurant Four Seasons, das nicht mit der gleichnamigen Hotelkette zu verwechseln ist, Jahrzehnte lang eine Art zweite Heimat darstellte.

Im bronzefarbenen, von Ludwig Mies van der Rohe komplett entworfenen Seagram Building (ja, das ist ein Míro-Original im Eingang), hat die High Society Feste gefeiert ‒ Geburtstage, Hochzeiten, College-Abschlüsse ihrer Ivy-League-Kinder, Wochenenden ‒, hier wurden Milliardendeals beim Lunch beschlossen und politische Entscheidungen zementiert. Der in den USA gängige Begriff power lunch wurde hier geboren.

Aber über dieses Restaurant berichte ich auch nicht, denn es ist seit letztem Jahr Geschichte. Nach dem planmäßigen Auslaufen des Pachtvertrags haben neue Betreiber inzwischen die Flächen übernommen und versuchen nun, den Charme von damals wieder einzufangen. Es geht um Luxus und Geld, es geht um sehen und gesehen werden, aber auch um Diskretion und klassischen Stil.

Das The Grill ‒ so heißt das Restaurant jetzt ‒ teilt sich die erste Etage des Gebäudes mit dem Schwesterrestaurant The Pool, Letzteres ist eher auf Fisch spezialisiert und hat tatsächlich einen kleinen Pool in der Mitte des Saals.

Im The Grill gibt es eine Karte wie man sie in einem Steakhaus oder einer Brasserie erwarten würde. Es gibt Foie Gras, Austern, Schinkenplatten, Krustentier-Etagèren, Steak Tartare, Salate, Suppen, Hummer, Fleisch und Geflügel, flambierte Desserts. Vieles davon wird am Tisch zubereitet, der Show wegen. Die Preise sind gepfeffert, aber gar nicht so schlimm wie man es sich hier vermutlich erlauben könnte. Das macht die Weinkarte wieder wett, die z. B. eine der größten Sammlungen Château d’Yquem beinhaltet (alle im fünfstelligen Preisbereich) oder japanischen Whisky für 1.340 Dollar ‒ pro Glas.

Die Atmosphäre ist beeindruckend, fast schon etwas einschüchternd. Ein gigantischer Saal, Sitzbänke für viele in Schwarz gekleidete Gäste, stangenförmige Leuchtelemente an der hohen Decke, mehrere Sitzebenen und eine dunkle, bronzefarbene Optik sorgen für viel Theatralik. Ganz klar, hier muss man sich hocharbeiten.

Ich probiere einen Krabbencocktail, schön old school, mit hausgemachten Dips und Zitrone, zum Tagespreis von ca. € 67. Das ist zwar eine der kostspieligeren Speisen, aber das Qualitätsniveau und der Spaßfaktor sind hoch. Die Garnelen sind von hervorragender Qualität, zart und leicht süßlich, perfekt gegart, ein würzig-pikanter Tomatendip dazu macht Freude. — 7

Das Steak, New York Strip (ca. € 62), kommt in Scheiben und mit verschiedenen Beilagen, u. a. gegrillter wilder Brokkoli (zzgl. ca. € 13), Bratkartoffeln (ca. € 13), Knoblauch und diversen Saucen an den Tisch. Die Fleischqualität ist sehr gut, hat aber kein Referenzniveau. Dennoch ist das einwandfreier Steak-Spaß. Ein 2015er Pinot Noir von Williams Selyem aus dem Sonoma County (ca. € 210) ist nicht die klassischste Wahl zum Fleisch, passt aber mit seiner sonnigen Würze dennoch hervorragend. — 7

Ein am Tisch flambierter Brandy Apple Melba ist dann noch mal ein wunderbar üppiges, ganz wahrhaftiges Dessert und ein toller Abschluss. — 7

Die eindrucksvolle Atmosphäre, die vielfältige Karte und ein auffällig guter Service (selbst wenn man „nur“ eine dreistellige Rechnung hinterlässt) machen Appetit auf eine gelegentliche Wiederholung und sind vermutlich eine würdige Nachfolge der einstigen Restaurantlegende.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: The Grill (→ Website)
Chef de Cuisine: Mario Carbone
Ort: New York City, USA
Datum dieses Besuchs: 23.10.2017
Guide Michelin (New York City 2017): nocht nicht bewertet
Meine Bewertung dieses Essens (?): 7
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Mein Top 10 Gerichte 2017

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Anbei eine (chronologische) Auswahl von zehn Gerichten, die mich in diesem Jahr am meisten beeindruckt haben. Es sind Gerichte, die mir zu dem jeweiligen Restaurantbesuch sofort ins Gedächtnis kommen, deren Wohlgeschmack, Handwerk und Produktqualitäten sich auf höchstem Niveau befinden. Es gibt durchaus noch mehr Gerichte, die in dieser Liste Platz finden könnten, aber selbst unter den besten der besten Gerichte musste eine Auswahl her. Hier ist sie.

8 ½ Signature Tiramisù
8 ½ Otto e Mezzo Bombana**, Shanghai, China (→ Bericht)


Périgord-Trüffel, im Ganzen gegart
Epicure***, Paris, Frankreich (→ Bericht)


Brasse, Kombu-Dashi
Nakamura***, Kyoto, Japan (→ Bericht)


Abalone, Oktopus
Sushi Saito***, Tokio, Japan (→ Bericht)


Seeigel, Bouillabaisse-Gelee
Manresa***, Los Gatos, USA (→ Bericht)


Abalone, Kombu
Single Thread, Healdsburg, USA (→ Bericht)


Kalbskopf, Vinaigrette
Le Bois sans Feuilles (Troisgros)***, Ouches, Frankreich (→ Bericht)


Kohlenfisch, Matsutake-Pilze
Chef’s Table at Brooklyn Fare***, New York City, USA (→ Bericht)


Steinbutt, Nussbutter
Frantzén, Stockholm, Schweden (→ Bericht)


Salat, „hommage Satio Tempestas“
Frantzén, Stockholm, Schweden (→ Bericht)

Geisels Werneckhof ‒ Shiso in Schwabing

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Wer zwischen den gutbürgerlichen Fassaden der Werneckstraße im Münchner Stadtteil Schwabing spazieren geht, könnte hinter dem Namen Geisels Werneckhof ein gepflegtes bayerisches Wirtshaus erwarten. Wohl dem, der die Speisekarte außen studiert, denn Ingredienzen wie Umeboshi, Yuzu, Shiso und Seeigel sprechen zweifellos keine landestypische Mundart.

Es ist vielmehr die Sprache von deutsch-japanischem Küchenchef Tohru Nakamura, der in seiner Vita unter anderem eine Position als Souschef in Sergio Hermans ehemaligen, legendären Oud Sluis sowie Stationen im Vendôme und im Tokioter Ishikawa aufführen kann.

All das klingt sehr vielversprechend. Lediglich die Gastronomie an sich passt augenscheinlich nicht zu den kosmopolitischen Attributen, die Speisekarte und Vita des Küchenchefs schmücken. Das Interieur des denkmalgeschützten Hauses konfrontiert den Gast mit einer regelrecht sakral anmutenden Mischung aus kargen, weiß verputzten Wänden, blendend hell beleuchteten Tischtüchern, rotbespannten Sitzbänken und Jugendstilmöbeln. Hier kann man vermutlich ohne Zweifel einen schönen Abend verbringen ‒ genau das habe ich jetzt auch vor ‒, aber dass Küche und Gastronomie hier nicht aus einem Guss sind, lässt sich nicht verbergen. Damit man mich nicht falsch versteht: das muss es auch gar nicht.

Zu einem Glas weißen Bordeaux (2010 Virginie de Valandraud, € 17,50) gibt es dann vor dem flexibel kombinierbaren Menü (5-7 Gänge für € 150-180) erste Amuse-Bouches.

Ein Rindertartar von exzellenter Qualität und mit perfekter, kühler Temperatur, wird auf knusprigem Krabbenchip zusammen mit Lotuswurzel und einer kräuterigen Sauce serviert (8,5); ein soufflierter Flammkuchenteig mit roh marinierter Nordseegarnele und Lardo hat eine angenehm leichte, knusprige Textur, die dem rohen Krustentier genug Paroli bietet, um nicht „schleimig“ zu wirken. Etwas weihnachtliche Aromen passen originell und gelungen zur Jahreszeit (7,5).

Ein kleines Schälchen mit roher Gelbschwanzmakrele (Hamachi) mit einem kühlenden Gel von Holunderblüte und weiteren Komponenten stellt exzellente Fischqualität zur Schau sowie ein kurzweiliges Spiel mit Frische, Säure und leichter Schärfe, das begeistert und nachwirkt.— 9

Ein im Anschluss gereichtes Chawanmushi mit Saiblingskaviar, Haselnüssen und Schnittlauch demonstriert perfektes Handwerk und ein ansprechendes japanisches Geschmacksbild, das nur durch die Haselnüsse charmant in einen (nicht allzu) westlichen Kontext gerückt wird. Ein dazu gereichter Becher mit Dashi duftet nach Fernost und schließt die Reihe an herausragenden Amuse-Bouches beeindruckend ab.— 9

Ich bin bereits nach diesen Einstimmungen bester Laune und sehr erfreut über die dargebotenen Qualitäten und frischen, leichten Geschmacksbilder. Zu sehr gutem, frisch gebackenem Weißbrot mit einer dünnen Kruste wird pikant-würziges Schnittlauchöl, eine Tofucreme mit Kresse sowie französische Butter serviert, alles tadellos.

Der erste Gang des Menüs setzt rohen Thunfisch in Szene, und zwar sowohl ein größeres Stück vom mageren Rücken als auch kleinere Stücke vom fettigeren Bauch. Obwohl diese Zutaten bereits komplett für sich alleine stehen könnten ‒ die Qualität ist hervorragend ‒, kombiniert Nakamura sie hier unter anderem mit einer säurebetonten Kombuvinaigrette und Saiblingskaviar, reifer Avocado und Perilla (Shiso). Keine der Komponenten stiehlt dabei dem exzellenten Hauptdarsteller die Schau, stattdessen wirkt jede Zutat auf ihre Art unterstützend, und zwar sowohl gegenüber dem Thunfisch als auch in Bezug auf die anderen Mitspieler. Ein Komplexes, sehr harmonisches Zusammenspiel auf qualitativ weiterhin sehr hohem Niveau. — 8,9

Es folgt Wolfsbarsch als dünne Filet-Tranche, scharf auf der Haut gebraten und ebenfalls von exzellenter Qualität. Dem Fisch steht eine Reihe von vegetarischen Komponenten gegenüber, die optisch irrtümlich einen trockenen Eindruck vermitteln, sich am Gaumen aber dann harmonisch ‒ leicht erdig und frisch ‒ mit allem zusammenfügen. Zwei Saucen ‒ eine cremige Beurre Blanc sowie eine leichtere, angenehm säuerliche Sauce mit Tintenfischtinte ‒ dienen als Bindeglieder. Der Teller an sich ist bereits hervorragend, ein begleitendes Schälchen mit Pulpo „à la pil pil“ mit allem Möglichen an süffigen, pikanten, herzhaften Zutaten, ist die Wucht. — 9

Das bisher exzellente Menü fährt fort mit Schweinekinn, zart und saftig, darauf ist ein „Salat“ von Taschenkrebsfleisch und weiteren Zutaten wie Rettich, Kräuter und knusprigen Komponenten angerichtet. Umgeben ist das Konstrukt in einer phänomenalen Seeigel-Beurre-Blanc und Kräuteröl. Mikan, eine japanische Mandarinenart, fügt eine fernöstliche Exotik hinzu, die sich sehr harmonisch in das Geschmacksbild einzufügen weiß. Eine leichte Schärfe ist ebenfalls präsent und komplettiert ein erneut herausragendes Gericht.— 9

Der Hauptgang mit Wildhase ist dann im Wesentlichen nach klassisch französischen Maßgaben zubereitet. Ein großzügig portioniertes Stück Filet, das in Beifuß mariniert wurde, liegt in einer grandiosen Sauce mit schwarzem Trüffel. Die „Gemüsebeilagen“ bestehen, unter anderem, aus Kerbelwurzel, frischem Kerbel und Schwarzwurzel. Sie sind angenehm authentisch, fügen eine „frische Erdigkeit“ hinzu und sind damit geschmacklich absolut stimmig zu Hase und Trüffel. Wildhase ist naturgemäß nicht immer besonders zart, aber gerade in dieser Hinsicht wurde hier ein Optimum erreicht. Das Kännchen mit der Sauce leere ich vollständig.— 9

Es gibt danach reife, sehr aromatische Mango, die unter anderem mit schwarzem Sesam (auch als Chips), jungem Thai-Basilikum (auch als Saat) und Yuzu serviert wird. Die fruchtig-exotische Komposition ist auf ganz hohem Niveau, die Aromen sind wie ein Parfüm. Die verspielte Anrichtweise wäre da gar nicht vonnöten.— 9

Drei Desserts markieren das „süße Ende“.

Eine Traubentarte mit Grüntee-Chibouste und Mandeln ist leicht frisch, aber etwas verhalten vom Aroma, verfügt dafür aber über einen exzellent zubereiteten Mürbeteig (7); ein Blutorangen-Guaven-Sorbet mit Estragon und Arbequina-Olivenöl hat eine wunderbare, exotische Note (9).

Ein neben dem Tisch finalisiertes Dessert bestehend aus einem Kürbis-„Dim Sum“ mit warmem Teig und süßer Kürbisfüllung ist zunächst „nur“ hervorragend, aber in Kombination mit Sanddorn, Kaki und Veilchen eines der besten Desserts des Jahres. Mit exotischen Aromen kriegt man mich ja, aber so feinsinnig wie hier wird das selten beherrscht.— 9

Eine Überraschung in Schwabing! Überraschung deshalb, weil man von Geisels Werneckhof vergleichsweise wenig hört, wenn man über die Münchener Restaurantlandschaft spricht. Dabei gehört das Restaurant zweifellos in Gespräche weit über München hinaus. Wenngleich: das Restaurant nicht unbedingt, sondern das hervorragende Essen von Nakamura. Das Haus an sich, mit seinem sperrigen Namen und retrogradem Charme, lässt sich wohl eher schwierig vermarkten. Aber hiermit ist es ja gesagt. Auf nach Schwabing.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Geisels Werneckhof (→ Website)
Chef de Cuisine: Tohru Nakamura
Ort: München, Deutschland
Datum dieses Besuchs: 25.11.2017
Guide Michelin (D 2017): **
Meine Bewertung dieses Essens: 8,9 (Was beudeutet das?)
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Ultraviolet ‒ das Meer, das man tanzen sieht

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Eine Get-together mit Fremden. Eine Fahrt in einem Kleinbus. Vögel zwitschern, Charles Trenet singt „La Mer“. Ein Champagnerkorken knallt, Kohlensäure schäumt. Auf einem kleinen Bildschirm Szenen aus „Inspector Columbo“ und alte Formel-1-Rennen in Schwarzweiß, als der Sport noch Klasse hatte. Wieder Vogelgezwitscher, die verregneten und beschlagenen Scheiben lassen kaum einen Blick nach draußen zu. Der Zielort ist „irgendwo in Shanghai“.

Als wir ankommen ‒ wir, das ist eine Gruppe von zehn Gästen, die lange im Voraus Tickets für das heutige „UVA“-Menü (ca. € 514) des Drei-Sterne-Restaurants Ultraviolet erworben haben ‒ werden irgendwann in einem düsteren Hinterhof ausgeladen. Ich markiere den Ort in Google Maps, man weiß ja nie.

An der Wand neben einem Lastenaufzug dann die Bestätigung, dass man hier richtig ist. Das ist wohl der coolste Ort, an dem eine Plakette mit drei Michelin-Sternen hängt.

Zugegeben, ganz so zwielichtig geht das alles nicht vonstatten, schließlich sind noch unsere „Hosts“ dabei, Kim und Collin. Sie sind sehr freundlich und erklären einem ein bisschen was über den Ablauf des Abends. Zu viel wird allerdings nicht verraten.

Ich bin guter Laune, aber skeptisch. Nicht etwa, weil ich im Begriff bin, ein Drei-Sterne-Restaurant über einen dunklen Hinterhof zu betreten, sondern wegen der Frage, ob mir das multisensorische Ess-Erlebnis des französischen Küchenchefs Paul Pairet gefallen wird. Ich bin bekanntlich der Letzte, der irgendwelche Gimmicks zum Essen benötigt. Ich benötige keine äußeren Stimuli, damit mich Essen emotional einfängt. Gerade ich! Ein Großteil meiner Passion für Essen ist einem Schlüsselerlebnis vor ungefähr zehn Jahren im L’Arnsbourg geschuldet, als mich das Probieren eines Fichtensprossensorbets völlig unvermittelt zurück zum Nachmittagsspaziergang in den Wald transportierte und mir dabei die Tränen kamen. Hätte mir jemand währenddessen einen Nadelwald auf einen Bildschirm projiziert und röhrende Hirsche vorgespielt, hätte mir das alles ruiniert. Oder vielleicht doch nicht? Der Nadelwald war immerhin noch vom Restaurant aus sichtbar, angestrahlt von Scheinwerfern. Und ist das Essen im Mirazur nicht gerade auch deshalb so bewegend, weil man diesen wundervollen Blick aufs Mittelmeer hat?

Meine Neugier überwiegt auf jeden Fall jede Skepsis. Ohne die attestierten drei Michelin-Sterne, die schließlich nur dem Essen gelten, wäre ich jedoch nicht hier. Ich wäre nicht einmal wieder in Shanghai, einer Metropole, die zwar faszinierend ist, aber eben dennoch kommunistisch, reguliert und trotz vieler Wolkenkratzer in einem überwiegend maroden Zustand.

In einem Lastenaufzug, der keiner ist, herrscht absolute Dunkelheit, man hört lauten Herzschlag aus Lautsprechern. Eine Tür öffnet sich, dahinter ein violett ausgeleuchteter Raum mit schwarzen Gläsern. Sie sind leer. Eine weitere Tür öffnet sich, dort dann endlich der Speisesaal. Lächelndes Personal, man wird zu Tisch gebeten.

Der Saal ist sehr geräumig und hat eine hohe Decke, an der Projektoren und andere Geräte installiert sind. Es gibt einen langen Tisch für zehn Gäste, auf dem bereits die Namen aller Teilnehmer projiziert sind. Auch die Wände ringsherum dienen als riesige Leinwand.

In den kommenden dreieinhalb Stunden wird hier ein 22-gängiges Menü inszeniert. Jeder Gang hat einen Titel und eine eigene optische und akustische Szenerie, manchmal auch eine olfaktorische Untermalung.

Das Spektakel beginnt. Eine Animation vermittelt den Eindruck, dass der gesamte Speisesaal sich nach unten ins Erdreich bewegt. Die Illusion ist frappierend real. Wenig später Sternenhimmel. Schließlich eine sakrale Szenerie mit Kirchenglocken und Kerzen. Personal bringt die erste Speise an den Tisch.

Gang 1: Ostie

Szenerie: Gothic Church / Hell’s Bells

Die erste Speise im Ultraviolet ist ein (präzise in grün angeleuchtetes) Apfel-Wasabi-Sorbet, erfrischend und kühl. „Only to clean the palate“, gibt man zu, das heißt: keine Sorge, wir können noch besser. — 6,5

Gang 2: Foie Gras – Can’t Quit

Szenerie: West & Smoke / Ennio Morricone
Getränk: Light Sherry

Ein Röllchen in Zigarettenoptik besteht aus einer hauchdünnen, knusprigen Kruste aus roten Früchten, darin eine sehr wohlschmeckende, kompakte Zubereitung aus Foie-Gras-Terrine. Ein Puder aus Kohl in Asche-Optik hat eine leicht anbrannten Note und passt hervorragend zur Terrine. — 8,5

Interessant ist bereits hier, wie die Beleuchtungseffekte, die jeden Millimeter des Tischs exakt ausleuchten können, mit den Sinnen spielen. Sind die Farben der Speisen echt oder verfremdet? Man weiß das nicht so genau. Die Essenz dieses Ratespiels: es spielt für den Geschmack keine Rolle. Nur er ist real und lässt sich durch nichts verfremden.

Diese Aussage erscheint in diesem Moment paradox, schließlich geht es hier ja offenkundig um allerlei Illusionen und Ablenkungen. Und doch scheint die Küche von Paul Pairet bereits jetzt mitteilen zu wollen, dass es am Ende nur um sie geht. Meine Skepsis nimmt etwas ab.

Gang 3: Pop Rock Oyster

Szenerie: Pop – Pop / Comic Strip

Zu knalliger bunter Optik gibt es auf einem Löffel eine Gillardeau-Auster mit einer Zubereitung von grünem Tee sowie leicht prickelnder Zitronensäure. Die Auster ist von fantastischer Qualität, sie duftet und schmeckt nach Meeresfrische; die Säure dazu ist perfekt ausbalanciert. Eine Löffeldegustation auf höchstem Niveau. — 9

Ich vermute, dass die Comic-Szenerie eine Assoziation zum Begriff „pop“ darstellt, der den prickelnden Effekt der Zitronensäure auf Englisch beschreibt.

Gang 4: Micro Fish no Chips

Szenerie: Rain UK / Obladi-Oblada
Getränk: Baby Beer 5 Am Saint

Es regnet. Offenbar in England, denn der Union Jack ziert den Tisch, und die Beatles hauen in die Tasten. Auf dem Teller findet man ein kleines frittiertes Fischbällchen mit ganz akkurater Panierung, hauchdünn, knusprig und heiß. Darunter eine dichte Creme aus Sardellen und Kapern. Wenn alle Fish (ohne Chips) so gut wären, dann wäre das ein Nationalgericht, auf das die Briten stolz sein können. Noch eines davon, bitte! (Mein Wunsch wird nicht erhört.) — 8

Gang 5: Cuttlefish Guimauve

Szenerie: Hypnotic / SFX Invaders
Getränk: Caramel Coco

Ein verrücktes Gericht zu einer verrückten Szenerie. Was wie eine spiralförmige Bratwurst aussieht und gerade von der Kellnerin am Tisch in kleine Teile zerschnitten wird, nennt sich Tintenfischmarshmallow. Mit der weichen, klebrigen Beschaffenheit der Süßspeise hat das jedoch nichts zu tun.

Stattdessen handelt es sich um eine leichte, nur wenig kaubedürftige Masse aus Tintenfisch mit einer Textur, die der von Bratwurst ähnelt und die auch wie eine Wurst von einer Membran in Form gehalten wird ‒ woraus diese besteht, kann ich nicht ausmachen. Zu der geschmacklich eher zurückhaltenden Tintenfischmasse gibt es eine herausragende XO-Sauce, die unter anderem mit Szechuan-Pfeffer zubereitet wurde, sowie fermentierte Zwiebeln. Die Geschmackswelt ist intensiv würzig, pikant und fernöstlich und wird von frischem Koriander unterstützt. Verwirrend, wachrüttelnd, mehr als exzellent. — 8,5

Gang 6: Lobster Essential

Szenerie: Sea-Steam / Waves – Trenet
Getränk: Josmeyer Riesling „Hengst“, Grand Cru, 2009

Ein Kellner versprüht im Raum einen leichten, flüchtigen Duft nach Salzwasser und Algen, während auf den Wänden aufgewühltes Meer tanzt. Es tanzt, weil Charles Trenet das so nennt, der zu der Szene „La Mer“ singt, wie schon im Bus. Aber er singt nur kurz, danach übertönen bereits kreischende Möwen und wallendes Meer seine Chanson.

La mer/
Qu’on voit danser/
Le long des golfes clairs/

Serviert wird eine „Cocotte Iodine“, also ein „jodiges Schälchen“, im Klartext ein Stück gegarter Hummer in einem aufgeschäumten Algensud. Letzterer ist exzellent, leicht wie Wasser, schäumend wie Gischt, intensiv jodig, nur das Stück Hummer ist leider übergart. Man sieht es ihm schon an. Die blasse Farbe und wässriges Fleisch lassen auf verminderten Genuss schließen. Ein Flüchtigkeitsfehler eines dennoch hervorragend ersinnten Gerichts, das trotz dieses Fauxpas nicht schlechter als „sehr gut“ ist. Aber auch Trenet und das Meer können über diesen Fehler nicht hinwegtäuschen. (Wollte man Paul Pairet Genialität attestieren, könnte man beinahe auf Idee kommen, dass das Absicht ist.) — 7

Gang 7: Bread

Szenerie: Autumn-Soil / Cigar & Carnivalse
Getränk: Domaine Matrot, Meursault, 2011

Der Herbst hat die Blätter weitestgehend von den Bäumen gefegt, es ist Trüffelzeit. Das Gericht ist ein Stück Brot mit verbrannter Kruste, getunkt in Sauce Meunière, serviert mit schwarzem Périgord-Trüffel und luftigem Trüffelschaum. Das ist außerordentlich wohlschmeckend, wunderbar knusprig und weich zugleich. Das erdige Trüffelaroma sowie Butter kommen voll zur Geltung und schmeicheln dem Gaumen. Vom Trüffel selbst hätte es ruhig noch mehr sein dürfen, wie bspw. beim ähnlich konzipierten Toast im Restaurant Frantzén vor einiger Zeit. Es ist bemerkenswert, welch schlichte Küche hier im Wesentlichen an den Tisch gelangt. — 9

Gang 8: Charred Eggplant

Szenerie: Diaporama / Zorba Crunch
Getränk: Mauresque

Ein Dutzend Servicekräfte schreit laut „Hey! ‒ Hey!“, eine griechische Sommerkulisse umgibt einen, und griechische Musik versucht, Urlaubsgefühle zu vermitteln. Viel besser als die Kulisse kann das allerdings die Speise selbst. Über Feuer gegarte Aubergine am Spieß schmeckt verführerisch nach Raucharomen, Feuer und lauen Sommernächten, ein knuspriges, frittiertes Element und eine herzhafte Sauce mit würzigem Geschmack komplettieren das Urlaubsbild, das hervorragend in einer erneut schlichten, aber eindringlichen Komposition eingefangen wurde. — 8

Gang 9: Encapsulated Bouillabaisse

Szenerie: Marseille Pagnol / Raimu – Fernandel
Getränk: What is Left of The Mauresque

Es gibt Fischsuppe, so viel ist klar. Im Hintergrund sind französische Filmausschnitte zu hören, vermutlich von einem der Filme von Marcel Pagnol, der in den 1930er-Jahren ein eigenes Filmstudio in Marseille gegründet hatte. Die legendäre Suppe aus dieser Stadt gelangt für diesen Gang als kleine Löffeldegustation an den Tisch.

Es ist nicht viel zu erkennen, die Zutaten sind minutiös portioniert und durch rotes Licht verfremdet. (Durch die spätere Bearbeitung dieses Fotos ist mehr erkennbar als beim Essen.) Am Gaumen blüht dann alles auf, aus einer essbaren Sphäre platzt eine warme Bouillabaisse heraus und überflutet die Geschmackssinne mit all ihren Ingredienzen und sensorischen Attributen. Es ist eine großartige, ganz klassisch zubereitete Bouillabaisse in modernem Gewand, die durch etwas Basilikum und einen perfekt dosierten Klecks Rouille komplettiert wird. Eine der besten Zubereitung dieses Klassikers, die ich je probiert habe. — 10

Gang 10: Cucumber Lollipop

Szenerie: Bali / Garuda & Cepot

Mythische Figuren, augenscheinlich aus Südostasien, leiten den nächsten Gang geheimnisvoll ein. Es gibt gefrorenes Gado-Gado, eine Speise aus Indonesien mit Gemüsen, Eiern und diversen Gewürzen. Wie auch bei der Bouillabaisse ist die Speise hier auf ihre Essenz komprimiert und wird gefroren als eine Art Lolli serviert.

Die Kreation schmeckt aufregend und belebend nach verschiedenen Pfeffern und exotischen Gewürzen aus Südostasien. Trotz der Kälte strahlt die Speise Hitze aus. Es ist ein wahres Feuerwerk an Aromen. Das ist absolut hervorragend und offenbar mit fundiertem Wissen um die Küche Indonesiens umgesetzt. — 9

Es gibt nun eine kleine Pause. Eine gute Stunde ist erst vergangen, und doch war das Tempo genau richtig.

Nach zehn Minuten geht es weiter. Die Tafel ist inzwischen klassisch festlich eingedeckt.

Zunächst werden zwei Stücke Fleisch präsentiert, die in den Hauptgängen des Menüs Verwendung finden werden. Es handelt sich um einen komplett in Trüffelscheiben und von einem Gelee ummantelten Lammrücken, sowie um ein prächtiges Entrecôte vom Wagyu-Rind. Beide Tiere stammen aus Australien. Es gefällt mir, wie „nah am Esser“ hier letztendlich alles stattfindet.

Doch zunächst geht es mit einer Unterwasserwelt weiter.

Gang 11: Seabass Monte Carlo

Szenerie: You Are Not In The Louis XV / Aquarium & Debussy
Getränk: Domaine Hauvette, Pétra Rosé, 2014

Der Blick auf Korallen und bunte Fische macht noch einmal deutlich, was der Titel des Gerichts benennt: nein, man ist hier nicht im „Louis XV“. Das berühmte Restaurant von Alain Ducasse ist in Monaco und nicht in Shanghai, aber es geht dennoch um Ducasse und das Mittelmeer.

Der folgende Gang ist eine Hommage von Paul Pairet an seinen monegassischen Kollegen. Es gibt in Baguetteteig gebackenen Wolfsbarsch. Das Personal schneidet hierzu dicke Tranchen des heißen, mit dem Filet des Fischs gefüllten Brots ab, in dem sich noch weitaus mehr befindet: Taggiasca-Oliven, Basilikum, halbgetrocknete Tomaten mit bestem Olivenöl und provenzalischen Kräutern. Die prachtvolle Tranche bringt die aromatische Mittelmeerküche grandios auf den Punkt. Der Wolfsbarsch ist von Referenzqualität und ist in dem Laib so saftig geblieben wie in einer Salzkruste. Dazu die weiteren Aromen, die alle nach Mittelmeer schmecken. Es ist fantastisch. Die Reise an die Côte d’Azur findet hierbei vollständig in meinem Kopf statt, ich schließe lieber die Augen als auf die Fischwelt zu starren. — 10

Gang 12: Engloved Truffle Lamb

Szenerie: Restaurant / Shanghai
Getränk: Pago Florentino, Arzuga, 2010

Zum ersten Fleischgang wählt man ein Laguiole-Messer und blickt auf die Skyline von Shanghai. Nach all den visuellen Reisen fühlt es sich gut an, „anzukommen“. Es gibt keine Musik, kein verfremdendes Licht, man ist voll im Hier und Jetzt. Es stehen einem daher alle Sinne zur uneingeschränkten Verfügung, um das wunderbar duftende Lamm zu genießen.

Die Zartheit und den hohen integrierten Fettanteil sieht man dem Stück bereits an, obwohl es von einem Jus mit kleingehackten Trüffeln bedeckt ist. Die Qualität des Fleischs ist herausragend, es ist eine der besten Qualitäten, die ich je von diesem Tier probiert habe, auf einer Ebene mit Lamm von Troisgros oder aus der Auberge d l’Ill. Sauerampfer sorgt für noch etwas Frische, und das reicht dann schon aus, um dieses Gericht als perfekt und aufwühlend grandios zu bezeichnen. — 10

Gang 13: Wagyu Simple

Szenerie: Restaurant / Paris
Getränk: Château du Domaine de l’Église, Pomerol, 2004

Es bleibt „ablenkungsfrei“, lediglich ein Blick auf die Seine und den Eiffelturm sagen: so kocht man in Frankreich. „Simpel“ eben. Etwas Fleisch (fantastisches, kurz angebratenes Wagyu), Kartoffelpüree à la Robuchon (Butter mit etwas Kartoffelstärke) und ein herzhafter Bratenjus. Die Qualität des Fleischs ist erneut herausragend, in Summe ist das aber schon eine ziemlich buttrig-fettige Angelegenheit. Gut so. Das darf auch mal sein. Auf dem Niveau! — 9

Gang 14: Tomato Pomodamore

Szenerie: Spanish Gallery / Olé!
Getränk: Strawberry Gazpacho

Zu Werken von Miró, Dalí und Picasso geht es folgerichtig Spanisch weiter. Auf einer surrealistischen Apparatur mit einer Lupe in der Mitte befindet sich obenauf eine komplett essbare Röhre aus Zucker mit Tomate und Basilikum, darunter im Glas ein Erdbeer-Gazpacho. Beides ist sehr wohlschmeckend, und präzise zubereitet. Dalí hätte hieran sicherlich auch seine Freude gehabt. — 8,5

Gänge 15 & 16: Cheese & Salad

Szenerie: Normandie / Harpsicord, Thunder / Crunch
Getränk: Cidre du Pays d’Auge, Dupont „Réserve“

Lauter Donner ertönt, es ist dunkel. In einer blau leuchtenden Mikrowelle wird Camembert geschmolzen, in einer weiteren Schüssel ein Salat mit Getreide, Kräutern und flüssigem Stickstoff angerührt. Auf einmal erscheint ein Kornfeld. Man sitzt im Stroh.

Zu dem exzellenten, getrüffelten Camembert gibt es geröstetes, selbstgemachtes und noch warmes Walnussbrot. Das ist an sich bereits ein kleiner, feiner Genuss par excellence. Der Getreidesalat dazu bringt etwas Frische mit ins Spiel, und ein Becher mit Cidre komplettiert die französische Version von „Caro, dem korngesundem Landkaffee“. Hervorragend bis ins kleinste Detail. — 8,5

Gang 16: No Shark Fin Soup

Szenerie: China 1933 / Tian Mi Mi

China! Eindeutig. Rote Lampions, Drachenmuster, und das Personal stimmt zum Gesang an. Danach Stille, Dunkelheit und ein Filmausschnitt von „Der weiße Hai“. Doch wie der Titel der Speise bereits zum Besten gibt, findet die fragwürdige chinesische Delikatesse hier glücklicherweise keine Verwendung. Im Gegenteil, es gibt eine erfrischende kühle Tomatenessenz. Nudelähnliche, gelierte Fäden mit Pfirsichgeschmack erinnern zwar entfernt an die merkwürdige Textur von Haifischflosse, schmecken aber besser und sind auch ethisch einwandfrei herzustellen. In jeder Hinsicht besser als das Original ‒ und eine willkommene Gaumenerfrischung mit leichter Süße und wunderbar herausgearbeiteten Aromen. — 8

Gang 17: Suzette Carrot-Cake

Szenerie: Kitchen / Ground Parody
Getränk: Orange Ginger Carrot

Karotten überall! Man hört, wie sie jemand kaut. Dazu wird ein Video eingespielt, das angeblich Paul Pairet in der Küche zeigt, wie er gerade einen Bestandteil für das folgende Dessert anrührt. Wer das anzweifelt, möge bitte die Hand heben. Ich tue das, nur um zu sehen, was passiert. Kim sammelt daraufhin die Handys der Ungläubigen ein, verschwindet damit kurz und kehrt mit Aufnahmen von einem wahrhaftigen Monsieur Pairet zurück.

Der Spalt zur Realität wird damit nun weiter geöffnet. Doch war er wirklich jemals zu? Speisen und Genuss hätten bisher nicht realer sein können.

Dann auf einmal öffnen sich die Tore zur Küche. Sie ist direkt nebenan. Und langsam erschließt sich einem, dass das anders auch kaum möglich gewesen wäre. Wie sonst hätten manche Speisen warm und auf dem Punkt genau den Gast erreichen können? Wie sonst hätten zehn Kellner so koordiniert zwischen Küche und Gast agieren können? Interessanterweise habe ich damit jedoch überhaupt nicht gerechnet, oder, anders gesagt, ich habe eigentlich gar nicht darüber nachgedacht.

Das Dessert, eine hervorragende Kreation mit Orange, Karotte, Koriander und Frischkäse, wird dann in der Küche verspeist (8,9). Alles ist real, es werden ein paar Fotos mit Chef gemacht.

„It’s not art“ sagt Pairet, als ich mich noch etwas mit ihm unterhalte, während die anderen Gäste langsam Platz nehmen. Nein, Kunst ist das hier alles nicht. Es ist Unterhaltung. Aber was mich am meisten beeindruckt, erkläre ich ihm, sei die Tatsache, dass das Niveau der Küche so enorm hoch ist. Unter dem Deckmantel des Entertainments würde wohl nahezu jeder Gast selbst dann begeistert das Restaurant verlassen, wenn die Qualitäten der Zutaten und das Handwerk auch nur halb so gut wären. Umso erstaunlicher, dass man hier diesen hohen Anspruch hat. Aber es hat sich offenkundig ausgezahlt, denn die drei Sterne kommen nicht von irgendwo her, das kann ich nach 17 Gängen nun bestätigen.

Gang 18: Mandarine – Mandarine

Szenerie: Mandarin / Mandarine
Getränk: Mint Tea

In einer mit Mandarinengelee umhüllten echten Mandarinenschale, die so verarbeitet wurde, dass sie komplett essbar ist, findet man eine leicht süße Mandarinencreme und exzellenten Dessertgenuss der unkomplizierten Art. — 8,9

Gang 19: Avocado Brulee Nutella

Szenerie: French Mansion / Jazz-Funk

Feuer knistert in einem Kamin, auf dem Tisch leuchtet ein grün-braunes Zebramuster als Überleitung zu den Zutaten des nächsten Desserts. Ein Stück perfekt gereifte Avocado ist hier mit einer Haselnusscreme ummantelt, die nur entfernt an Nutella erinnert. Diese Creme ist leichter, nicht ganz so süß, und sie passt überraschend gut zur Avocado. Zwei frische, karamellisierte Haselnüsse von einer wachrüttelnd guten Qualität fügen zusätzlich noch eine knusprige Texturebene hinzu. Das ist ebenfalls ganz hervorragend. — 9

Gang 20: Hibernatus Gummies

Szenerie: The Race / Mario Bros. & Rossini
Getränk: Gummy Water

Die folgende, eher mit einem Augenzwinkern gemeinte Süßspeise, ist Teil eines Ratespiels, das vorher die Desserts einleitete. Man sollte sich für eine Farbe für Gummibärchen entscheiden. Diese laufen nun in einer Projektion an der Wand um die Wette, Rot gewinnt.

Ich wählte willkürlich Gelb und erhielt ein entsprechendes Dessert mit Cola-Würfeln und gelben Gummibärchen ähnelnden Kapseln, die im Mund eine leicht süße, sehr aromatische Flüssigkeit aus Zitrusfrüchten freigibt. Etwas viel Theater, aber es steckt in diesen kleinen Bissen alles andere als eine Hommage an industrielle Süßigkeiten, sondern eher eine ironische Demonstration, wie das besser geht. — 7

Gang 21: Mignardises

Szenerie: Sundays / Cake D‘amour

Ein bisschen klassische französische Patisserie lässt sich Pairet nicht nehmen. Daher begeistert die Küche noch mal mit einer winzigen Tartelette mit flüssigem Kern, eine warme, mit Eigelb aufgeschlagene Creme. Obenauf noch eine hauchdünne, knusprige süße Schicht. Das ist mühelos eine der besten kleinen Speisen dieser Art, die ich je gegessen habe. — 10

Gang 22: Ispahan Dishwash

Szenerie: Foamy Josette / Edith Piaf

Als eine Hommage an Pierre Hermé ist der letzte Akt des Abends deklariert. Der französische Konditor ist unter anderem für seinen Macaron mit Rose, Litschi und Himbeere berühmt, Aromen, die in diesem Dessert in etwas anderer Form zur Geltung kommen.

Der ganze Saal ist violett beleuchtet. Spülschaum scheint von den Wänden her immer näher zu kommen, und vor einem steht ein Teller mit Abwaschgeschirr. Scheinbar, denn in Wahrheit sind alle „Essensreste“ vor einem genießbar. Es gibt Rose, Litschi und Himbeere in unterschiedlichsten Zubereitungen, als Saft, als Frucht, als Schaum, als kleine Gebäckstücke. Wenn schon verspielt, dann richtig. Alles hieran schmeckt exzellent. — 8

Es war die letzte Aufführung eines denkwürdigen Abends, an dem ich erstaunlich viel Freude gefunden habe. Die Inszenierungen waren intelligent, humorvoll und raffiniert umgesetzt, die Atmosphäre war gelöst und das Essen hervorragend. Besonders der letzte Punkt ist es natürlich, der mich am meisten interessiert hat, und hier haben sowohl Paul Pairet und sein Team abgeliefert als auch der Guide Michelin nachvollziehbar bewertet.

Der von Pairet so bezeichnete „Psycho-Geschmack“ (psycho taste), mit dem er zum Ausdruck bringen möchte, dass es bei der Wahrnehmung von Essen viel um Emotionen geht, ist der Grundpfeiler dieses originellen ‒ und inzwischen auch kopierten ‒ Restaurantkonzepts. Hierzu kann ich feststellen, dass die Bilder und Töne durchaus inspirieren, aber eine fehlende Assoziation nicht ersetzen können. Am besten funktioniert dieses Konzept daher für Esser, die zu vielen Szenerien bereits Erlebnisse abrufen können. Mir ging das so, von Griechenland und Marseille über Monaco, Paris und London bis zu den spanischen Surrealisten: zu all diesen Themen habe ich meine eigenen Geschichten im Kopf. Das ist fast schon erschreckend. Haben alle Gäste heute wirklich dasselbe gesehen? Oder waren das die eigenen Projektionen an den Wänden?

Gedankenversunken fahre ich im Kleinbus zurück ins Hotel. Zurück von einem Ort, den ich nicht kenne, der mich an viele Orte zurückversetzt hat, die mir wohlbekannt sind. Was für eine außergewöhnliche Reise.

Voyez/
Ces oiseaux blancs/
Et ces maisons rouillées/
La mer/

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Ultraviolet (→ Website)
Chef de Cuisine: Paul Pairet
Ort: Shanghai, China
Datum dieses Besuchs: 03.01.2018
Guide Michelin (Shanghai 2018): ***
Meine Bewertung dieses Essens (?): 8,9
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EssZimmer ‒ auf hohem Niveau

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In der futuristischen „BMW Welt“ in München transportiert ein Fahrstuhl den Gast ein paar Stockwerke hoch ins Restaurant EssZimmer, das von Platzhirsch „Feinkost Käfer“ betrieben wird. Martin „Bobby“ Bräuer kocht hier mit seiner Mannschaft in einem besonders geschmackvollen Ambiente zwischen Vitra-Möbeln und Kaminfeuer am Molteni-Herd.

Die Kombination Automobil und Essen ist längst nichts Ungewöhnliches. Das Ritz-Carlton in Wolfsburg ist in Deutschland sicherlich das führende Beispiel, aber auch Mercedes-Benz lässt inzwischen mit seinem „Me“-Konzept von sich hören, wenngleich Letzteres mehr mit der Automarke verbunden ist. Hier oben im EssZimmer hat das mit BMW alles nichts zu tun. Französische Küche ist hier das Thema, also Freude am Essen, nicht Freude am Fahren.

Es gibt zwei Menüs, vier bis acht Gänge kosten zwischen € 130 und 190. Ein besonderes Augenmerk verdient auch die umfangreiche Weinkarte, die in vielen Bereichen diverse Schätze (Roulot, D’Auvenay, Coche Dury, Elio Altare, Bruno Giacosa u. a.) zu äußerst fairen Preisen aufführt. Diese Karte führt ganz offenkundig jemand mit viel Leidenschaft und Sachverstand, der nicht nur plump mit dem Rechenschieber spielt.

Die Amuse-Bouches sind ein heißes Süppchen mit grüner Paprika, Piment d’Espelette und vollem Geschmack (7), eine angenehm würzige, russische Teigtasche in Steckrübensud (8) sowie eine kleine Kreation mit Stremellachs und Rettich, die geschmacklich interessanterweise an Rollmops erinnert (7,5). Alles sehr präzise und geschmacklich ansprechend.

Weitere Amuses folgen. Es gibt Karpfen ‒ lackierter Bauch und gebackener Rücken, beides angenehm warm ‒ mit fruchtigem Umeboshi-Gel (japanische Pflaume), Gurke und Joghurt (7,5); sowie Kalbsleber mit Tom-Kha-Gai-Mousse, eine kühle Speise, die mit ihren exotischen, pikanten Aromen raffiniert das Gefühl von Hitze vermittelt (8,5).

Der erste Menügang sind Tranchen von roh marinierter schottischer Makrele in exzellenter Qualität. Begleitet wird diese von einem farbenfrohen Sammelsurium weiterer Zutaten, das optisch entfernt an Arrangements aus der japanischen Kaiseki-Küche erinnert. Hauchdünner Fenchel sorgt bei dem Gericht für ätherische Frische, ein halbes, wachsweiches Hühnerei für Substanz, Saiblingsrogen fügt Salzigkeit und eine angenehme Textur hinzu. Auf einem separaten Teller findet man noch eine exzellente irische Felsenauster in einem vinaigretteähnlichen Essigsud. Ein sehr originelles und wohlschmeckendes Ensemble, bei dem alle Komponenten sehr gut zusammenspielen. Begeisternd! — 8,5

Es folgt bretonischer Hummer „à la nage“, wobei Letztere die ganze Kraft des Gerichts beinhaltet. Der Hummer ist von einwandfreier Qualität, und die Nage ‒ ein pikanter, buttrig aufgeschäumter Krustentierjus ‒ begeistert nicht nur durch sein klassisches Handwerk, sondern vor allem auch durch das Hinzufügen von Dill und Zitrusfrüchten. — 8

Stör aus dem Salzburger Land ziert den nächsten Teller. Avocado, gerösteter Blumenkohl und Blutwurstcreme begleiten den Fisch. Eine schaumige Sauce mit prononcierter Säure unterstützt den zweifellos sehr guten Gang, bei dem ein zündender Funke jedoch nicht ganz zu mir überspringen möchte, weil das Geschmacksbild etwas zu heterogen ist. Dennoch ist auch dieses Gericht eine gelungene Fortsetzung eines bisher genussreichen und entschleunigten Abends. — 7

Danach folgt gebackenes Kalbsbries, welchem man es durch eine Panierung und weitere frittierte Komponenten, die man darauf angerichtet hat, ziemlich schwierig macht, seine Zartheit und seinen Geschmack zum Ausdruck zu bringen. Dabei ist das Bries von exzellenter Qualität und würde durch eine Reduktion des Frittierten deutlich profitieren. Auch der „bissgenaue“ und behutsam (nicht weihnachtlich, sondern sehr natürlich) gewürzte Rotkohl sowie Buchenpilze sind sehr gute Komponenten in diesem qualitativ makellosen, aber durch das Frittieren etwas nachteilige Arrangement. — 7

Eine Stück US Prime Beef ist beim folgenden Gang mit Zwiebeln gratiniert, dazu gibt es, unter anderem, Muskatkürbiscreme und eine hervorragende dunkle Sauce. Das geschmorte Fleisch ist akkurat zubereitet und hat eine mürbe Konsistenz. Alles in allem ergibt das ein klassisches, süffiges Geschmacksbild. — 7

Eine Rohmilchkäseauswahl von Maître Anthony lasse ich selten links liegen, auch hier nicht.

Von den zwei folgenden Desserts gefällt mir gleich das erste am besten. Es gibt exzellent karamellisierte, saftig-aromatische Ananas mit verschiedenen weiteren Zutaten, die ein Dessert mit exotischen Fruchtaromen exzellent unterstützen, unter anderem Anis, Salbei und Zitrusfruchtgel. Es geht auf dem Teller insgesamt kurzweilig zu: verschiedene Temperaturen und Texturen bereiten Freude und einwandfreien Dessertgenuss. — 8

Auch das Dessert mit Haselnuss, Williams-Christ-Birne, Tahiti-Vanille und Mascarpone ist sehr gut, aber etwas undifferenzierter und durch den Einsatz vieler Cremes und Kügelchen etwas artifiziell wirkend. — 7

Man betritt hier kulinarisch weder Neuland noch allerhöchste Genusssphären, aber das ist auch nicht das erklärte Ziel. Stattdessen genießt man in einer außergewöhnlich schicken Atmosphäre eine moderne französische Küche auf buchstäblich hohem Niveau.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: EssZimmer (→ Website)
Chef de Cuisine: Martin „Bobby“ Bräuer
Ort: München, Deutschland
Datum dieses Besuchs: 24.11.2017
Guide Michelin (D 2017): **
Meine Bewertung dieses Essens: 7,5 (Was beudeutet das?)
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Oaxen Krog ‒ nordisch progressiv

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In diesem Moment, also genau jetzt, wo ich diese Zeilen schreibe, ist mein Besuch im Oaxen Krog knapp zwei Monate her. Das ist genug Zeit, um zu prüfen, wie sehr ein Restaurant nachgewirkt hat. Und ich muss feststellen: außer der begeisternden Gastronomie als solche ‒ mit ihrem geschmackvollen Interieur, direkt am Wasser gelegen ‒, ist mir von dem Essen eher wenig in Erinnerung geblieben. Wenn ich meine Notizen überschlage, sehe ich hohe Bewertungen, aber wirklich gefesselt hat mich ein einzelner Gang, oder gar das gesamte Menü, nicht. Sehen wir uns das Ganze mal an.

Oaxen Krog & Slip beherbergt zwei Gastronomiebetriebe: ein Bistro (Slip), durch welches man das Gebäude betritt, und das zweifach besternte Krog, das sich hinter einer Tür des Bistros auftut. Tritt man dort ein, versammelt sich ‒ bei jedem neu erscheinenden Gast ‒ die gesamte Küchenmannschaft vorne in der offenen Küche, um Hallo zu sagen, eine nette, auflockernde Geste.

Das Interieur ist sehr geschmackvoll. Holzverkleidete Wände und Decken mit parallelen Sprossen erinnern an japanische Ästhetik, der Rest ist skandinavische Schlichtheit, wie man sie hier erwartet: keine Tischdecken, viel Holz, gedeckte Erdtöne, puristisches Geschirr.

Zunächst nimmt man im hinteren Teil des Restaurants an flacheren Tischen Platz. Hier hat man die Möglichkeit, im Menü zu stöbern und zum Aperitif einen kleinen Snack zu genießen. Ich finde die Möglichkeit eines solchen Akklimatisierens in der Regel sehr angenehm. Sie entschleunigt, man kann sich etwas umsehen und vor dem Platznehmen am Tisch noch mal die Waschräume aufsuchen. Es gibt als erstes etwas hausgetrockneten Schinken, der fast schon an Speck erinnert ‒ würzig, gehaltvoll, sehr gut, mehr muss es gar nicht immer sein.

Es wird ein tasting menu angeboten (zehn Gänge zu ca. € 210), bei dem es viel um Regionalität und Saisonalität geht, das Übliche also in einem Restaurant mit modernem Konzept.

Die Weinkarte enthält ausschließlich Weine aus der „alten Welt“, und ist ‒ typisch für gastronomisch aufgeschlossene Städte wie Stockholm ‒ fast überwiegend sehr ansprechend mit einem großen Fokus aus Frankreich. In der Karte hatte ich vor meinem Besuch schon online gestöbert und eine Auswahl getroffen, um vor Ort nicht allzu viel Zeit mit diesem Vorgang verbringen zu müssen. Eine kurze E-Mail ans Restaurant, mit der Bitte, schon mal eine Flasche 2011 Clos Rougeard „Le Bourg“ (ca. € 170) zu öffnen, wurde nur wenige Minuten später positiv beantwortet. (Man versuche mal in Deutschland, einem Restaurant gegen 19 Uhr eine E-Mail zu schreiben und kurz darauf eine Antwort zu erhalten.)

Zu Beginn wähle ich noch ein Glas offenen Weißweins (ein nicht genau notierter Burgunder ‒ ich meine, ein Rully ‒ von der Domaine A. & P. de Villaine für knackige ca. € 33 pro Glas). Er begleitet den Prolog des Menüs.

Es gibt eine heiße, sehr gehaltvolle, mit Zitronenverbene aromatisierte Brühe mit Zander, Grünkohl und weiteren Gemüsen. Als leicht knusprige Elemente kommen Schuppen des Fischs zum Einsatz, das ist exzellent — 8. Danach folgt ein kleines Röllchen von rohem, gereiftem Tenderloin auf einem hauchdünnen, frittierten Brennnesselblatt, dazu etwas Bärlauch. Dieser Snack ist großartig, besonders der Bärlauch ist nicht penetrant, sondern fügt eine Geschmackstiefe hinzu, die sehr angenehm ist. — 9

Es geht weiter mit Tartar vom Elchherz auf Sauerrahm mit Hagebuttenblättern und Dill, was sich am Gaumen zu einem ätherischen, cremigen und sehr wohlschmeckenden Ganzen zusammenfügt — 8,5; danach gibt es 200 Jahre alte Islandmuschel mit, unter anderem, einer Pilzcreme ‒ zusammen ein geschmackvolles Ensemble mit Aromen von jodigem Meer und duftendem Wald. Ein paar äußerst harte, kleine Stückchen darin, vielleicht Splitter von der Schale, zeugen von einer kleinen Ungenauigkeit bei der Zubereitung. — 8

Danach folgt ein Schälchen mit Seehasenrogen, den man zusammen mit einem angenehm fettigen, hauchdünnen Kartoffelchip mit Dill genießt. Das erinnert geschmacklich an ein gutes Fischbrötchen, ist aber viel feiner und texturell sehr ansprechend — 8. Als (etwas zu) knuspriges Röllchen präsentiert sich eine Zubereitung mit Tintenfisch und Holunderblüte, bei der der Tintenfisch etwas untergeht — 7.

Die letzten Amuse-Bouches, immerhin schon Speisen Nummer sieben und acht, sind ein kleines Stück geräucherter Seesaibling von phänomenaler Qualität, gewickelt um ein kleines Stück geräucherte Zucchini und getoppt mit einem frischen Kraut und Stör-Kaviar — 9. Dann folgt eine kleine Löffeldegustation mit schwedischem, etwas sehr kaubedürftigem Wagyu mit Maiscreme, „Kartoffelsoja“ und einem ansprechenden Umami-Geschmacksbild — 8.

Als Brot gibt es eine Brioche mit Hering-Glasur (!) ‒ buttrig, warm, herzhaft, wunderbar ‒ sowie ein weiches Roggenbrot, das mit Bier und Butter gebacken wurde und ein äußerst ansprechendes, malziges, leicht knuspriges Genussvergnügen ist. Eine ganz ausgezeichnete Brotauswahl.

Dass man jetzt erst mit dem eigentlichen Menü beginnt, erscheint in Hinblick auf den Sättigungsfaktor etwas kritisch, doch die Speisen sind alle leicht und klein und daher auch in hoher Anzahl gut verträglich.

Kaisergranat kommt (nahezu) roh beim ersten Menügang zum Einsatz. Er ist in Birnenscheiben eingewickelt, weitere Komponenten sind Stachelbeere, Meerrettich und Wacholder, also eine etwas schroffe Geschmackswelt, die sich mir zum Kaisergranat nicht so recht erschließt. Auch die rohe, dadurch etwas schleimige Textur des Krustentieres halte ich immer für nachteilig, weil sein nussig-süßlicher Geschmack dann nicht zur Geltung kommt. Der Gang wirkt wie ein anspruchsvolles Experiment. „Sehr gut“ nur wegen des Handwerks und der erkennbar guten Zutaten. — 7

Der nächste Gang thematisiert Topinambur, bissfest gegart, mit einem Potpourri von Zutaten, die einen erdig-waldigen Geschmack vermitteln, darunter Schwefelporlinge (die wegen ihres an Huhn erinnernden Geschmacks auf Englisch chicken of the woods heißen), geräuchertes Knochenmark vom Ochsen, sowie Sanddorn und knusprige Hühnerhaut. Ein aromatischer Hühnerfond ergänzt ein harmonisches Geschmacksbild mit dem Fokus auf Huhn/Topinambur. Auch diese Speise ist auf hohem kulinarischen Niveau. — 8

Es folgt eine dünne Scheibe Fleisch von einer alten Milchkuh, serviert mit einer sahnigen Sauce mit Maränenrogen, dazu Zwiebeln und ein Kamillengewächs. Das reife, im Wesentlichen rohe, aber dennoch eher buttrige Fleisch ist außergewöhnlich gut und präsentiert ein authentisches, sehr präsentes Aroma des Tiers. Fleisch älterer Tiere ist häufig viel eindrucksvoller als dry aged Fleisch jüngerer Tiere. Süffig gut und qualitativ sehr hochwertig. — 8,5

Gerösteter Weißkohl wird beim folgenden Gang mit „Kartoffelmiso“ serviert, dazu gibt es Haselnuss, Wildkräuter und eine angenehm säuerliche Sahnecreme mit Topinambur. Das Arrangement ist cremig und heiß, man schmeckt die Haselnuss und abermals waldig-frische Aromen, die hier zwar durchgängig Thema sind, aber nie repetitiv wirken. Eindeutig hervorragend. — 8

Jakobsmuschel kommt roh und in kleinere Stücke zerteilt in ihrer Schale beim nächsten Gang zum Einsatz. Kombiniert ist das Muskelfleisch mit pikanten Radieschen, Kapuzinerkresse und einem Jus von Grönländischem Porst (labrador tea), eine Rhododendronart. Jakobsmuschel an sich, vor allem roh, zählt nicht zu meinen Lieblingszutaten, aber durch die kleine Stückelung und den raffinierten Einsatz der Kräuter ist auch diese anspruchsvoll und präzise abgestimmte Speise hervorragend zu genießen. — 8

Das Menü fährt fort mit leicht gereiftem Steinbutt in fingerdicken Tranchen, präsentiert auf Weinblättern (o. ähnl.). Der Steinbutt ist Mitspieler eines Tellers mit Winterrettich, einer Buttersauce, die mit gegrilltem Grünkohl aromatisiert wurde sowie einer Art Salat aus „unreifer“ Johannisbeere mit ansprechender Säure. Qualitäten und Handwerk sind auch hier makellos, aber dieser Teller geht mir etwas zu sehr in Richtung Säure und Chlorophyll. Dennoch bewegen wir uns hier weiterhin auf kulinarisch hohem Niveau. — 7,5

Es geht weiter mit Secreto von schwedischem Schwein, glasiert in fermentiertem Rinderjus, dazu hauchdünn aufgeschnittener Kohlrabi sowie weiße Erdbeeren und Dill. Nicht alles Ungewöhnliche muss eine wertvolle Neuentdeckung sein ‒ dieses Geschmacksbild ist es sicher nicht. Zu einem recht neutral schmeckenden Stück Fleisch gesellen sich an Chlor und Schweiß erinnernde Aromen, die Kohlrabi manchmal haben kann. Das ist nicht mein Fall, Qualitäten hin oder her. — 6,9

Trotz meiner lange im Voraus kommunizierten Präferenz, kein unzureichend gegartes Geflügel wie Ente oder Taube essen zu wollen, serviert man nun genau diese. Es gibt dazu dünne Scheiben Sellerie, schmale Streifen vom Pfifferling sowie einer Zubereitung mit Kapern und einer Fichtensprossencreme.

Ich merke das mit der Ente kurz an, man gart sie daraufhin etwas weiter, was ich allerdings auch auf dem neuen Teller nicht erkennen kann. Ich bin aus hygienischen Gründen einfach kein Freund von rotem oder rosa Geflügel, springe aber jetzt der Neugier wegen über meinen Schatten und probiere etwas. Die Qualität des Fleischs ist gut, es dürfte aber wirklich noch weiter gegart sein. Ganz hervorragend ist dagegen eine ätherische Fichtensprossencreme, aufgrund derer ich dann doch noch mehr von Ente esse, um alle weiteren Komponenten des Gerichts zusammen zu genießen. Bis auf den Gargrad sehr gut. — 7

Ein dann gereichtes Himbeersorbet schmeckt erfrischend unbeschwert und erinnert an den Duft von getrockneten Rosenblättern und Veilchen. Exzellent. — 8

Ein weiteres Sorbet, diesmal mit Quitte, wird von weiteren säuerlichen Komponenten wie Apfel und Sellerie begleitet; das ist mir dann eindeutig zu viel Säure und nicht gut ausbalanciert. — 6,5

Blaubeeren mit Engelwurz-Eis und Hanfsamenpraliné, letzterer eher geschmacksneutral, ist mit den exzellenten Beeren und dem kräuterig-frischen Eis in Summe sehr ansprechend. — 7

Die Schachtel Pralinen, die auch zum Mitnehmen vorgesehen ist, enthält, wie ich feststellen muss, teilweise völlig ungenießbare Kreationen mit seltsamen Gemüsezubereitungen, z. B. Steinpilz. Das ist kreativ, aber fernab von schmackhaft.

Der letzte Punkt fasst, wenn auch in einer zum Glück extremen Ausnahme zum Schluss, einen der Gründe zusammen, warum ich für dieses Essen zwar Attribute wie ansprechend, fein, intelligent, regional und präzise verbinde, mich die Gerichte aber in großen Teilen emotional nicht fesseln konnten ‒ ein für meinen ganz persönlichen, hedonistischen Anspruch an Essen wichtiges Merkmal.

Im Gegensatz zu den genannten objektiven Attributen, die sich auch in den hohen Bewertungen wiederfinden, ist dieses gefühlte Manko natürlich eine subjektive Angelegenheit. Hier wird vieles gewagt und ausprobiert, das manchmal zu Lasten des Wohlgeschmacks geht ‒ oder einen zumindest dergestalt fordert, dass man sich auf neue und ungewohnte Geschmacksbilder einstellen muss, die eben „interessant“, aber nicht immer besonders süffig/schmackhaft sind. Das ist ohne Frage progressiv und im Wesentlichen ja auch ein Merkmal der modernen nordischen Küche.

Etwas einfacher formuliert: das Oaxen Krog ist ein fantastisches Restaurant mit Wohlfühlatmosphäre, raffinierter, kreativer Küche und einer Garantie für schöne Abende. Wenn es doch nur so einfach wäre.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Oaxen Krog (→ Website)
Chef de Cuisine: Magnus Ek
Ort: Stockholm, Schweden
Datum dieses Besuchs: 02.12.2017
Guide Michelin (Nordic Countries 2017): **
Meine Bewertung dieses Essens (?): 7,9 (Was beudeutet das?)
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Tourniert: Hamburg

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Meine Heimatstadt ist auch Anfang des Jahres 2018 ein diffiziles Pflaster, um verlässlich gut essen zu gehen. Von den wenigen Spitzenrestaurants abgesehen, die alle auch einen „Fine Dining“-Rahmen vorgeben, der kaum alltagstauglich ist, hat man es enorm schwer, gute Restaurants zu finden.

Anbei einige Kurzberichte von verschiedenen Restaurantbesuchen der vergangenen Monate.

Inhalt:

→ Theo’s
→ Fischereihafen Restaurant
→ Rive
→ Hæbel
→ Daruma


Theo’s

Es gab eine Zeit, in der fast jede gastronomische Neueröffnung in Hamburg ein Steakhaus zu sein schien ‒ oder die zumindest ihren kulinarischen Fokus auf Rindfleisch setzte, natürlich dry aged und mit rekordverdächtiger Hitze zubereitet (und zu rekordverdächtigen Preisen). Es gibt nur ein einziges Restaurant, bei dem ich das Fleisch wegen handwerklicher oder qualitativer Mängel nicht sofort wieder in die Küche zurückgehen lassen musste. Im Gegenteil, das Theo’s im Grand Hotel Elysee ist meine Adresse erster Wahl, wenn mich in meiner Heimatstadt der gelegentliche Heißhunger nach gutem Steak packt.

Interessant daran: die „Block“-Gruppe ist bisher nicht gerade durch kulinarisch rühmenswerte Gastronomie aufgefallen. Das Theo’s jedoch ist anders und hat mit den Mängeln einer Systemgastronomie nur am Rande zu tun. Stattdessen gibt es hier z. B. U.S.D.A. Prime Beef von Black-Angus-Rindern aus Nebraska in verschiedenen Zuschnitten. Meinen Favoriten, Porterhouse, gibt es in variierenden Portionsgrößen von ca. 700 – 900 g (inklusive Knochen) zum Teilen (€ 12 je 100 g).

Auch hier stehen die Attribute der Trockenreifung und enorme Hitze auf der Karte, aber hier weiß man, was man tut. Das Fleisch gelangt wie bei Peter Luger in New York brutzelnd heiß auf einer Keramikplatte an den Tisch, und wer schon mal gute Steaks gegessen hat, erkennt bereits ‒ ohne das Fleisch probieren zu müssen ‒ alle positiven Attribute, von der dunkelgoldbraunen Farbe über die sichtbar krosse Kruste und eine ideale Kernfarbe. Am Gaumen bestätigt sich alles, die Steaks sind wirklich exzellent. Bei allen Besuchen war das Fleisch für sich genommen eines Sterns würdig (7).

Auch die Beilagen sind, bis auf trockene und offensichtlich nicht selbstgemachte Pommes Frites, akkurat und wohlschmeckend zubereitet, von einer stets guten Sauce Béarnaise über auf den Punkt gegarte Karotten mit Honig und Thymian oder den Baby-Spinat mit Erdnussbutter. Als Vorspeise ist ein am Tisch zubereiteter Ceasar Salad mit gehobelter Macadamia und Sardellen auch eine gute Wahl (6,9).

Verzichten würde ich hier vorsichtshalber auf alles, was das Wort „Trüffel“ beinhaltet (Trüffelcroûtons beim Salat, getrüffeltes Kartoffelpüree als Fleischbeilage); den frischen Edelpilz habe ich hier zumindest noch nie zu Gesicht bekommen, dafür aber gelegentlich durchaus in Form eines artifiziellen Geruchs an Nachbartischen vernommen.

Ein weiteres Manko ist die über alle Maße beklagenswerte Weinkarte, an der der Hamburger Gast sich jedoch wie gewohnt nicht zu stören scheint. Man bestellt ohnehin lieber ein großes Bier. Macht nichts, ich bringe den Wein inzwischen selbst mit. Zu einem amerikanischen Steak dieser Qualität gehört ein anständiger Bordeaux oder Kalifornier. Man muss sich in dieser Stadt eben immer auch ein Stück weit selbst zu helfen wissen.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Theo’s (→ Website)
Ort: Hamburg, Deutschland
Datum des letzten Besuchs: 14.11.2017
Guide Michelin (D 2017): empfohlen
Meine Bewertung dieses Essens (?): 6,9 (Was beudeutet das?)
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Fischereihafen Restaurant

Ich nenne Hamburg seit fast vierzig Jahren meine Heimatstadt und war zuvor tatsächlich noch nie im Fischereihafen Restaurant, der Gastronomieinstitution der Familie Kowalke. Das Restaurant mit gutbürgerlichstem Konzept hat mich nie so angezogen wie es vielleicht bei der Mercedes fahrenden Reederklientel der Fall ist, für die es extra einen Valet-Service gibt, der das Auto rangiert. Das ist eine gute Idee, denn nach den paar großen Bier, die man sich schon mittags hier in den Kopf stellt, will man natürlich nicht lange nach seinem Wagen suchen.

Als ich heute spontan und ohne Reservierung einkehre, ist es stickig, weil die Klimaanlage nach der kürzlichen Sturmflut hier den Geist aufgegeben hat. In einem Restaurant, das Fisch brät, ist das etwas ungünstig, aber was soll’s. Ein Blick in die Weinkarte soll es richten, aber diese ist ‒ es war zu erwarten ‒ belanglos, mit wenigen Ausnahmen. Eine davon ist ein 2007er Meursault-Blagny 1er Cru „Château de Blagny“ von der Domaine Louis Latour für € 92.

Die Mineralität des Weins passt gut zum Teller mit sehr frischen Austern („Fine de Claires“, Stück € 3,50), die mit einer sehr guten Schalottenvinaigrette serviert werden. — 7

Die Seezunge „Müllerin Art“ im Hauptgang (€ 55) wird am Tisch filetiert und gelangt heiß und in Butter goldbraun auf den Punkt gebraten auf den Teller. Salzkartoffeln mit Petersilie und ein Kännchen mit flüssiger Butter machen aus der delikaten Zutaten ein bodenständiges, eher schweres Gericht auf insgesamt aber gutem Niveau. — 6,5

Ein Stück Steinbutt ‒ etwas zu kräftig angebraten ‒ mit mediterranem Gemüse, Salzkartoffeln, Gurkensalat und Pommery-Senfsauce verfolgt ebenfalls die Idee einer traditionellen deutschen Geschmackswelt, aber immerhin wird man hier authentisch damit konfrontiert. — 6,5

Bodenständige Küche in guter Zubereitung, Elbblick und ein sehr deutsches Verständnis von Gastronomie lassen mich vielleicht in vierzig Jahren erneut hier einkehren, dann bin ich auch im richtigen Alter.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Fischereihafen Restaurant (→ Website)
Chef de Cuisine: Michael Scherer
Ort: Hamburg, Deutschland
Datum des letzten Besuchs: 03.11.2017
Guide Michelin (D 2017): empfohlen
Meine Bewertung dieses Essens (?): 6,5 (Was beudeutet das?)
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Rive

Das mit ihrem Tschebull in der Hamburger Innenstadt sehr erfolgreiche österreichische Ehepaar hat einen Restaurantklassiker an der Elbe wiederbelebt. Der Geschäftssinn der Tschebulls scheint ungebrochen, denn das Rive ist an diesem Freitag im November rappelvoll. Es sind bestimmt hundert Gäste hier. Der große Saal ohne jegliche Art von raumtrennenden Elementen wirkt in etwa so charmant wie eine Kantine.

Die Speisekarte hat „Fische und Seafood“ im Mittelpunkt und enthält ein buntes Sammelsurium von Fischgerichten nach norddeutschem Gusto (Schellfisch, Pannfisch, Rotbarsch, Lachs), italiennahen Speisen mit Wiedererkennungswert (Vitello Tonnato, Meeresfrüchte-Spaghetti), angesagte Kreationen wie „Hawaii Style Poke“ bis hin zu Fleisch vom Grill, Meeresfrüchte-Etagere und Kaviar. Zu Letzterem passt eine große Auswahl an Champagner-Etiketten aus dem Hause Moët & Chandon.

Ein Ceviche vom Thunfisch (€ 16,50) kommt u. a. mit Avocado, Süßkartoffeln und einem frischen Geschmacksbild an den Tisch, wirkt aber etwas lieblos auf den Teller geklatscht und könnte mehr Säure und eine kühlere Temperatur vertragen (6). Das zuvor genannte Poke mit Lachs und Melone (€ 15,50) sieht so aus als käme aus derselben Schüssel, bildet aber die Grundidee dieses pazifischen Trendgerichts recht gut ab, vor allem der Sushireis ist gut gekocht, und der Lachs hat eine akzeptable Qualität (6,5).

Hamburger Pannfisch lasse ich zurückgehen, weil Kartoffeln und Fisch maßlos übergart sind. Ein Test am Gaumen bestätigt meine Messerprobe: trocken und hart ist das nicht essbar (5). Ersatz brauche ich nicht, mein Appetit ist mir in der stickigen Seafood-Luft auch etwas vergangen. Dass das Gericht mit € 19,90 dennoch auf der Rechnung steht, ist sicherlich kein Vorsatz, aber die Korrektur dauert lange und involviert angestrengte Mienen des überforderten Personals.

Das Essen bildete zwar nur einen kleinen Ausschnitt aus der Speisekarte ab, aber in Summe ist dieses Erlebnis doch ein Referenzbeispiel dafür, wie man ein Restaurant in dieser Stadt zu einer Goldgrube macht: mit überteuertem Mittelmaß.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Rive (→ Website)
Chef de Cuisine: Felix Dietz
Ort: Hamburg, Deutschland
Datum dieses Besuchs: 17.11.2017
Guide Michelin (D 2017): nocht nicht bewertet
Meine Bewertung dieses Essens (?): 6 (Was beudeutet das?)
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Hæbel

In meinem letzten Bericht über das Restaurant von Küchenchef und Inhaber Fabio Haebel machte ich unter anderem die regelmäßige Wandlung des Gastronomiekonzepts zum Thema. Aus der Tarterie, die herzhaftes französisches Gebäck verkaufte, wurde die Tarterie St. Pauli mit offener Küche und festem Abendmenü, inzwischen heißt das Restaurant Hæbel, und die Küche ist, laut Speisekarte, „Nordic French“.

Das jetzige Bekenntnis zum eigenen Namen ist vielleicht auch ein Ausdruck davon, nun angekommen zu sein. So fühlt es sich auf jeden Fall an, wenn man derzeit den kleinen Laden betritt. Behutsame Veränderungen am Mobiliar, der Wandfarbe und weiteren Details wirken durchdacht und schlüssig. Die Speisekarte steht zu einem einzigen Menü mit fünf Gängen (€ 65) und ist unter anderem auch deswegen interessant, weil die Karte nicht die einzelnen Gänge, sondern nur die wichtigsten verwendeten Zutaten (in scheinbar willkürlicher Reihenfolge) aufführt.

Der Auftakt zum Aperitif enthält bereits überzeugende Aussagen zum Thema Produktqualität. Sauerteigbrot wird mit französischen Jahrgangssardinen und Beurre Bordier aufgetischt ‒ mehr braucht es oft nicht zum kulinarischen Glück. Als Eröffnung des Menüs überzeugt ein Rindertartar mit Steinpilzmayonnaise und Caviar d’Aquitaine mit einem sehr schmackhaften Einsatz von Säure, Salz und „Süffigkeit“, allerdings ist das Fleisch selbst etwas zu sehnig, wenngleich mir die etwas größer geschnittenen Stücke prinzipiell gut gefallen. — 6,9

Sehr fein sind auch die folgenden Kürbisravioli mit Rettich, bei denen ein am Tisch aufgesprühter Essig (aus Nierstein) das Gericht mit ansprechender Säure versorgt. — 7

Auf ähnlichem Niveau ist Filet vom Iberico-Schwein von guter Qualität und Garung mit einer Meerrettich-Beurre-Blanc, weißem Trüffel und Grünkohl, welches ein klassisches deutsches Geschmacksbild intelligent auf ein höheres kulinarisches Niveau hebt. Das ist sehr gut, lässt aber gerade deshalb sofort den Schluss zu, dass man hier mit noch hochwertigeren Zutaten ein noch besseres Ergebnis erzielen könnte. — 6,9

Weitere Gänge sind alle ambitioniert und prinzipiell sehr stimmig, handwerkliche Fauxpas wie eine übergarte Wachtelbrust (6) und ein doch etwas kurioses Geschmacksbild beim ohnehin nicht besonders attraktiven Skrei mit einer recht strengen Brunnenkressesauce (6,5) zeigen aber auch einige Inkonsistenzen auf.

Die Desserts sind gut bis sehr gut, die Weinkarte ausbaufähig (ich habe etwas Eigenes mitgebracht), und den zwei Personen im Service würde etwas mehr Freude auch gut zu Gesicht stehen, ihre zweifellos nicht immer einfache Arbeit in allen Ehren.

Haebels Küche bietet mittlerweile eine Bühne, die für den Auftritt noch viel besserer Produkte (diese sind ja bereits gut) prädestiniert wäre. Das Preisniveau müsste dann deutlich anziehen, und das wäre ein riskanter Schritt nicht nur in dieser Stadt, sondern auch in dieser Gegend. Doch auch ohne dieses Risiko einzugehen ist das Hæbel schon jetzt Grund genug, zum Kiezgänger zu werden.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Hæbel (→ Website)
Chef de Cuisine: Fabio Haebel
Ort: Hamburg, Deutschland
Datum dieses Besuchs: 19.01.2018
Guide Michelin (D 2018): nocht nicht bewertet
Meine Bewertung dieses Essens (?): 6,9 (Was beudeutet das?)
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Daruma

4,5 von 5 Punkten bei Google, 4 von 5 Punkten bei Yelp, 90 % „sehr gute“ oder „ausgezeichnete“ Bewertungen bei TripAdvisor: das japanische Restaurant Daruma verzeichnet bessere Bewertungen als die Restaurants von Großmeistern wie Jiro Ono oder Takashi Saito in Tokio. Auf diese Quellen ist zwar grundsätzlich kein Verlass, aber das sind nun mal die Fakten. Ein Interessent der Hamburger Restaurantlandschaft könnte ja zumindest auf die Idee kommen, dass sich ein Besuch in diesem Restaurant lohnt.

„Kein Asien schi-schi“ (sic) schreibt ein Bewerter, was auch immer das bedeuten soll. Wenn er die Abwesenheit von Bei-Sushi-sehen-und-gesehen-werden-Publikum meint, wo auch immer es das geben soll, hat er sicherlich recht. Aber dieser erstrebenswerte Mangel ist leider auch kein Qualitätskriterium das Essen betreffend. Und Prominenz ist trotzdem vor Ort. Als ich eintrete, sitzt Jonathan Meese im Trainingsanzug an einem Tisch mit seiner Frau Mama. Das ist zwar auch nicht wirklich Chichi, aber immerhin ist der Hamburger Künstler in Tokio geboren und verkauft Bilder für hunderttausend Euro.

Es nützt alles nichts. In nicht etwa einfach nur schlichtem, sondern renovierungs- und reinigungsbedürftigem Ambiente bestellt man aus einer angegrabbelten Speisekarte mit Plastikseiten Speisen, die mit jämmerlichen Zutaten und boshaftem Handwerk zubereitet sind, dass ich tatsächlich etwas von dem billigen Sake abtrinke, der aufgrund der zu optimistisch ausgereizten Oberflächenspannung aus dem quaderförmigen Holzgefäß ausläuft (ich weiß, das ist Absicht).

Fleischgerichte mit Kantinenqualität; Nigiri-Sushi, das ich nicht anrühre, weil mir die trockenen Teile schon vom Anblick her im Hals stecken bleiben; und ein Blick in die Küche, der noch deutlich Übleres erahnen lässt, lassen mich schnell das Weite suchen. Meldepflichtig!

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Daruma
Ort: Hamburg, Deutschland
Datum dieses Besuchs: 22.11.2017
Guide Michelin (D 2017): nicht empfohlen
Meine Bewertung dieses Essens (?): 5 (Was beudeutet das?)
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L’Atelier de Joël Robuchon Shanghai ‒ Französisch bei Chinesen

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Es ist der 1. Januar, und ich sitze im Flugzeug mit dem Ziel Shanghai. „Bloß keinen Franzosen!“ sagt der deutsche Passagier hinter mir, als er mit der Flugbegleiterin über Wein zu fachsimpeln beginnt und lieber zum würzigen Spanier greift.

Der deutsche Fluch verfolgt mich bis in 38.000 Fuß Höhe. Wenn der Mann wüsste, wie sehr ich mich gerade auf den Tresenplatz bei Robuchon freue, der in zwanzig Stunden schon auf mich wartet …

Später sitze ich dann endlich im Atelier. Vor genau einem Jahr war ich zum ersten Mal in dieser Filiale von Robuchons international erfolgreicher Restaurantkette und habe seitdem oft an dieses Restaurant gedacht, viel öfter als an andere Ateliers. Keine Zweifel, es gibt bessere und angesagtere Restaurants, aber an diesem habe ich den Narren gefressen ‒ vor allem, wenn es um das Gesamterlebnis geht. Schon lange bevorzuge ich eine Art Selbstbestimmtheit in der Gastronomie. Eine Auswahl à la carte, eigenes Tempo beim Essen, nur der nötigste Service, all das sind Merkmale, die ich ‒ auf das Erlebnis bezogen ‒ einer festen Menüfolge und klassischer „Fine Dining“-Atmosphäre vorziehe. Es gibt natürlich unzählige legitime Ausnahmen.

Auf die Lage am Bund mit Blick auf die Skyline von Shanghai-Pudong, auf die offene, einladende Atmosphäre mit freundlichem, internationalen Personal hinterm Tresen und auf das exzellente und unkomplizierte Essen in kleinen Portionen habe ich mich jedenfalls schon gefreut, als ich in Deutschland ins Flugzeug stieg. Vergleichbares gibt es in unseren Breiten einfach nicht, angefangen bei einer Skyline.

Am Tresen angekommen, eingelullt in die schwarzrote Welt von Robuchon, bereitet mir die sehr gute ‒ wenn auch kostspielige ‒ offene Weinauswahl schon die erste Freude, als erstes mit einem cremig-eleganten 2011er Meursault Tessons von der Domaine Pierre Morey (ca. € 38).

Es gibt gutes Brot aus einer umfangreichen Auswahl, sehr gute Butter und kurz danach ein Amuse-Bouches im Glas: cremige Foie Gras mit einer Schicht gelierter Portweinreduktion und Parmesanschaum. Die Foie Gras hat einen angenehmen Schmelz, das Gelee bietet eine dazu gut passende Fruchtsüße, und auch die warme Temperatur der Speise eignet sich hervorragend als erste kulinarische Entschädigung nach der langen Anreise. — 7,9

Aber es wird noch besser, zunächst mit einem Klassiker aus der Speisekarte ‒ Dorade als Carpaccio mit Limone, Piment d’Espelette und Kaviar (ca. € 25). Das ist so hervorragend wie schon beim letzten Mal. Das Gericht verkörpert für mich viele Eigenschaften, die ich mit gutem Essen assoziiere: außergewöhnlich gute Produkte, Schlichtheit, Frische, sowie Ästhetik durch Zutaten und nicht durch „Tellerkunst“. — 8

Ein „La Truffe Noire“ genanntes Gericht (ca. € 37) mit einem perfekt gebratenen Spiegelei auf einem überraschend guten, gebratenen Reiskuchen ist „schlotzig“, angenehm salzig und süffig, hat aber mit dem namensgebenden Trüffel irritierend wenig zu tun. Dennoch exzellent. — 7,5

Weiter geht es mit Kohlenfisch (ca. € 25), der als ein jakobsmuschelgroßes Stück Filet bester Qualität auf den Teller kommt, das in der Pfanne zu goldbrauner Perfektion karamellisiert wurde und heiß, zart und innen schneeweiß und saftig auf ein Saucen-Duo gebettet ist. Ein dunkler, dichter Jus mit Malabar-Pfeffer und eine cremige, fruchtig-süße, leicht exotische Kokosemulsion bilden nicht etwa Kontraste, sondern eine einzige Harmonie. Robuchons legendäres Kartoffelpüree, separat serviert, das eher als Buttercreme mit Kartoffel bezeichnet werden kann, sowie Pak Choi und ein hauchdünnes Parmesansegel ergänzen ein ungemein wohlschmeckendes und makellos zubereitetes Gericht, das schon jetzt ein heißer Kandidat für eines der besten Gerichte dieses Jahres ist. — 10

Ich atme tiefe durch und freue mich, hier zu sein. Ich könnte ‒ allen Ernstes ‒ schon morgen wieder zurückfliegen und hätte die Reise nicht bereut.

Nach längerer Überlegung, das Gericht noch einmal zu bestellen, entscheide ich mich doch für Abwechslung, zunächst in Form von entbeinten und karamellisierten Hähnchenflügeln (ca. € 24). Das hier an die Zartheit von Pfaffenstückchen erinnernde Fleisch wird zusammen mit kleinen Pilzen, schwarzem Trüffel und Zuckerschoten serviert und ergibt ein abermals süffiges, erdig-herzhaftes Gericht mit exzellenten Zutaten und präziser Zubereitung. Die Küche hier läuft wie ein Schweizer Uhrwerk. — 8

Meine letzte Bestellung ist das schlicht „Le Burger“ genannte Gericht (ca. € 33), das aus zwei kleinen Exemplaren eines jeweils ziemlich perfekten Mini-Burgers besteht. Zwischen samtig weichen Brötchenhälften findet man saftiges (nicht genauer spezifiziertes) Rindfleisch, darauf, in dekadenter Tournedos-Rossini-Manier, eine Scheibe gebratene Foie Gras, welche das Fleisch mit ihrem schmelzenden Fett noch einmal üppig anreichert. Karamellisierte Zwiebeln, hausgemachtes Ketchup und exzellente, dünne, knusprig-heiße Pommes Frites sind weitere Komponenten dieses Wohlfühlgerichts auf nicht anzweifelbarem Spitzenniveau. — 8,5

Ein Macaron mit Rosenaroma und eine kandierte Orangenstange mit Schokoladenüberzug sind besser als viele süße Menüabschlüsse, die man sonst irgendwo erleben kann. — 8,5

Die Ateliers bleiben meine Referenz für eine der gelungensten Kombinationen von unbeschwerter Gastronomie und exzellentem Essen.

Dass sich Kochhandwerk ab einem bestimmten Niveau jedoch ‒ auch mit diesem Konzept ‒ nicht beliebig kopieren lässt, bestätigen die unterschiedlichen Niveaus der weltweiten Ateliers, bei durchaus ähnlichen Speisekarten. In Paris und London verlor je ein Atelier in den letzten Jahren einen seiner zwei Michelin-Sterne, und in Hongkong hat man gleich drei. Ich ziehe dieses jedoch bisher allen vor und könnte mich kaum mehr darüber freuen, nach Shanghai geflogen zu sein, um französisch Essen zu gehen. Morgen im Ultraviolet geht es damit auch gleich weiter.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: L’Atelier de Joël Robuchon Shanghai (→ Website)
Chef de Cuisine: Francky Semblat
Ort: Shanghai, Deutschland
Datum dieses Besuchs: 02.01.2018
Guide Michelin (Shanghai 2018): **
Meine Bewertung dieses Essens (?): 8,5 (Was beudeutet das?)
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Restaurant Schwarzenstein ‒ deutsche Tugenden

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Mein Besuch im damaligen Restaurant Dieter Müller in Bergisch Gladbach muss ungefähr vierzehn Jahre her sein. Es muss die Zeit gewesen sein als Dieter Müller Nils Henkel zum gleichberechtigten Küchenchef des Restaurants machte. Nach Dieter Müllers Fortgang im Jahr 2008 hielt Henkel dort noch drei weitere Jahre lang die drei Michelin-Sterne aufrecht, bis er seinen neuen Küchenstil „Pure Nature“ umsetzte und sich fortan mit einem Stern weniger begnügen musste.

2014 schloss das inzwischen in Gourmetrestaurant Lerbach umbenannte Restaurant wegen umfangreicher Renovierungsarbeiten, die bis heute andauern. Da ich nach meinem Besuch bei Dieter Müller nie ins Schloss Lerbach zurückgekehrt war, ist mir Henkels Küche bis heute eigentlich unbekannt.

Da ich aber nicht vorhabe, Henkels kulinarische Entwicklung zu dokumentieren, sondern einen Wochenendtrip im Rheingau in der neuen Wirkstätte von einem von Deutschlands bekanntesten Köchen zu unternehmen, ist diese Wissenslücke für mich unerheblich. Das Restaurant im „Relais & Châteaux“ Burg Schwarzenstein wurde im Guide Michelin 2018 prompt mit zwei Sternen ausgezeichnet.

Das Interieur des Restaurants folgt einem sehr deutschen Verständnis für sachliche Eleganz. Sehr viele Spitzenrestaurants in Deutschland sehen derzeit so aus: dezente Grau- oder Schlammtöne, eckige Tische mit zwei Tischdecken, das weiße Tischtuch oben. Mich erinnert das mit einem Schmunzeln an eine Szene aus Loriots „Ödipussi“, in welcher der Geschäftsführer eines Möbelhauses einem Ehepaar „28 Grautöne eines belgischen Herstellers“ präsentiert: „Mausgrau, Staubgrau, Aschgrau, Steingrau, Bleigrau, Zementgrau …“.

Das strahlt zwar weder Klasse noch Originalität aus, aber dafür so deutsche Tugenden wie Sicherheit und Ordnungssinn. Das ist rein deskriptiv gemeint. Ich kann einem solchen Ambiente durchaus etwas abgewinnen. Und wenn die Nächte wieder länger sind, muss der Blick auf den Rhein und die berühmten Weinlagen von hier oben aus traumhaft sein.

Die Weinkarte ist umfangreich, mit einem zu erwartenden Fokus auf deutsche Weine, allerdings bei weitem nicht nur aus dem Rheingau. Interessanterweise sind die meisten Positionen der Karte im zweistelligen Preisbereich angesiedelt, sodass man auch mit kleinerem Budget hier gut zurechtkommt. Außergewöhnlich spannend ist die Karte nicht ‒ vor allem aus dem Rheingau hätte ich eigentlich einen riesigen Schatz an Weingütern und Jahrgängen erwartet ‒, aber vinophilen Spaß kann hier dennoch haben. Mit einem zunächst von mir ausgewählten 2013er Berg Schlossberg vom Weingut Georg Breuer (€ 124) kann ich mich allerdings zunächst überhaupt nicht anfreunden, weil er eine sehr bissige Säure aufweist, die ich in Riesling so kaum kenne, aber der freundliche Sommelier rettet mich fachkundig aus dieser misslichen Lage und ersetzt meine Wahl durch eine trockene 2007er Auslese vom Weingut J. B. Becker (€ 71), die deutlich angenehmer zu trinken ist. Im Übrigen ist das Personal hier insgesamt sehr charmant und gelöst.

Die Speisekarte bietet die Auswahl zwischen den Menüs „Fauna“ und „Flora“ (sechs bis acht Gänge € 140‒€ 210). Meine Wahl fällt auf „Fauna“, mit einem Austausch.

Erste Amuse-Bouches sind ein Artischockenbällchen mit Parmesanbaiser (recht neutraler Geschmack, 6), ein in Teriyaki-Sauce gebeiztes Stück Rind auf einem knusprigen Chip und mit ansprechender Säure und Würzung 7), ein „indisches Überraschungsei“ mit einer nach einem intensiven Curry schmeckenden Creme auf geschmorten Rindfleisch (7,5), sowie ein Gericht mit Königskrabbe und Papayasalat, das mit einer feinen Säure, exotischen Fruchtaromen und einer frappierend idealen Temperatur zwischen lauwarm und kühl die raffinierteste der vier Petitessen ist (8). Die exotischen Geschmacksbilder hatte ich hier gar nicht erwartet.

Mit dem folgenden „Gruß“ findet man sich weiterhin in einer orientalischen Geschmackswelt wieder. Ein Stück in Vadouvan-Sauce gebeizter Lachs ist sehr gut gegart, vor allem die hauchdünne knusprige Haut ist sehr gut umgesetzt. Die Zutat Lachs finde ich wegen ihres manchmal ‒ auch hier ‒ etwas tranigen Geschmacks etwas ungünstig, aber hier passt die Zutat prinzipiell. Die sofort als „Anrichtkunst“ aus einem deutschen Gourmetrestaurant erkennbaren Beilagen, die man allein schon aufgrund ihrer physischen Distanz zum Hauptprodukt so nennen muss, sind für das was sie bieten, deutlich zu auffällig angerichtet. Kichererbsenpüree, Sesamcreme und Gurke ergeben zwar in Summe einen ansprechenden Geschmack, aber, von der Gurke abgesehen, sind das alles Zutaten, die am Gaumen ein trockenes, „raues“ Gefühl hinterlassen. Geschmacklich ist das aber alles sehr stimmig. — 7

Der erste Gang des Menüs beinhaltet Bonito und kleine Garnelen. Beide Komponenten sind roh und mit Kohlrabi kombiniert. Angerichtet sind drei Portionen davon um eine sehr säurebetontes Dashi mit Zitronengras und Koriander. Kleine Portionen von gelierter Sojasauce und Yuzu unterstreichen ein aromatisch gelungenes, erneut fernöstliches Geschmacksbild, dessen saure Ausrichtung den exzellenten Meerestieren jedoch nicht guttut, weil man sie so gut wie gar nicht schmeckt. Mit Mühe probiere ich ein einzelnes Stück Bonito separat und kann nur auf diese Weise seine hervorragende Qualität und Frische feststellen. Dennoch ‒ ich kann das erfahrungsgemäß in meinen Berichten nicht oft genug betonen ‒ handelt es sich um Komponenten, die alle präzise zubereitet sind und ihre Herkunft aus einer Spitzenküche nicht verleugnen. Das ändert jedoch nichts daran, dass die überwiegende Säure etwas unvorteilhaft proportioniert ist. Aus der Komposition an sich und dem exzellenten Bonito ließe sich zweifellos ein absoluter Spitzenteller kreieren. — 7,9

Makrele Marakesch [sic]“ thematisiert mit Zutaten wie gegrillter Aubergine, Couscous und Tintenfischen erneut das Morgenland und betont die Geschmacksrichtungen Säure und diesmal auch Salz in erneut grenzwertiger Weise. Darunter findet man ein anspruchsvolles, süffiges Zusammenspiel von Aromen und eine etwas zu „fischig“ schmeckende Makrele. Die exzessive Begeisterung deutscher Spitzenköche für Tupfer links, Tupfer rechts, Tupfer unten, jeweils mit kleinem Kraut darin kann ich allerdings so gut wie nie teilen, besonders dann nicht, wenn dem optischen Bild mehr Aufmerksamkeit zuteil kommt als dem Geschmacksbild. Erneut bewegen wir uns aber auf einem kulinarisch hohen Niveau. — 7,5

Ein Kaisergranat von sehr guter Qualität gelangt beim nächsten Gang mit Curry, Erbsen, Radieschen und Zitronengras in unterschiedlichen Zubereitungen auf den Teller. Das ist alles objektiv sehr gut umgesetzt. Die Gemüse sind knackig frisch, das Krustentier ist makellos gegart, aber auch hier hat dieser es merklich schwer, seine authentischen Qualitätsattribute zu präsentieren. Sehr gut, aber fernab von etwas Besonderem. — 7

Ein Filetstück vom Wolfsbarsch ist beim folgenden Gang auf einer Scheibe von gebratenem Fenchel mit ansprechenden Röstaromen angerichtet. Weiterer Fenchel, roh und dünn gehobelt, findet man auch auf dem Teller. Ein großartiger, pikanter Fischsud (Caldeirada) mit einer an Bouillabaisse erinnernden Würze ist bei diesem Gericht eindeutig der Star und könnte in Verbindung mit einer anderen Anrichtweise, die einen tieferen Teller, einen Esslöffel und weniger „Platzierungen“ von Komponenten involviert, noch deutlich profitieren. — 7

Der folgende Gang beinhaltet eine dick geschnittene Scheibe offenbar hausgemachter Pastrami vom Iberico-Schwein, serviert auf Steckrübenpüree. Ein würziger „Gulaschsaft“ verleiht weitere Geschmackstiefe, während Ricotta mit Schnittlauch etwas Frische hinzufügt. Süffig, erneut ziemlich salzig, aber gut. — 6,9

Hirschkalb ist die nächste Hauptkomponente. Eine Scheibe Quittengelee trennt das zarte und aromatische Fleisch von einem Stück gebratenem Hirschherz, das ebenfalls sehr gut schmeckt. Umzingelt ist das Fleisch unter anderem von Quittenstücken, frittiertem Kohl und kleinen Pilzen. Ein (etwas zu) leichter Wacholderjus ergänzt ein anspruchsvolles Geschmacksbild von hochwertigen Zutaten. In einem Schälchen à part gibt es noch ein Hirschragout, heiß und süffig und erfrischend unverkopft. — 7,5

„Hier haben wir den Bratapfel …“ ‒ so wird nach einer angenehmen Pause das erste Dessert angekündigt, und ich möchte fast fragen: „Wo denn?“. Nach ersten Erkundungen findet man ihn in Form von kleinen, mit einer Zubereitung mit Berberitzen gefüllten Röllchen und, glaube ich, in einem Eis. Fichtennadeln und Schokolade aus dem Kongo spielen weitere Rollen in einem Dessert, das etwas nach Weihnachten schmeckt, mir aber in Summe zu „deutsch“ ist, das heißt zu viel als Werk konzipiert denn als genussstiftendes Dessert. — 6,5

Der „Epilog“ präsentiert eine abwechslungsreiche Variation von teils gelungenen (Fruchttörtchen) über recht artifiziell schmeckende (Karamellschnitte) bis zu einer wirren Kreation mit Sanddorneis, Nougatcreme und Estragonsauce ‒ und zeigt damit zwar Vielfalt, aber wenig Genuss (im Schnitt allenfalls 6/10). Ein Blumenkohlmacaron mit Curry ist dann noch mal eine Erinnerung daran, dass das aktuelle „Fauna“-Menü ein orientalisch inspiriertes ist.

Die deutsche Spitzenküche glänzt regelmäßig ‒ und auch hier ‒ mit präzisem Handwerk. Dieses Können stellt man gerne visuell zur Schau, wobei es hierbei nicht selten vorkommt, dass Attribute wie herausragende Produkte, Authentizität, Schlichtheit und Harmonie in den Hintergrund rücken. Ein objektiv hervorragendes Essen muss diese Attribute natürlich nicht alle als Leitmotiv haben, doch wenn auf viele davon verzichtet wird, müssen weitere Dinge wie Innovation oder Geschmacksbilder umso überragender sein.

Die Küche heute Abend bezog dahingehend wenig Position. Vor allem wurden mir Produktqualitäten zu wenig thematisiert, was nicht bedeutet, dass es diesbezüglich Mängel gab. Gleichwohl gab es kaum eine Zutat auf Referenzniveau ‒ oder sie war in einem Arrangement versteckt, dass zu säure- oder salzlastig abgeschmeckt war. Auch die starke orientalische Ausrichtung hat mich insofern irritiert als das Vorwort in der Speisekarte unter anderem Begriffe wie „Terroir der Region“ und „deutsche Küche mit ihren Produkten“ aufführt.

Ein typischer Gast ‒ und das ist in keiner Form wertend gemeint ‒ wird üblicherweise mehr Freude aus einem solchen Abend ziehen. Er wird das freundliche Service-Team loben, das angenehme Ambiente, die kunstvoll angerichteten Teller. Doch wenn man weiter fragt, was es alles zu essen gab, wird eine Antwort vermutlich schwerfallen. Meine steckt in diesen Zeilen.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Restaurant Schwarzenstein (→ Website)
Chef de Cuisine: Nils Henkel
Ort: Geisenheim, Deutschland
Datum dieses Besuchs: 27.01.2018
Guide Michelin (D 2018): **
Meine Bewertung dieses Essens (?): 7,5 (Was beudeutet das?)
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