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Tourniert: Franzosen und Frantzén in Hongkong

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Warum ich nach China fliegen würde, um dort französisch Essen zu gehen, fragen mich während dieser Reise einige, die meinen Erlebnissen in den sozialen Netzen folgen. Die Antwort ist einfach. Spannende Gastronomie zu entdecken interessiert mich immer. Und wenn das auch noch in einer pulsierenden Metropole stattfindet, genieße ich das umso mehr. Was gibt es Aufregenderes als an einem Tisch zu sitzen, der mir in zeitgemäßer Atmosphäre mit Blick auf die leuchtende Skyline einer Metropole gutes Essen serviert? Das ist mir allein schon jede weite Reise wert. Gastronomie dieser Art sauge ich auf wie ein nasser Schwamm, weil das in dieser Kombination in unseren Breiten nicht existiert. Also rein ins Flugzeug!

Hongkong erlebt seit geraumer Zeit so etwas wie eine Explosion gastronomischer Angebote der Superlative. Eine kosmopolitische, dynamische und aufgeklärte Klientel mit kulinarischem Interesse sorgt für eine große Nachfrage an hochwertiger Gastronomie. Mit einem Interesse für Gastronomie und gutem Essen, mit dem man bei uns zulande weitestgehend als Exot gilt, ist hier nahezu jeder ausgestattet, mit dem ich mich unterhalte.

Dass die Nachfrage vorhanden ist, haben europäische Gastronomen längst begriffen. Besonders die Franzosen sind ganz vorne mit dabei und stillen das Bedürfnis der Asiaten und ihrer Gäste nach hochwertiger französischer Küche. Genau dasselbe Bedürfnis ‒ nach hochwertiger ausländischer Küche ‒ könnten wir in Deutschland übrigens auch haben. Zwei wesentliche Probleme sprechen dagegen.

Zum einen ist da das entscheidende Adjektiv „hochwertig“. Wir sind mit einem chinesischen Restaurant nämlich schon dann zufrieden, wenn es Nummern 17 und 25 anbietet, mit einem japanischen, solange Reis, Avocado und Lachs in Zylinderform im Spiel sind und mit einem italienischen, wenn man seinen Status als Stammgast erreicht hat und sich Garnelen als Scampi unterjubeln lässt. Diese provinzielle Genügsamkeit ist zum Beispiel auch der Grund, warum uns ein Atelier de Joël Robuchon in Deutschland für immer verwehrt bleiben wird. Pierre Gagnaire hat sich aus Berlin mit seinem Les Solistes im Hotel Waldorf Astoria so schnell wieder zurückgezogen wie die Fühler einer aufgeschreckten Schnecke.

Das weitere, noch viel grundlegendere Problem ist die Abwesenheit einer Sättigung durch eine einheimische Küche, die qualitativ auch mal ein gutbürgerliches Maß übersteigt. Wie soll man sich Küchen anderer Länder in guter Qualität wünschen, wenn man nicht einmal eigene kulinarische Wurzeln geschlagen hat? Eine Currywurst, ein Fischbrötchen oder Brezn mit Weißwurst sind im Ausland immer für ein Schmunzeln gut, aber was kommt dahinter? Ich hoffe immer, es fragt mich niemand. Dass unsere Spitzenköche technisch so brillant sind, hilft uns kaum weiter, weil sie von der alltäglichen kulinarischen Realität völlig entkoppelt sind.

Zurück in Hongkong ‒ oder vergleichbaren Metropolen ‒ gibt es zwar auch keinen Grund, die Restaurantbetriebe europäischer Gastronomen zu glorifizieren. Gold ist das auch nicht alles. Und „besser“ als in den Heimatländern der jeweiligen Gastronomen auch nicht zwingend. Aber anders. Wie anders, und wie viel Spaß es dennoch macht, dort Essen zu gehen, steht in den folgenden Kurzberichten.

→ Frantzén’s Kitchen
→ Rech by Alain Ducasse
→ Pierre
→ Caprice


Frantzén’s Kitchen

Als ich im Dezember im Frantzén in Stockholm eines meiner besten kulinarischen und gastronomischen Erlebnisse genoss, war Inhaber Björn Frantzén gerade in Hongkong, um dort in seinem neuen Frantzén’s Kitchen nach dem Rechten zu sehen. Heute Stockholm, morgen Hongkong, so ist das eben derzeit mit erfolgreichen, dynamischen Gastronomen.

Das Frantzén’s Kitchen ist keine Kopie des Stockholmer Über-Restaurants. Im Gegenteil, der Zusatz „Kitchen“ soll verdeutlichen, dass es hier leger zugeht. Kleine Speisen à la carte anstelle eines Degustationsmenüs und willkommene „Walk-ins“ signalisieren ein Höchstmaß an Ungezwungenheit. Das passt an meinem Ankunftstag in Hongkong perfekt zwischen Mittag- und Abendessen.

Björn Frantzén hat eine junge Crew aus Stockholm für dieses Abenteuer in Hongkong begeistern können, die schon hinter dem Tresen mit köstlichen Zutaten hantiert als ich Platz nehme. Eine Schale voll mit schwarzem Trüffel, eine frisch aufgeschnittene Yuzu, Essstäbchen am Platz, ein guter weißer Burgunder bereits im Glas, das ist alles völlig normal in einem modernen Restaurant in einer beliebigen Metropole dieser Welt.

Aus der in drei Gruppen unterteilten Speisekarte mit Gerichten zwischen umgerechnet ca. 7 und 25 Euro wähle ich einige Kleinigkeiten. Ein herzhafter Macaron mit Apfel, Foie Gras und roter Bete ist präzise umgesetzt (7) und ein ähnlich köstlicher Start in ein kurzes Menü wie eine pochierte Auster mit gefrorenem Rhabarber, Walnuss und Gin (6,9).

Swedish Sushi“ besteht aus knusprigem Moos, Reh, Steinpilzmayonnaise und gehobelter, geeister Entenleber und ist leicht, süffig und herzhaft (7). Ein Toast mit schwarzem Trüffel, Balsamessig und Parmesan ist so etwas wie der kleine Bruder der epochalen Speise in Stockholm (dort mit noch mehr und frischeren Trüffeln, besserem Balsamessig sowie zu mehr „Knusprigkeit“ geröstetem Toast), aber selbst diese kleine Portion ist ein dekadenter Genuss allerhöchster Güte und eine Wiederholung, nach der ich geschmachtet habe (8).

Ein letzter Gang mit Heilbutt, Hummer, drei verschiedenen Rogenarten und einer recht salzigen hellen Sauce ist noch ein „Experiment“ der Küche und auch als solches noch nicht ganz gelungen, denn der Hummer hat eine aufgetaute, wässrige Textur, der Heilbutt ist übergart, und der Salzgehalt ist grenzwertig. Mit etwas mehr Zuneigung kann daraus zweifellos ein ansprechenderer Gang werden. — 6

Alles kein Hexenwerk und in der Qualität etwas schwankend, aber diese unbeschwerte Art der Gastronomie lässt mein Herz dennoch höherschlagen. Und ich muss ja noch nicht abreisen. Es geht gleich schon weiter.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Frantzén’s Kitchen (→ Website)
Chef de Cuisine: Jim Löfdahl
Ort: Hongkong
Datum dieses Besuchs: 04.01.2018
Guide Michelin (Hong Kong/Macau 2018): Empfehlung
Meine Bewertung dieses Essens (?): 6,9 (Was beudeutet das?)
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Rech by Alain Ducasse

Das Hotel InterContinental in Hongkong ist eine architektonische Bausünde, deren Anblick eigentlich kaum zu ertragen ist. Als lohnender Ausgleich trumpft das Hotel mit der Möglichkeit auf, eine der spektakulärsten Kulissen überhaupt genießen zu können. Der Blick auf die Skyline der südlich gelegenen Hong Kong Island ist atemberaubend, besonders abends. Und das brandneue Rech by Alain Ducasse schöpft diesen Vorzug maximal aus.

Auch sonst ist das Ambiente dieses gastronomischen Paris-Ablegers sehr angenehm. Helles Holz, kombiniert mit weißen Tischtüchern und schlichten maritimen Akzenten lassen einen das Gebäude, in dem man sitzt, völlig vergessen.

Fisch und Meeresfrüchte sind das Konzept hier. Nach guten Algencrackern mit Basilikumcreme, die angenehm nach Mittelmeer schmecken, beginne ich mit zwei Speisen aus dem Abschnitt „roh und mariniert“. Bonito in dicken Tranchen (ca. € 21) ist ziemlich pikant mit Erdnuss und Chili gewürzt und bringt damit asiatische Aromen ins Spiel, während eine Paprikamousse für mediterranes Flair sorgt. Das passt alles ganz gut, doch lässt der Hauptdarsteller zu wünschen übrig, weil er zu scharf angebraten ist und dadurch trocken wirkt (6,5). Ein optisch sehr Ducasse’sches Arrangement mit Tintenfisch und Hummer (ca. € 35) wartet mit einer betörend mediterranen Geschmackswelt auf, die durch Basilikum, Knoblauch, Piment d’Espelette und einem leichten, angenehm salzigen Fischsud getragen wird. Die Qualität der Meerestiere ist sehr gut, misst sich aber auch nicht mit besonders herausragenden Zutaten. Etwas hervorragendes Olivenöl könnte das Gericht nach meinem Geschmack auch noch bereichern. Dennoch sehr gut, d. h. 7.

Wild cod Aioli“ ist eine lauwarm servierte Kreation mit Kabeljau und lauter potenziell hervorragenden, leichten Mittelmeerzutaten. Das Gericht, das in Monaco mit großer Wahrscheinlichkeit ein Referenzniveau erreichen würde, ist hier allenfalls mäßig. Fast jede Komponente hier ist übergart, der Fisch ist dadurch trocken, die Muschel kalt, die Wiederholung des Basilikums ist etwas störend, und das separat servierte Aioli schmeckt industriell. Konzeptionell stark, handwerklich mangelhaft. — 6

Zu ein paar sehr guten Petit-fours (Madeleine, Schokoladenpralinen, Yuzu-Marshmallow) und dem Rest aus meinem Glas Corton-Charlemagne (ca. € 30) lasse ich den Abend mit der einmaligen Aussicht ausklingen. Die Küche hier ist eigentlich Ducasse-typisch und tadellos konzipiert, nur müsste der Patron hier einmal dringend das Ruder rumreißen.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Rech by Alain Ducasse (→ Website)
Chef de Cuisine: Stéphane Gortina
Ort: Hongkong
Datum dieses Besuchs: 04.01.2018
Guide Michelin (Hong Kong/Macau 2018): *
Meine Bewertung dieses Essens (?): 6,5 (Was beudeutet das?)
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Pierre

In der fünfundzwanzigsten Etage des Hotels Landmark Oriental in Hongkong ‒ ein dunkles, gedrungenes Hotel mit einem sehr angestaubten Verständnis von Luxus ‒ betreibt Pierre Gagnaire bereits seit 2006 das inzwischen mit zwei Michelin-Sternen ausgezeichnete Restaurant Pierre.

Die Tatsache, dass das Restaurant den Vornamen des Kochgenies trägt, verrät eine besondere Nähe zum Kochgenie und seinem legendären Restaurant in Paris.

Die Speisekarte bietet an diesem Mittag nicht weniger als ein Express Lunch mit einer Auswahl aus zwanzig Gerichten (zwei oder drei Gänge zu ca. € 54 bzw. 64), ein Winter Tasting Menu mit sechs Positionen (vier oder sechs Gänge zu € 135‒185) sowie die reguläre Karte, die mit Gagnaires berühmten, mehrteiligen Œuvres bestückt ist. Da mich Letztere ‒ und ein Vergleich zu dem Niveau in Paris ‒ besonders interessieren, entscheide ich mich für zwei solcher Werke.

Den Anfang machen einige Canapés (Zutaten u. a. violette Kartoffel, Alge, Perilla, Haselnuss), die sehr fein gearbeitet sind, aber ihre längere Vorbereitung nicht ganz kaschieren können (6,9); danach gibt es ein Amuse-Bouche mit Makrele, Forellenrogen, Kürbispüree und „Bonito-Späne“, säuerlich frisch, aber auch etwas schwer (7).

Es geht dann gleich weiter mit der Vorspeise. Sie trägt den Titel „Perfume of the Earth“ und besteht aus insgesamt fünf Tellern (€ 78). Es gibt in Heu geräucherte und gebratene Foie Gras in grandioser Qualität mit Artischocke und Sellerie (für sich betrachtet 8). Dazu gibt es gegrillte Mortadella „Kimchi Style“ mit in geschmortem Salat eingewickelter Sobrasada, eine etwas skurrile Kreation, die man zusammen mit einem geschmacklich sehr intensiven Anis-Fenchel-Soja-Schaum probieren soll, was alles zusammen in etwa so schmeckt als würde ich Bratwurst mit Absinth herunterspülen (6,9). Ein weiterer Teller beinhaltet ein Frikassee mit hervorragenden, sehr zarten Schnecken in einem dichten, dunklen Jus sowie Chicoree mit charmanter, würziger Frische (8,5); eine Kürbisvelouté mit rosa Pfeffer und Perlzwiebeln, die man so auch in einer Bankettküche servieren könnte (6,9), ist die letzte Komponente dieser Kreation, die ‒ ganz charakteristisch für Gagnaire ‒ so herausfordernd ist wie ein Film von David Lynch. Kurzweilig, einzigartig und denkwürdig sind auf jeden Fall Qualitäten, die dieses kulinarische Werk für sich verzeichnen kann. — 7,5

Mein Hauptgang ist eine vierteilige Kreation, die um das Thema Wolfsbarsch rankt (€ 89). Letzterer kommt als fordernd großes Stück (leicht über den idealen Garpunkt) gegrilltes Filet von ausgezeichneter Qualität auf den Teller, ein grandioser Kartoffelgratin mit viel Butter und gratiniertem Parmesan komplettiert hier ein ganz klassisches Geschmacksbild, das durch Eiskraut und etwas Zitrusfrucht noch um eine angenehme Frische ergänzt wird (7). Die „Satellitenteller“ bilden hierzu einen starken Kontrast. Verschiedene Krustentiere (Große Seespinne sowie eine kleinere Krabbe), starke jodige Akzente durch Krustentierreduktionen und verarbeitetem Rogen, Zitrusfrüchte und eine sehr gute Timbale mit Coco-de-Paimpol-Bohnen ergeben eine ‒ erneut wachrüttelnde ‒ Reise durch die Meere. Faszinierend, aber in Bezug auf handwerkliche Präzision und Qualität der Produkte verbesserungsfähig. — 7

Das Restaurant ist längst nicht ausgebucht, und ich bin überrascht, dass sich einem auch mittags eine derart große Auswahl an Gerichten bietet. Die Handschrift ist ganz klar die des Meisters, aber dass sein Nachname noch nicht am Restaurant prangt, ist ebenfalls nachvollziehbar. Im Zweifel ist eben ein anderer Pierre schuld.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Pierre (→ Website)
Chef de Cuisine: Jacky Tauvry
Ort: Hongkong
Datum dieses Besuchs: 05.01.2018
Guide Michelin (Hong Kong/Macau 2018): **
Meine Bewertung dieses Essens (?): 7 (Was beudeutet das?)
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Caprice

Das Hotel Four Seasons in Hongkong zählt zu meinen absolut favorisierten Metropolenhotels. Die Lage in erster Reihe auf Hong Kong Island bietet Tag und Nacht eine fantastische Kulisse, der Service glänzt durch eine ‒ besonders in großen Hotelketten ganz selten anzutreffende ‒ Kombination von Professionalität, herzlicher Freundlichkeit und persönlicher Note, und die Entwicklung der Gastronomie steuert hier gerade auf einen unter einem Dach noch nie dagewesenen Drei-Sterne-Hattrick zu.

Über dem kantonesischen Lung King Heen leuchten die drei Sterne bereits (→ Bericht von 2015, neuer folgt), noch in diesem Jahr soll Sushi-Gott Takashi Saito hier eine Dependance eröffnen, und im französischen Caprice soll Küchenchef Guillaume Galliot ganz offenkundig die höchsten Weihen zurückholen.

Einen solchen Eindruck bereitet auf jeden Fall ein kurzes Abendessen, das ich mir schnellentschlossen noch vor meinem späten Abflug aus Hongkong gönne. So kann ich zumindest das Flugzeugessen gleich dankend ablehnen.

In australisches Wagyu-Tartar (ca. € 78) wurde Gillardeau-Auster mitverarbeitet und erfährt dadurch, zusammen mit einer üppigen Portion Kaviar obenauf, eine raffinierte Würzung. Galliot verzichtet hier bewusst auf Zwiebeln und Kapern und belebt so einen Klassiker wieder. Exzellent! — 9

Wunderbar leicht, frisch und qualitativ grandios ist danach auch das von der Küche Singapurs inspirierte Laksa mit Königskrabbe, Œuf Confit und einem (vielleicht etwas zu überdosierten) cremigen Schaum mit Sudachi-Zitrusfrucht. — 8,9

Lammkarree aus dem Aubrac ist sehr zart und aromatisch, nur mit Herd und Ofen gegart und wird mit einer Portion geschmorter Lammschulter, sehr aromatischem Paprikakompott und Marsala-Sauce serviert (€ 80). Von den Texturen her ist das Gericht etwas zu homogen, geschmacklich und qualitativ hat man hier aber ein hervorragendes Gericht vor sich. — 8

Ein Dessert mit Birne, karamellisierten Trauben und Schokolade ist ein klassischer Desserttraum, bei dem Karamell- und Fruchtaromen gekonnt im Vordergrund stehen und die Schokolade die Kreation nur subtil ergänzt. — 9

Auch die Pralinen im Anschluss sind perfekt und unterstreichen die Richtung, in die es hier geht. Ich werde das, was in diesem Haus geschieht, weiter unter die Lupe nehmen. Dieses Vorhaben ist jetzt schon eine Folgereise wert.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Caprice (→ Website)
Chef de Cuisine: Guillaume Galliot
Ort: Hongkong
Datum dieses Besuchs: 05.01.2018
Guide Michelin (Hong Kong/Macau 2018): **
Meine Bewertung dieses Essens (?): 8,9 (Was beudeutet das?)
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Noma ‒ die Zukunft ist ausverkauft

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Eines der einflussreichsten Restaurants unserer Zeit schloss im Jahr 2016 seine Türen, um vor ein paar Wochen an einem neuen Ort, aber unter selbem Namen, wiederzueröffnen. Der Wallfahrtsort bleibt Kopenhagen, aber das neue Noma befindet sich jetzt am Rand des autonomen Stadtteils Christiania. Das ist schon aus soziologischer Perspektive interessant, denn autonome Linke dürften normalerweise einem Restaurant, in dem ein Menü dreihundert Euro kostet, skeptisch bis gewaltbereit gegenüberstehen. Man muss sich nur einmal vorstellen, eine solche Gentrifizierung fände im Hamburger Schanzenviertel statt.

Doch hier scheint es anders zu sein. Vermutlich ist man sogar stolz auf Landsmann René Redzepi, der ja auch alles andere als Teil einer regelkonformen Elite ist. Dennoch ist er kein Revoluzzer, sondern wahrhaftiger Revolutionär. Ohne Redzepi gäbe es heute vermutlich keine Restaurants, in denen tätowierte Köche mit gepflegten Vollbärten Gerichte direkt vom Herd an den Tisch bringen. Es gäbe auch kein Fine Dining ohne weiße Tischdecken und keine „brutal regionale“ Besinnung auf behütet erzogene Gemüsesorten.

René Redzepis kulinarische Innovationen sind so wegweisend wie die eines Auguste Escoffier oder Ferran Adrià. Um zu erörtern, ob eine Küche eine derartige Relevanz hat, reicht es aus, festzustellen, dass es eine kulinarische Ära vor und nach dieser Küche gab und dass andere Köche den Stil adaptieren. Zusätzlich zu dieser Pionierarbeit hat das Noma auch gastronomisch neue Maßstäbe gesetzt. Lässiger als an den schlichten Holztischen des ehemaligen Restaurants hatte man Spitzenküche noch nie erleben können. Das skandinavische Understatement war ein nicht unerheblicher Baustein von Redzepis Erfolg, denn die meisten Gäste priorisieren bei einem Restaurantbesuch nach wie vor das so genannte Gesamterlebnis. Wer einmal im früheren Noma gewesen ist (→ Berichte), hat sich spätestens am nächsten Tisch mit gestärkten Tischdecken und förmlich gekleideten Kellnern gefragt, ob das ganze Theater noch zeitgemäß ist. Die Antwort auf diese Frage findet man seit Jahren in den Speisesälen der ganzen Welt.

Nach über einem Jahr Bauzeit ist am neuen Ort, der nach wie vor unmittelbare Wassernähe hat, eine urbare Farm entstanden, deren Mittelpunkt das neue Restaurant ist.

Über einen gemütlich beleuchteten Weg, vorbei an Gewächshäusern und an eine Mischung aus „Apple Stores“ und Labore erinnernde Räume, in die man im Vorbeigehen flüchtige Einblicke erhascht, gelangt man ins Restaurant. Freundlich und gut gelaunt ist man hier, keine Spur von Förmlichkeit.

Umso wuseliger geht es hier zu. Auffällig viel Personal befindet sich im Restaurant, es gibt vermutlich mehr Servicekräfte als Gäste. Sie schwirren umher, servieren, erläutern, lächeln, schenken ein. Das macht zwar alles einen koordinierten Eindruck, aber zur Ruhe kommt man hier nicht so recht. Kein Vergleich zur lässigen Entschleunigung von damals.

Das kulinarische Konzept ist im neuen Noma etwas definierter als vorher. Dass es um Regionalität geht, muss nicht erwähnt werden, doch die Menüs stehen jetzt unter einem bestimmten Motto. Das Eröffnungsmenü namens „Seafood“ spricht für sich.

Es beginnt mit einer Meeresschneckenbrühe, die in der entsprechenden Schale des ausgekochten Tiers serviert wird. Die Brühe duftet heiß und aromatisch, appetitanregende Fettaugen leuchten einen an. Den Rand der Schnecke zieren einige säuerlich eingelegte Pflanzen. Dieser Auftakt ist heiß und wohltuend und schmeckt hervorragend. — 8

Verschiedene Muscheln sind Thema der nächsten beiden Gänge. Der erste präsentiert eine Venusmuschelart sowohl ganz pur als auch in Form einer buttrigen Creme mit Karamellnoten (7); der zweite beinhaltet Miesmuscheln, die mit einer Muschelcreme bedeckt sind, welche einen intensiven, angenehm marinen Geschmack in den Vordergrund stellt (7,5).

Beim nächsten Gericht findet man in einem Schälchen unter einem karamellisierten Cracker aus ausgekochten Garnelen, der leicht süß, würzig und „meerig“ zugleich schmeckt, klaren Muschelsud mit Tiefseegarnelen sowie verschiedene fermentierte Früchte, unter anderem Johannisbeeren. Das aromatische komplexe, ungewohnte Arrangement empfinde ich auf Anhieb als grandioses Zusammenspiel von Frucht und Meer. Die unkonventionelle Kombination ist dabei weder provokant noch aneckend, sondern ungemein wohlschmeckend und harmonisch. Aus den Köpfen von auf einem separaten Teller servierten Garnelen lutscht man dazu einen warmen, würzigen, buttrigen Fond aus ‒ purer Genuss. Das ist mit Abstand das beste Gericht, das ich von Redzepi bisher probiert habe. — 10

Danach bietet geräucherter Forellenrogen auf einer Emulsion von Eigelb und Kürbiskernöl, angerichtet in Form eines Seesterns, kurzweiligen Gaumenspaß. Die Reichhaltigkeit der Creme passt sehr gut zum leicht salzigen Geschmack der Fischeier. Sehr gut. — 7

Ein in der Speisekarte als Qualle tituliertes und auch so angekündigtes Gericht gibt mir keine Veranlassung zu denken, dass es sich nicht etwa um das transluzente Meerestier handelt. Die vier hufeisenförmigen Ringe sehen zudem täuschend echt nach den Innereien des Tiers aus. Tatsächlich handelt es sich, wie ich erst später herausfinde, offenbar um angedickten Tintenfischsud. Die Masse hat eine organische Textur (eher fest als geleeartig) und schmeckt leicht salzig. Die Algen hierzu sind deutlich salziger und leicht säuerlich. Flüchtig, an Meer erinnernd, überraschend gut. — 7

Der folgende Abschnitt des Menüs präsentiert erneut verschiedene Muschelarten.

Jakobsmuscheln mit ihrem Corail und einer rauchigen Creme sind perfekt temperiert ‒ leicht kühl ‒ und demonstrieren exzellente Qualität (7,5). In Scheiben geschnittene Islandmuschel befindet sich in einem leichten, säurebetonten Sud und ist mit eingelegten Kräutern kombiniert, was in Summe eindrucksvoll herzhaft und pfeffrig schmeckt (8).

Die Produktpräsentation fährt fort mit einer sehr großen, in Stücke portionierten Auster mit Petersilie und Stachelbeere ‒ ziemlich sauer, aber qualitativ überzeugend. — 7

Danach gibt es Seeigel von den Färöern mit Kürbiskernen, Sahne und Rosenöl, ein fantastisches Gericht mit viel Umami und einem geradezu poetischen Einsatz von Rose. — 9

Die nächste Kreation beinhaltet Seegurke in Form von getrockneten Innereien und frittierter Haut, serviert in mit weiteren Bestandteilen des Meerestiers aufgeschlagener Sahne. Die getrockneten Innereien präsentieren sich wie reichhaltige, salzige Cracker ‒ keinesfalls besonders „fischig“ oder streng schmeckend ‒, und die frittierte Haut ist knusprig, leicht fettig und erinnert mich an die frittierten Hasenohren, die es damals im elBulli gab. Die dazu servierte Creme ist mit einer angenehmen kühlen Temperatur und leichtem Salzgehalt ein weiterer Baustein in diesem außergewöhnlichen und überraschend hervorragenden Gericht. — 8,5

Aufgeschnittener Tintenfisch begeistert dann wieder auf etwas konventionellere Art mit Algenbutter, Röstnoten und einer sensationellen Al-dente-Textur, die man eher von Pasta als von Meerestieren kennt. Einfache Produktperfektion. — 8

Der nächste Streich ist ein in Bienenwachs serviertes Arrangement mit Meeresschnecken und einem pikant-würzigen Salat mit Rosenblättern und Wasabiblüten. Die Schnecken sind zart und saftig, aromatisch erinnert das Gericht an getrocknete Tomaten und Koriander. Dazu gibt es viel Umami, Salz und Hochgenuss. Ich kratze den Wachstopf komplett aus. — 9

Das inzwischen vor allem durch ausgesprochen stimmige Geschmacksbilder und hervorragende Zutaten beeindruckende Menü fährt fort mit Simplizität auf höchstem Niveau. Gegrillte Stücke von saftigem Kabeljaukopf sind an sich schon ein Genuss, wenn man sie mit den Fingern von den dünnen Knochen knabbert. Noch besser wird das Ganze, wenn man sie mit den dazu servierten Condiments genießt: ein Pulver aus Inger und Safran; Rettichmilch; sowie eine Paste mit zerdrückten Ameisen. Die Insekten, die René Redzepi schon vor Jahren als valide Zutat in die Spitzengastronomie eingeführt hat, schmecken überraschend delikat nach einem fruchtigen, zitrusfrischen Aroma zwischen Yuzu und Zitronengras. Großartig! — 9

Wie bei dem zuvor in Bienenwachs servierten Gericht gibt es erneut Meeresschnecken und Wasabiblüten ‒ nun in Form einer kleinen Tarte mit Seetang. Leicht bitter und erfrischend. — 7

Den Beginn der Desserts macht eine Speise, die zunächst mit genialem Einfallsreichtum überzeugt. Eine Birne wurde hierzu über einen Zeitraum von zwei Monaten bei 60 Grad getrocknet. Bei diesem Prozess wandelt sich die Schale in eine schwarze, intensiv nach Süßholz und Umami schmeckende Membran um, die hier in die Form einer komplett essbaren Miesmuschelschale gebracht wurde. Gefüllt ist sie mit Eis von geröstetem Seetang und einer fruchtigen Komponente. Außergewöhnlich gut. — 8

Moltebeere, eine rare Zutat, die verschiedene skandinavische Länder behüten wie einen Bodenschatz, ist die Hauptzutat des nächsten Desserts und wird hier als Eis und als Sud serviert. Bei den tatsächlich wie eine Beere aussehenden Komponenten handelt es sich um fermentierte Kiefernzapfen, die komplett essbar sind und eine kaubonbonähnliche Textur und einen ätherischen Geschmack haben. Das ist ein klassisches Noma-Dessert: sehr sauer und herb und eher handwerklich interessant als ein wirklicher Genuss. — 6,5

Ein Törtchen mit karamellisiertem Seetang bringt dann eine willkommene Süße ins Spiel und schmeckt ganz leicht und flüchtig, fast wie die Qualle von zuvor. — 7

Planktonkuchen“ ist ein weiteres ungewöhnliches Dessert, das an den Geschmack und die Textur von Zahnpasta erinnert und in meinem Empfinden zwischen Befremdung und Gefallen hin und her schwankt (6,5).

Damit endet das Menü im neuen Noma. Es präsentiert außergewöhnliche Zutaten in oft unkonventionellen Arrangements. Neu ‒ und begrüßenswert ‒ im Vergleich zu den mir bekannten Menüs im vorherigen Restaurant ist, dass geschmacksfördernde Parameter wie Röstaromen, Hitze, Fett, Umami und Salz zumindest in diesem Menü nicht zu kurz kommen und den aus dem Noma sonst bekannten Purismus um eine genussfördernde Dimension erweitern. Die folgenden Menüs ‒ das nächste ist dem Thema Gemüse gewidmet ‒ mögen natürlich völlig anders ausfallen.

Vom gastronomischen Erlebnis her war der Abend sehr unruhig, mit ständig umherschwirrenden Personal und viel zu schnell aufeinanderfolgend servierten Gerichten. Auch der Wein-Service war anstrengend und der Sommelier nur mit großer Mühe von seinem dogmatischen Kurs mit säuerlichem „Naturwein“ abzubringen. Dazu gehörte die skurrile Situation, in der ich eigentlich einen klassischen Burgunder aus der Weinkarte bestellen wollte, mir aber dennoch lieber ein komplizierter Liebhaberwein mit säuerlich-oxidiertem Geschmacksprofil aus dem Jura empfohlen wurde. Am Ende konnte das Thema aber noch zu meiner Zufriedenheit geklärt werden, wenngleich mir das Thema Wein heute Abend nicht so wichtig war.

Die Frage, ob das Noma empfehlenswert ist, stellt sich jedoch nicht. Niemand unternimmt die mit einem für einen Tisch im Noma erforderlichen Ticketkauf verbundenen Anstrengungen nebenher oder unüberlegt. Wer sich hier einen Platz erkämpft hat, erhält als Belohnung ein qualitativ eindrucksvolles und auch intellektuell ansprechendes Menü mit vielen Höhen und wenigen Tiefen, das sich ein bisschen so anfühlt als äße man in der Zukunft. Nur in der Zukunft hier zu essen dürfte schwierig werden. Die Plätze für die nächste Saison sind schon alle ausverkauft.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Noma (→ Website)
Chef de Cuisine: René Redzepi
Ort: Kopenhagen, Dänemark
Datum dieses Besuchs: 23.02.2018
Guide Michelin (Nordic Countries 2018): noch nicht bewertet
Meine Bewertung dieses Essens (?): 7,9 (Was beudeutet das?)
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T’ang Court (Hongkong) ‒ kantonesische Kuriositäten

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Die Tatsache, dass man im Guide Michelin für Hongkong auf deutlich mehr Ungereimtheiten trifft als bei allen anderen der roten Restaurantführer, ist unter Kennern so etwas wie der größte gemeinsame Nenner. Nicht nur bei mir kamen daher Zweifel auf, ob die Aufwertung der kulinarischen Leistung des Restaurants T’ang Court von einem Stern im Jahr 2009 auf inzwischen drei Michelin-Sterne sich tatsächlich auch auf dem Teller des Gasts wiederfindet.

Abgesehen von meiner einschlägigen Erfahrung hinsichtlich der oft überzogenen Bewertungen in Hongkong und auch hinsichtlich der schwachen Leistung des Schwesterrestaurants in Shanghai, das ich letztes Jahr besuchte (→ Bericht), begründen weitere Punkte meine Skepsis. Zum einen handelt es sich um ein Restaurant, das seit 1988 klassische kantonesische Küche serviert. Die kantonesische Küche ist schon für sich genommen ‒ im Vergleich bspw. zur französischen Küche ‒ zwar nicht unqualifiziert, aber doch deutlicher weniger prädestiniert für die allerhöchsten kulinarischen Weihen. Daher ist es merkwürdig, dass ein Restaurant, dessen umfangreiche Speisekarte sich vermutlich im Laufe der Jahrzehnte nur wenig verändert hat, derart große Sprünge macht und von einem „sehr guten“ Restaurant (ein Michelin-Stern) auf einmal in die Liga derjenigen Restaurants aufrückt, für die es sich allein zu reisen lohnt (drei Sterne).

Doch meine Bereitschaft, mich eines Besseres belehren zu lassen, beweise ich schon mit meiner Anwesenheit am heutigen Abend.

Das Restaurant befindet sich im Hotel The Langham und atmet angestaubt-luxuriösen, goldroten chinesischen Charme auf zwei Ebenen.

Mir ist bewusst, dass die kantonesische Küche im Allgemeinen nicht für einen alleinigen Esser konzipiert ist. Die Küche blüht erst dann richtig auf, wenn der ganze Tisch voller dampfender Gerichte steht.

Daher versuche ich, der freundlichen Dame aus dem Service initiativ mitzuteilen, dass ich mir über diese Tatsache bewusst sei und dennoch gerne eine Auswahl an repräsentativen Gerichten probieren möchte, selbst wenn ich sie nicht alle schaffen sollte. Trotz ihres einigermaßen guten Englischs hält sich ihr Verständnis für meine Idee in Grenzen und empfiehlt mir stattdessen mehrfach das T’ang Court Tasting Menu, das für eine Person besonders geeignet sei.

Ich verstehe gut, wo ihre Skepsis herrührt. An einem Nachbartisch gucken zwei Damen russischer Herkunft ‒ völlig overdressed ‒ empört auf ihren Taschenkrebs. Der kommt nämlich ganz pur und mit viel manuellem Bearbeitungsaufwand auf den Teller. Nach lautstarken Diskussionen eilt irgendwann ein Kellner herbei, um beim Aufbrechen der Schalen behilflich zu sein. Immer diese Touristen.

Das sechsgängige Menü klingt mit Zutaten wie Hummer, Abalone, Auster, frischen Gemüsen und Früchten durchaus attraktiv und ist mit HKD 1.080 (ca. € 111) moderat bepreist. Wenn man um einige andere Begriffe herum liest, könnte das glatt aus einem französischen Restaurant stammen.

Diese Parallele endet abrupt bei den ersten Häppchen. Würfel aus Pfirsichgelee schmecken buchstäblich nach nichts (5); eine frittierte Garnele lässt unter ihrer knusprigen, dünnen Panierung immerhin eine annehmbare Qualität erahnen (6). Aber der Gedanke, dass ein Restaurant, bei dem solche Speisen die Küche verlassen, mit drei Sternen ausgezeichnet sein kann, ist schon jetzt absurd.

Weitere kleine Vorspeisen markieren den offiziellen ersten Gang des Menüs. Es gibt ein Stück Kabeljau in einem klebrigen Teigmantel mit herzhafter dunkler Sauce, was den zarten und saftigen Fisch etwas untergräbt (6). Weiter werden zwei hemmungslos trockene Stücke Schweinefleisch mit Barbecue-Sauce als „bester Teil“ vom Schwein angepriesen (5). Etwas Abalone ist von guter Qualität, aber recht langweilig präsentiert (6); kleingeschnittene Qualle kommt in kleinen, kaubedürftigen Streifen mit keinerlei Geschmack und etwas Chili (5).

Bei der nächsten Speise handelt es sich um eine kochend heiße Hühnersuppe mit darin aufgelöstem Vogelnest. Für mich ist diese Zutat Premiere. Ich war nie Freund des Gedankens, Schwalben ihr aufwändig gebautes Nest zu entwenden, das zudem auch noch hauptsächlich aus ihrem Speichel besteht. Doch wie sagt man so schön: andere Länder, andere Sitten ‒ und andere Delikatessen. Das Problem, das ich mit vielen fernöstlichen Delikatessen habe, ist, dass diese, im Gegensatz zu Delikatessen der westlichen Küchen, häufig nicht aus kulinarischer Sicht als Delikatesse gelten, sondern aufgrund wissenschaftlich unhaltbarer gesundheitsfördernder Ideen wie längeres Leben, bessere Haut oder verbesserte Potenz. Wenn Chinesen so sehr nach diesen Dingen streben, hätte ein landesweites Rauchverbot zweifellos einen besseren Effekt.

Die Suppe schmeckt gut, nach einer lange gekochten Hühnersuppe. Der erste Löffel, den ich davon koste, bestätigt das. Die Textur ist sehr viskos, ein Effekt der darin aufgelösten Vogelnester, den man genauso gut auch mit einem anderen Bindemittel hätte erreichen können. Die hohe Temperatur der Suppe, die nur wenige Grad unter ihrem Siedepunkt liegt, macht den Gedanken, irgendetwas mit Vogelspeichel zu essen, erträglicher. Selbst nach mehreren Minuten scheint die Temperatur erst auf 98 Grad abgesunken zu sein, was den Verzehr recht schwierig gestaltet. Innerhalb von zehn Minuten schaffe ich einige Löffel davon, kann aber unmöglich den ganzen Liter leeren, den die Schale sicher fasst. Blickt man weiter auf die gustatorischen Fakten dieses traditionellen Gerichts, schmeckt die Suppe ziemlich fad. Ein Streuer mit beißend scharfem weißen Pfeffer, der dazu gereicht wird, ist keine sonderliche Bereicherung. Man kann aus dem Gericht Hühnersuppe weit mehr machen als das. — 6

Es geht weiter mit einem puristischen Arrangement von sehr gut gegartem, ausgelöstem Hummer und Stücken von einer Fechterschnecke, letztere mit muschelartig fester Textur und wenig Eigengeschmack. Der Star dieses Gerichts sind die schlichten Gemüse, die ganz präzise auf den Punkt zubereitet sind. Ergänzt um ein bisschen von den Saucen, die am Tisch bereitstehen, ist das puristisch und gut, aber nach wie vor so weit weg von drei Michelin-Sternen wie Deutschland von China. — 6,9

Der nächste Gang präsentiert eine in einem Portweinmantel gebackene Auster von stattlicher Größe. Von dem Tier selbst kann man wegen der erneut hohen Hitze und dem sehr geschmacksintensiven Mantel nicht viel ausmachen, aber das ist durchaus gekonnt zubereitet und schmeckt ansprechend würzig, mit einem Hauch Meeresfrische darunter. Die große Portion ist aber auch etwas eintönig. — 6,5

Weiter geht es mit einer aufwändigen Suppe, die verschiedene Pilze, Gemüse, Hummer und Inaniwa-Udon-Nudeln in einem würzigen Krustentierjus vereint. Erneut ist große Hitze im Spiel, ich lass das Gericht erst einmal etwas ziehen, trinke etwas von einem neuseeländischen Sauvignon Blanc aus der mäßigen offenen Auswahl und bewaffne mich schon mal mit meiner Serviette, in dem ich sie in meinen Hemdkragen stecke. Nudeln in einer Suppe mit Krustentierfond: ein Garant für ruinierte Hemden.

Die Suppe schmeckt wie ein guter Hummerfond, den man mit frischen Gemüsen angereichert hat. Die Nudeln bringen eine kurzweilige Textur hinzu. Das aufwändige Handwerk, das den speziellen Nudeln zugrunde liegt, ist deutlich präsent und eindrucksvoll. Die Gemüse darin haben keinerlei spürbare Würzung oder Röstung erfahren und schmecken daher alle sehr puristisch, manchmal recht fad, was aber durch den Fond wieder ausgeglichen wird. Wegen der Hitze und der großen Flüssigkeitsmenge schaffe ich auch dieses Gericht nicht ganz, welches zweifellos das beste des bisherigen Abends war. — 7,5

Da ich die zwei Liter heiße Flüssigkeit, die bisher im Menü vorgesehen waren, nicht vollständig zu mir genommen habe, könnte ich vor den jetzt eigentlich vorgesehen Früchten noch gut etwas Herzhaftes vertragen. Ich versuche also, dem Service zu vermitteln, dass ich gerne noch ein repräsentatives Gericht mit Fleisch probieren würde, z. B. etwas mit Rind oder Schwein in außergewöhnlich guter Zubereitung.

Vermutlich hätte ich lieber ein Gericht aus der Karte auswählen sollen, denn mein Wunsch nach einem repräsentativen, außergewöhnlich guten Gericht mit Fleisch wird mit einem einfach gebratenen Stück Rindfleisch beantwortet. Das Fleisch ist saftig und von guter Qualität, die gnadenlos verbrannten Knoblauchringe dazu sind gummiartig und nicht essbar. Eine seltsame Art, mir zeigen zu wollen, was die Küche hier kann. — 6

Das Dessert besteht aus mehreren Früchten, die das grundsätzliche Problem mit vielen Zutaten hier eindrucksvoll objektivieren: Kiwi, Melone oder Erdbeere sind allesamt in unterirdischer Qualität. Man sieht das schon mit bloßem Auge. Die Melonenstückchen sind ein steinharter, geschmacksneutraler Witz. Zwei weitere Süßigkeiten dazu sind zumindest ganz annehmbar. — 5

Was ich hier erleben konnte, war eine äußerst dürftige Speisenfolge mit allenfalls mäßigen Zutaten und oft belanglosem Geschmack. Von den kantonesischen Restaurants, die ich bisher besucht habe, war das T’ang Court eindeutig das schwächste. Selbst innerhalb dieses Menüs ‒ und unabhängig von persönlichen Präferenzen ‒ sind zweifellos Steigerungen an allen Ecken und Enden möglich.

Das größte Rätsel bleibt, wie man ein solches Restaurant mit drei Sternen auszeichnen kann. Ich bin mir sicher, dass man hier mit Teilen der Speisekarte recht kaiserlich speisen kann. Aber wenn auch so etwas wie dieses Menü möglich ist, sollte man die Sterne lieber erst Mal in der Tasche behalten. Da hat wohl jemand vom Guide Michelin ein paar Vogelnester zu viel geraucht.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: T’ang Court (→ Website)
Chef de Cuisine: Kwong Wai Keung
Ort: Hongkong
Datum dieses Besuchs: 05.01.2018
Guide Michelin (Hongkong/Macau 2018): ***
Meine Bewertung dieses Essens (?): 6 (Was beudeutet das?)
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Lung King Heen ‒ kantonesische Delikatessen

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Erst kürzlich berichtete ich über ein weniger wiederholungsbedürftiges Mahl im Restaurant T’ang Court in Hongkong und die in Bezug auf Restaurants mit chinesischer Küche oft kaum nachvollziehbaren Bewertungen des Guide Michelin.

Dass es hierbei viel um kulturelle Unterschiede geht, ist nicht der Punkt. Ein Kaiseki-Menü in Japan ist ebenfalls exotisch und gewöhnungsbedürftig, aber dort brillieren fast ausnahmslos die Qualität der Produkte und die Präzision der Zubereitung, selbst bei Speisen mit ungewöhnlichen Zutaten. Das macht hohe Bewertungen nachvollziehbar.

Die hochdekorierten chinesischen Restaurants dagegen sind mit Vorsicht zu genießen. Wer sich ins Flugzeug setzt, um im T’ang Court zu essen ‒ ob in Shanghai oder Hongkong ‒, müsste dem Restaurantführer eigentlich die Reisekosten in Rechnung stellen, so überzogen erscheint dort eine Bewertung mit drei Sternen.

Doch es gibt auch hier Ausnahmen. So glänzt bspw. das The Eight in Macau mit fantastischen Dim Sum, und auch das Lung King Heen im gastronomisch gut aufgestellten Hotel Four Seasons in Hongkong konnte mich bei meinem ersten Besuch vor drei Jahren mit qualitativ exzellenten und präzise zubereiteten Speisen begeistern.

Eine Wiederholung war daher fällig, zumal ich während meines Aufenthalts in Hongkong ohnehin Hotelgast hier bin. Ich bin mit Freunden zusammen am Tisch, was die Problematik, eine repräsentative Auswahl an Speisen von der Karte eines chinesischen Restaurants auszuwählen, etwas mildert. Hinzu kommt, dass uns der Küchenchef Chan Yan-tak persönlich begrüßt und wir mit ihm die Auswahl der Speisen zwar grob besprechen, ihm aber weitestgehend freie Hand lassen.

Das Essen beginnt dann mit drei äußert akkurat zubereiteten Dim Sum. Die erste Kleinigkeit, mit Hummer, Garnele und Jakobsmuschel, bringt den Geschmack der drei Meerestiere trotz der hohen Temperatur und farceartigen Verarbeitung gekonnt zur Geltung. Der Teig ist hauchdünn, die Würzung perfekt. Hier glänzen Zutaten, Handwerk und Geschmack. — 7,5

Xiaolongbao, die mit Schweinefleisch und Brühe gefüllte Spezialität aus Shanghai, die akkurates Handwerk erfordert, begeistert mit süßlich-herzhaft gewürztem, sehr zartem Schweinefleisch und einer mit Essig und Ingwer aromatisierten Brühe, die zum Augenschließen gut ist. Auch diese Petitesse ist heiß, saftig und geschmacklich sogar noch etwas besser als der Einstieg. — 8

In Form eines kleinen Fischs präsentiert sich die nächste gedämpfte Teigtasche mit Lachs und Ingwer. Auch hieran ist alles hervorragend: die weiche, heiße, aber nicht klebrige Teighülle, die saftige und aromatische Füllung mit sehr gutem Lachs ‒ und vor allem auch der Ingwer, der nicht nur etwas Schärfe, sondern auch Abwechslung hinsichtlich der Textur mitbringt. Herausragend! — 8,5

Das könnte jetzt eigentlich immer so weitergehen. Für den Verzehr von Dim Sum ist das Lung King Heen ohnehin besonders begehrt. Vor allem Sonntagmittags ist es hier meist über Monate im Voraus ausgebucht. Kein Wunder bei dem Preis-Leistungs-Verhältnis. Die kleinen, exzellenten Speisen kosten umgerechnet alle ca. 3‒7 Euro.

Zwei Speisen in diesem Sinn folgen noch: eine Frühlingsrolle mit hauchzartem, knusprigem Teig und einer Füllung mit Garnelen und frischen Kräutern (7), sowie Cha siu bao, ein warmes Brötchen mit süßlichem Teig und einer herzhaften, sehr wohlschmeckenden Füllung mit Schweinefleisch, in die merklich viel Arbeit hineingeflossen ist (8).

Es geht weiter mit Hühnersuppe und Pilzen (ca. € 35). Zwei ganze Hühner werden pro Portion Suppe ausgekocht. Die dunkle, dichte Farbe, die viskose Textur und das leicht klebrige Gefühl an den Lippen machen diesen Aufwand spürbar. Das Gericht schmeckt nach einer intensiven, hochkonzentrierten Hühnerbrühe, man kann sogar die im Fond ausgekochte angebratene Hühnerhaut mit ihren Röstaromen herausschmecken. Die Pilze in der Suppe schmecken ebenfalls hervorragend, bringen Aromen von Wald und Erde sowie spannende Textur ins Spiel. Die hellen Teile von Frühlingszwiebeln bereichern alles um etwas Frische. In einem leicht hypnotischen Zustand, in den mich der heiße, wohltuende Duft versetzt, vergesse ich alles um mich herum und leere diese Schüssel bis zum letzten Milligramm Inhalt. Das ist zweifellos das beste Gericht, das ich aus einer chinesischen Küche je probiert habe. — 10

Nach einer wohltuenden Abkühlungspause, zu der perfekt der von uns gewählte Château Simone blanc (ca. € 155) aus der Provence passt, geht es weiter mit drei Probierportionen Fleisch.

Es gibt gegrilltes Schweinefleisch, sehr saftig und zart, einmal mit würzig lackierter Haut, ein weiteres Mal als Bauchstück vom Ferkel mit hauchdünner, knusprig gebratener Haut und zarter Fettschicht; und schließlich noch Gans, die auf ähnliche Weise ‒ das heißt geröstet und mit knuspriger Haut ‒ zubereitet wurde. Die Trilogie ist handwerklich, qualitativ und geschmacklich exzellent. — 7,5

Dass die besten Dinge oft die schlichtesten sind, sagt sich immer einfach, doch gerade in der Küche ist gelungene Simplizität die Königsdisziplin. Ein Gemüsegericht von Alain Passard, ein Steinbutt im Elkano, Sushi bei den japanischen Meistern ‒ all das mag für viele einfach aussehen, doch die Wahrheit des Genusses, zumindest meine, ist eher in der Einfachheit zu finden als in komplexen Tellerarrangements.

In genau diese Liga fällt das nächste Gericht, Erbsensprossen mit Knoblauch ‒ ein Klassiker der kantonesischen Küche. Wenn man das Gemüse probiert, wird einem unmittelbar klar, was es bedeutet, etwas auf den Punkt zu garen. Die Blätter sind knackig, aber nicht zu bissfest, zart, aber niemals zu weich. Dieser Zustand bleibt auch so bis zum letzten Bissen. Der süßlich-frische Geschmack des Krauts wird um eine unaufdringlich abgestimmte Knoblauchnote erweitert, die man kaum als solche wahrnimmt. Das Gewürz wirkt hier lediglich als eine Art Verstärker für ein Geschmacksbild, das an Erbse, Minze und Mangold zugleich erinnert. Es ist eine frappierend großartige Produktpräsentation, an die ich mich lange erinnern werde. Die Grenze, mit der ich üblicherweise kaum verarbeitete Produkte bewerte, muss ich in diesem Fall nach oben korrigieren. Eine Schüssel Gemüse für elf Euro kann eine Reise wert sein! — 9

Gedämpfte Reisnudeltaschen (chéungfán), gefüllt mit Hummer, Wasserkastanie, Ingwer und frischen Kräutern, sind mir von meinem letzten Besuch bereits bekannt und erneut hervorragend. Exzellente Zutaten in der Füllung, perfektes Handwerk und eine sehr ansprechende Sauce auf Basis von fermentierten Bohnen und hochwertiger Sojasauce machen den heißen, herzhaften Snack zu einem weiteren Gaumenschmaus. — 8

Ein in Birnenform präsentiertes Dessert mit tatsächlicher Birne (in der gelierten Ummantelung und in der Sauce) ist mit einer mit Jasmin aromatisierten Creme gefüllt, was geschmacklich sehr ansprechend, aber auch etwas wuchtig ist (7). Zwei lauwarme Gebäckstücke, mit Eierpudding (7) bzw. Lotos (7,5), runden ein hervorragendes Essen ab.

Das Lung King Heen ist eines der wenigen Restaurants mit kantonesischer Küche, das mich nun schon zum zweiten Mal begeistert hat. Handwerk und Zutaten sind hier auf höchstem Niveau, genau passend zum Ausblick auf den Hafen von Hongkong.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Lung King Heen (→ Website)
Chef de Cuisine: Chan Yan-tak
Ort: Hongkong
Datum dieses Besuchs: 06.01.2018
Guide Michelin (Hongkong/Macau 2018): ***
Meine Bewertung dieses Essens (?): 8,5 (Was bedeutet das?)
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Le Coucou ‒ gebt mir Butter!

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In der Lafayette Street in SoHo, Manhattan, Ecke Howard, in einem dieser schönen Gebäude mit einer Fassade aus hellem Ziegelstein und geschmackvoll kontrastierten, hohen schwarzen Fensterrahmen, befindet sich das Restaurant Le Coucou.

Es ist das erste Restaurant in den USA von Küchenchef und Mitinhaber Daniel Rose, der gebürtig aus Chicago stammt, sein gastronomisches Glück aber bisher in Paris gesucht hat (Spring, La Bourse et La Vie, Chez La Vieille).

Le Coucou ist vom ersten Moment an spektakulär. Hat man es durch diese typische New Yorker Eingangsschleuse mit straff eingestelltem Scharnier und schwerem Vorhang geschafft, steht man im Entrée eines großen, loftartigen Restaurants mit hohen Decken, noch mehr Ziegelsteinoptik und einem Bistro-Flair, das New York aus allen Poren atmet. Ich bekomme Gänsehaut, so großartig ist das. Allein für diese Art von Gastronomie lohnt sich für mich ein Flug über den Atlantik.

Etwas Wartezeit kann man im kleinen, heimeligen Barbereich überbrücken, um das kurzweilige Treiben zu beobachten und schon mal in der sehr umfangreichen Weinkarte zu blättern.

Am Tisch angekommen, darf man weiter staunen. Lange, spitz zulaufende Kerzen aus vergessenen Zeiten, genießende Gäste, die mit Brot die letzten Reste Sauce von ihren Tellern aufnehmen als gäbe es morgen nichts mehr zu Essen, und in der Küche, die offen an den Speisesaal anschließt, hantieren Köche mit langen Hauben und Kupfertöpfen am maßgeschneiderten Athanor-Herd. Ein Paradies, schon jetzt.

Die in Französisch mit englischen Untertiteln getextete Speisekarte ist eine Gemeinheit. Selten ist es mir schwerer gefallen, eine Auswahl zu treffen. Von den Hors d’œuvres und Gourmandises zu den Poissons et viandes wird man mit Zutaten und Zubereitungsarten konfrontiert, die sich wie eine Rezeptsammlung von Auguste Escoffier, Fernand Point und Paul Bocuse liest. Kalbsbäckchensülze mit Foie-Gras-Terrine; Hummersalat mit Sauce Lauris; Kalbsbries mit Estragon; Crépinette de volaille mit Foie Gras und Früchten; Hechtklößchen; Seezunge „Véronique“; Tout le lapin („der ganze Hase“); Rinderfilet mit Knochenmark und Ochsenschwanz, und, und, und.

Die erste Speise, die ich probiere, ist ein in Butter pochierter Rochenflügel, ultrazart und kühl serviert, mit einer grandiosen, reichhaltigen Paprika-Vinaigrette und Kapern (ca. € 15). Der Fisch ist saftig und aromatisch, die Süße der Paprika und das betörende Säurespiel der Kapern sorgen für viele kurzweilige Gabeln. Ein exzellenter Auftakt. — 7,5

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Eine weitere Vorspeise mit zartgekochtem Lauch und frischen Haselnüssen (€ 11) ist vor allem in Verbindung mit einer weiteren hervorragenden Vinaigrette mit viel frischer Petersilie ein erneuter Hochgenuss. Das ist so simpel und dabei so viel besser als unzählige verkopfte Teller in so genannten Gourmetrestaurants. — 7

Die weitere Folge dieses Mahls zelebriere ich mit mehreren Gerichten, die gleichzeitig an den Tisch gelangen und einer Flasche 2008er Château Duhart-Milon (€ 200). Man muss die Feste ja auch feiern, wie sie kommen.

Quenelle de brochet (€ 28) ist ein Genussvergnügen der traditionellen Art. Der makellos gearbeitete Hechtkloß, dessen Herstellung Geschick bedarf, ist leicht wie eine Wolke, gleichzeig aber voller Wohlgeschmack. Serviert wird er in einer luftig aufgemixten bretonischen Hummersauce (sauce américaine), bei der man alle guten Dinge herausschmecken kann, von den gerösteten Krustentierkarkassen über die Schalotten bis zur guten Butter. Eine ausgelöste Hummerschere von makelloser Qualität und Garung ist weiterer Bestandteil dieses Schlemmertellers, den in Lyon jeder kennt. Jetzt auch in Manhattan. — 7,5

Schlemmerteller Nummer zwei besteht aus einem großzügigen Stück knusprig geröstetem Kalbsbries (€ 23) von tadelloser Zubereitung. Mitspieler sind etwas karamellisierter Radicchio sowie eine Sauce, die man durchaus als Hauptbestandteil des Gerichts verstehen kann. Die reichhaltige Sauce auf der Basis von Kalbsjus, Tomaten, Estragon und viel Butter, steht separat in einem großen Kupfertopf auf dem Tisch und ist himmlisch, cremig, fettig, herzhaft, wohlschmeckend. Ich halte in einer Hand den Topf, in der anderen das Stück Brot und komme erst wieder zu Sinnen als der Topf blitzblank ist. — 8

Ebenfalls großartig ist die Crépinette de volaille (€ 23), eine aus Lyon stammende Wurstzubereitung in Frikadellenform. Diese hier wird aus Geflügel, Foie Gras und Petersilie gefertigt und köstlich goldbraun fertiggebraten. Zieht man ein Stück davon durch den hemmungslos fettigen Saucenspiegel, verschwindet die „Spur“ wieder so schnell, dass man bei jedem Bissen denkt, es sei nur ein Traum gewesen. Eine Scheibe süße, karamellisierte Ananas passt perfekt dazu, und ein paar frische Kräuter verleihen dem Gericht eine weitere Illusion von Leichtigkeit. — 8

Und wer wäre ich, verzichtete ich bei so einem Essen auf ein Dessert?

Crêpe soufflé (€ 12) kommt heiß aus dem Ofen und wird mit einer Kugel (grenzwertig saurem) Zitroneneis serviert. Aus der Pfanne kratze ich die karamellisierten Zuckerkrusten und spüle sie mit offenem 2009er Château Lafaurie-Peyraguey (Glas € 8) hinunter. — 7

Mit diesem sagenhaften Restaurant wurde New York ein Restaurant geschenkt, das in allen Details glücklich macht. Eine scheinbar längst überholte, klassische französische Küche erstrahlt hier unter den eindrucksvollen Design-Kronleuchtern ‒ und unter dem Einsatz von hervorragenden Zutaten und elaboriertem Handwerk ‒ in völlig neuem Glanz. Sie macht glücklich, satt und süchtig. Ich könnte nur deswegen nach New York fliegen. Coucou, Michelin, wo sind die Sterne?

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Le Coucou (→ Website)
Chef de Cuisine: Daniel Rose
Ort: New York City, NY, USA
Datum dieses Besuchs: 07.03.2018
Guide Michelin (NYC 2018): empfohlen
Meine Bewertung dieses Essens (?): 7,5 (Was bedeutet das?)
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Lakeside ‒ wer hat’s erfunden?

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Unternehmer Klaus-Michael Kühne hat seiner Heimatstadt ein neues Luxushotel gegönnt. Das The Fontenay ist das erste Hotel dieser Klasse seit Jahrzehnten, und es wird seine wenigen Mitbewerber in Hamburg kräftig herausfordern. Die gleichermaßen ruhige und zentrale Lage an der westlichen Außenalster ist einmalig, der Standard hochwertig und zeitgemäß, das Interieur geschmackvoll hanseatisch. Über weitere Details berichteten andere Medien bereits in aller Ausführlichkeit.

Kühne ließ schon in der frühen Planung des Baus die Botschaft in die Welt setzen, dass es eine Spitzengastronomie in dem Haus geben werde. Mit einigen deutschen Drei-Sterne-Köchen gab es offenbar weit gediehene Gespräche bezüglich eines Umzugs in die Hansestadt. Doch daraus wurde nichts. Hinter dem Herd des Lakeside genannten Restaurants steht jetzt der Schweizer Cornelius Speinle.

Speinle kann mit seinen jungen 31 Jahren bereits auf eine eindrucksvolle Vita verweisen, die neben Stationen in Drei-Sterne-Restaurants wie dem GästeHaus Erfort und The Fat Duck zuletzt das eigene Restaurant Dreizehn Sinne im Huuswurz aufführt, das mit einem Michelin-Stern ausgezeichnet war.

Nun ist er in Hamburg angekommen, und der Arbeitsplatz könnte deutlich unattraktiver sein. Im siebten Stock des Hotels hat man einen herrlichen Blick über die Alster ‒ zumindest, wenn es hell ist.

Das Restaurant zieht alle Register eines zeitgemäßen deutschen Gourmetrestaurants: eine Farbpalette in Mausgrau, Aschgrau, Steingrau, gebrochenem Weiß und Cremetönen, ein Geräusche verschluckender Teppich und schummrig gedimmtes, etwas kühles Licht.

Aperitifsnacks folgen recht zügig. Ein Kubus mit Joghurtkrokant, roter Bete und Kaviar ist mit seiner hauchdünnen „Knusprigkeit“ und einem appetitanregenden Balanceakt zwischen Süße und Säure exzellent (8); ein Wachtelei mit Selleriepüree, Trüffel (welcher genau, wird nicht erwähnt) und angenehm salziger Hühnerhaut reiht sich in die Pläsierchen zum Start in den Abend ein (7,5).

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Die Speisekarte schlägt eine Auswahl von fünf oder acht Gängen zu € 132 bzw. € 165 vor. Man kann das Menü durch die Auswahl von Miyazaki-Rind im Hauptgang noch um 40 Euro aufwerten. Auf das Upselling lasse ich mich der raren Zutat wegen ein und entscheide mich für insgesamt sechs Gänge.

Noch vor dem ersten Gang folgen weitere Amuse-Bouches. Eine Sphäre mit wachsweicher Hülle, dekoriert mit Parmesan und Basilikum, gibt am Gaumen eine kühle Tomatenconsommé frei, die ruhig noch intensiver schmecken könnte (6,9); eine Art Pomme Soufflée mit rohem Heilbutt und Erbsencreme ist akkurat gefertigt und erinnert, wie angekündigt, an Fish & Chips in eleganterer Form (7).

Ein Miniatur-Speckknödel mit Zwiebel und Käse ist trotz seines geringen Volumens recht deftig (6,9); und eine wie ein Brötchen zerteilte und mit Meerrettichcreme gefüllte Baiser-Sphäre mit Rotkohl gewinnt nicht nur den Preis für die vermutlich leichteste Speise, die ich je probiert habe ‒ der Snack scheint nicht mal ein Gramm zu wiegen ‒, sondern überrascht am Gaumen mit einem intensiven, authentischen Geschmack der angekündigten Zutaten (7).

Das ist zweifellos alles sehr gut umsetzt, allerdings erscheint mir dieser Prolog streckenweise wie ein Déjà-vu zu Beginn der Zeiten als Texturgeber, Quetschflaschen und Wasserbäder mit Kalziumchlorid die Küchen dieser Welt eroberten.

Die Weinkarte ist sehr ansprechend, vor allem, weil sie keinen Trends folgt. Sommelière Stefanie Hehn, die aus dem Drei-Sterne-Restaurant Überfahrt Christian Jürgens vom Tegernsee rekrutiert wurde, hat eine Karte mit internationalem Charakter geschaffen, die keine großen Namen scheut, Weine aus Frankreich und Kalifornien souverän in den Mittelpunkt rückt, fair kalkuliert und auch einige reifere Jahrgänge berücksichtigt. Auch spannend sind die thematischen „Flights“, eine Art Weinreise zu einem bestimmten Thema.

Nach offenem Champagner zu Beginn steige ich um auf einen 2005er Pinot Noir von Hamilton Russel aus Südafrika (€ 105) ‒ ein spannender Tropfen, der mich aromatisch interessanterweise an einen Bordeaux erinnert.

Ein weiteres Amuse-Bouche hält die Küche noch bereit. Auf einer Creme von Gänseleber findet man eine Art Gebäckschicht, darauf großzügig gehobelten schwarzen Trüffel, Enoki-Pilze und Kräuter. Das Geschmacksbild ist absolut stimmig, die süßlich-herzhafte, lauwarme Gänselebercreme passt hervorragend zu den erdigen Aromen der Pilze. Das ist ausgezeichnet, vor allem zusammen mit dem Stück knusprig gerösteter, warmer Brioche. — 8,5

Warmes Brot und gute Butter (Beurre Bordier) werden jetzt auch noch gereicht, und damit folgt der erste Gang des Menüs erst nach einer ganzen Stunde am Tisch und sieben, nicht immer ganz leichten, Speisen ‒ etwas zu lang.

Der erste offizielle Gang ist ein Gericht mit roher „White Tiger“-Garnele aus einer Zucht in Kiel. Rohe Garnelen zählen normalerweise wegen ihrer schleimigen Textur nicht zu meinen Lieblingszutaten, doch in diesem Gericht gelingt es, die gewöhnungsbedürftige Textur durch ansprechende Mitspieler auszubalancieren. Auf einer Schicht von dünnem, leicht geflämmten Lardo findet man Austernblätter, Kaviar und geeiste „Austernperlen“, eine Kombination, die Jod, Salz, Frische und Kühle ins Spiel bringt. Ein Puder („Staub“) von verkohltem Lauch und Garnelenköpfen fügt geschmackliche Tiefe hinzu. Obwohl das Produkt, das im Mittelpunkt steht, kein Weltklasseprodukt ist, ist die Komposition an sich hervorragend. — 8

Kaisergranat von den Färöern ist dann ein ganz exzellentes Produkt und kommt mit dem typischen nussig-süßen Geschmack auf den Teller. Eine für mich nicht ganz identifizierbare schaumige Creme schmeck dazu etwas ungewöhnlich, und ein grünes Arrangement mit Pak Choi, einigen geschmacklich ansprechenden Blüten und weiteren pflanzlichen Elementen ist gut kombiniert, aber mir fehlt bei dem Gericht ein „süffiger“ Zusammenhang, den das sehr gute Hauptprodukt verdient hätte. Separat dazu gibt es noch ein Schälchen mit zerhacktem Blumenkohl, Chorizo und einem grünen Jalapeno-Schaum ‒ die bisher wohlschmeckendste Speise des Abends! Sie begeistert genau durch den zusammenhängenden Wohlgeschmack, den ich beim Hauptteller vermisse. Dieses Schälchen hätte eigentlich nur um den Kaisergranat erweitert werden müssen, um als großartiges Gericht dazustehen. — 7,5

Es folgt ein Stück Steinbutt, ansprechend goldbraun gebraten und mit optisch genauso attraktiven Gemüsen wie Artischocke, Champignons und Zwiebeln serviert. Diese Zutaten haben das Potenzial für ein Gericht auf höchstem kulinarischen Niveau, doch die Probleme dieses Tellers kommen leider schnell zum Vorschein. Der Steinbutt ist übergart und nicht mehr saftig. Ein merkwürdiges Gel, welches das Stück Fisch bedeckt, ist dazu ähnlich entbehrlich wie die weiteren creme- und sauceartigen Experimente auf dem Teller. Auch eine Walnussvinaigrette mit Verjus zu den Gemüsen ist zu sparsam dosiert. Ähnlich wie beim Kaisergranat sind hier Zutaten voneinander getrennt, die eigentlich zusammengehören. Dieser Teller schreit geradezu nach einer klassischen Sauce (ohne Geliermittel).

Separat dazu gibt es noch die frittierten Bäckchen des Fischs, dessen Gräten hier als Griff fungieren, mit dem man sie in eine modern interpretierte Hollandaise mit erneut feingehobelten Trüffeln zu stippen. Das sind alles gute Ideen, aber bei der Umsetzung dieses Gerichts wurde das Potenzial leider nicht ausgeschöpft. — 6,9

Das nächste Gericht wurde außerhalb der Karte angeboten und beinhaltet eine Rotbarbe mit knusprigen Schuppen, fermentiertem schwarzem Knoblauch und Safran und ist in mehreren Dimensionen problembehaftet.

Rotbarbe ist in ihrer besten Qualität sehr aromatisch und verfügt über eine charakteristische, manchmal wachsweiche Textur. Dieses Filetstück ist dagegen etwas zäh. Die knusprigen Schuppen ‒ eine matsukasa yaki genannte Methode aus Japan ‒ sind hier ebenfalls etwas zu hart, sodass man beim Hinunterschlucken auf scharfe Kanten aufpassen muss. Hinzu kommt erneut eine Sauce, bei der weniger auf klassisches Handwerk, stattdessen umso mehr auf klebrige und magenfüllende Stabilisatoren gesetzt wird und damit einen elegant-schaumigen Genuss sowie präzise ausbalanciertes Safranaroma vermissen lässt. — 6,5

Die hier fehlenden positiven Eigenschaften zeichnet dieses Gericht nämlich normalerweise aus, wie man u. a. bei meinem Blogger-Kollegen Andy Hayler nachlesen kann (hier ein Foto des Gerichts, und hier noch eines aus einer anderen Quelle). Der war aber nicht im Hamburger Lakeside als er dieses Gericht genoss, sondern im Drei-Sterne-Restaurant Cheval Blanc in Basel im Jahr 2016. Ich erinnerte mich zufälligerweise noch an seine Bilder und das Gericht. Man könnte so eine Kopie natürlich als Hommage verstehen, doch das setzt voraus, dass der Urheber, in diesem Fall offenbar Peter Knogl, hätte erwähnt werden müssen, was nicht der Fall war. Natürlich haben Zutaten an sich keinen Urheber, aber bei einem in allen kompositorischen Details identisches kreatives Gericht wäre es nur schlüssig, von einem Plagiat zu sprechen. Schade, dass das Ergebnis dann nicht genauso exzellent ausfällt.

Mit Miyazaki-Rind geht es weiter. Es hat nicht den höchsten Fettgehalt, ist aber schon naturgemäß von sehr hoher Qualität. Den mit diesem Fleisch oft verbundenen Effekt, dass es am Gaumen schmilzt, erlebt man hier allerdings nicht. Zu dem Fleisch gibt es eine Ponzu-Sauce, chinesischen Brokkoli (Kai-lan), Auberginenpüree, Lauchöl und einige (recht trockene) Stücke Frühlingszwiebel. Eine gelartige Membran, rechts auf dem Teller, kann ich nicht genau identifizieren. Geschmacklich passt das aber alles gut zusammen. Das Fleisch steht hier eindeutig im Mittelpunkt des Genusserlebnisses. Dass man hierfür einen so hohen Aufpreis zahlen muss, ist jedoch betrüblich. — 7

Der Käsegang folgt in Form von sphärisiertem Reblochon vom Affineur Bernard Antony, dazu gibt es hauchdünne Apfelspalten und getrocknete Weintrauben. So seltsam die Idee klingt, die exzellenten Käse von Antony so stark zu verfremden, ist das in Summe doch sehr gelungen. Zusammen mit einem sehr guten, selbstgebackenen Früchtebrot, ist das ein intelligent zusammengestellter, hochwertiger und vergleichsweise leichter Käsegenuss. — 7

Eines meiner absoluten Lieblingsdesserts folgt als Einstimmung zum süßen Teil. Baba au Rhum, hier in einer deutlich anders interpretierten Variante, schmeckt sehr gut, aber die Sauce, in der das Gebäckstück liegt sowie auch das Gebäck selbst, enthalten nur wenig Rum, was mich die „karibische Aura“ dieses Klassikers etwas vermissen lässt. Sehr gut, dennoch. — 7

Vier Pralinen folgen noch. Bis auf eine recht neutral schmeckende Kreation mit Puffreis und Himbeere (6), ist bei den anderen Petitessen eine besser die nächste. Eine Praline mit Passionsfrucht und Schokolade ist sehr gut, obwohl die etwas Passionsfrucht vermissen lässt (7); ein wie ein Stein aussehendes Milchspeiseeis mit hauchdünner süßer Glasur ist exzellent (7,5), und ein Röllchen mit Muscovadozucker, Schokolade und Haselnuss scheut sich nicht, einfach nur ein (vielleicht etwas zu) süßes, leicht knuspriges Dessertvergnügen zu sein (8).

Das Talent und die Ambitionen von Speinle und seinem Team stehen außer Frage. Ein paar Flüchtigkeitsfehler sind in der Startphase auch nicht der Rede wert. Wenn Herr Kühne in seinem Hotel jedoch kulinarisches Spitzenniveau installieren möchte, dann muss er seiner Küchenbrigade bezüglich des Wareneinkaufs einen Blankoscheck ausstellen. Produkte auf Weltklasseniveau sucht man hier nämlich vergebens. Doch nur mit diesen wird das Küchenteam seine Möglichkeiten voll ausschöpfen können. Kühne selbst muss das entscheiden, er hat das Ruder in der Hand.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Lakeside (→ Website)
Chef de Cuisine: Cornelius Speinle
Ort: Hamburg, Deutschland
Datum dieses Besuchs: 22.03.2018
Guide Michelin: noch nicht bewertet
Meine Bewertung dieses Essens (?): 7 (Was bedeutet das?)
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Inter Scaldes ‒ zwischen den Gezeiten

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Inter Scaldes klingt wie der Name eines Zugs. So wie InterCity. Ich fände es nicht abwegig, wenn mir jemand sagte, er wäre mit dem Inter Scaldes durch die Niederlande gefahren. Tatsächlich kann man das nicht. Man kann aber zum Inter Scaldes in die Niederlande fahren.

Das abgelegene Haus, dessen lateinischer Name „zwischen den Schelden“ bedeutet, befindet sich in Kruiningen auf der niederländischen Halbinsel Zuid-Beveland, einer Landzunge zwischen Oosterschelde, Westerschelde und dem Veerse Meer.

Der Ort ist gar nicht so einfach zu erreichen. Kein Wunder, dass das Haus auf der Website mit einem Hubschrauberlandeplatz wirbt.

Vor 17 Jahren übernahmen der jetzige Küchenchef Jannis Brevet und seine Frau Claudia das Anwesen. Zu der Zeit war das Restaurant bereits mit zwei Michelin-Sternen ausgezeichnet. Der Start war für die neuen Inhaber dennoch holprig. Kurz nach der Übernahme brannte das Restaurant komplett ab und musste neu aufgebaut werden. Doch seitdem geht es aufwärts. Das Haus ist inzwischen Mitglied der renommierten „Relais & Châteaux“-Vereinigung, und an der Eingangstür hängt seit neuestem eine Plakette mit drei Michelin-Sternen, die der Guide Michelin für Küchenleistungen vergibt, die eine eigene Reise wert sind.

Meine Reise führt mich am Abend dann an den Esstisch des wie ein Wintergarten angelegten Restaurants. Man hat einen schönen Blick auf die nach englischer Art gepflegte Gartenanlage, in der auch ein Fasan wohnhaft ist. Wenn der wüsste, dass seine Artgenossen hier sicherlich hin und wieder bardiert im Ofen landen …

Das Essen beginnt mit einer Trilogie von Aperitifsnacks. Eine mit leichter Avocadocreme gefüllte, hauchdünne und knusprige Parmesanstange schmeckt angenehm umami (7,5), eine Praline mit Foie Gras ist überraschend, weil sie einmal nicht mit Süße, sondern mit Herzhaftigkeit in Form von Taggiasca-Oliven kombiniert ist (8), und eine quaderförmige Kreation mit Rote-Bete-Mousse, Buttermilch und Ananas ist in einer Kombination mit wunderbar floral duftendem Rosenöl besonders hervorragend (8,9).

Ein weiterer Snack ist ein etwas zu süßer, recht massiger Ziegenkäsebonbon mit weißer Schokolade, Aprikose und einer für mich im Eifer des Appetits nicht genau auszumachenden Masse, die an Tartar erinnert. Das ist nicht ganz so durchdacht wie zuvor. — 6,9

Das „Amuse Maison“ besteht aus drei identischen kleinen Türmchen von zurückhaltend gewürzter Avocadocreme, einem noch dezenter schmeckenden Kokosflan, „Gold Anna Dutch“ Kaviar und einem Chip aus Hühnerhaut, der knusprige Textur beisteuert. Das steht dem Geschmacksbild der Parmesanstange von vorhin ziemlich nah, wirkt aber mit seinen vielen Cremes erneut recht massig. So grandios, dass man das gleich drei Mal essen muss, ist das nicht. — 7

Genau gegenteilig verhält es sich mit dem ersten Gang des eigentlichen Menüs. Bretonische kleine Pilgermuscheln sind kleingewürfelt und von schwarzem Trüffel begleitet. Diese an sich schon geschmacklich sehr schlüssige Kombination wird hier noch von einem leicht säurebetonten Schaum von San-Marzano-Tomaten und Lorbeer erweitert, eine appetitanrede Vinaigrette ist auch noch Teil des Ensembles. Die Speise duftet nach dem wohlschmeckenden Potpourri aller Ingredienzen. Hier ist die doppelte Wiederholung mehr als willkommen. — 9

Klassisch geht es weiter, mit einem Quader von für sich genommen hervorragend zubereiteter Entenleberterrine. Eine darin eingebrachte Schicht mit schwarzer Schokolade bringt eine Andeutung von Bitterkeit mit ins Spiel. Obenauf findet man eine Zubereitung mit der auf der Insel La Réunion beheimateten „Victoria“-Ananas, die für ihr Renommee, eine der besten zu sein, hier betrüblich wenig Geschmack hat. Zwei sehr gute Saucen, mit Topinambur sowie Apfel und Passionsfrucht, flankieren die Terrine und bringen etwas Frische. Die dazu servierte Brioche ist leider nicht mehr warm und etwas bröselig. In Summe sehr gut, aber keinesfalls außergewöhnlich. — 7

Die bisherige Auf- und Abfahrt auf durchaus hohem Niveau nimmt nun einen Gipfel ins Visier. Ein in Perfektion zubereitetes Filetstück Rotzunge ist heiß, unglaublich zart und saftig und goldbraun fertiggebraten. In Form eines gebratenen Filets zählt dieses Stück Fisch zu den besten, die ich je probiert habe. Es ist mit einer Daidai-Ponzusauce überglänzt, deren hinreißende Zitrusaromen am Gaumen mit einer aufgeschäumten sauce crémière verschmelzen. Das ist eigentlich eine recht simple Sauce, die normalerweise anstelle eines Fonds auf der Basis von Crème fraîche und Senf zubereitet wird. Man begegnet ihr eher auf französischen Rezeptseiten für die heimische Küche als in der Spitzengastronomie. Diese Sauce jedoch ist alles andere als simpel, stattdessen stellt sie ihre wohlschmeckende Üppigkeit ungeniert und dennoch elegant zur Schau. Zart gegarte Karotten mit intensivem Eigengeschmack und salzig schmeckender Mönchsbart ergänzen diesen grandiosen Teller. — 10

Mit der Rotbarbe des nächsten Gerichts gelangt ein weiterer Fisch von herausragender Qualität an den Tisch. Erneut ist das Filet zart und saftig und verfügt dennoch über die charakteristische Textur des Fischs. Bei der leicht aufgeschäumten Sauce mit Verjus, „Pierre Robert“-Frischkäse und Thymian gelingt es der Küche wiederholt, eine Sauce mit zum Teil ungewöhnlichen Bestandteilen zu einem kulinarischen Höhepunkt zu machen. Die leicht pikante, würzige Sauce passt hervorragend zu dem geschmacksintensiven Fisch. Kugelförmig ausgestochener Kohlrabi und einige orange Beerenfrüchte passen dazu überraschend exzellent. — 9

Da Kalbsbries eine meiner Lieblingszutaten ist und die Portionen bisher sehr leichtgewichtig sind, erweitere ich das Menü vor dem Hauptgang noch um diesen A-la-carte-Gang. Das goldbraun geröstete Stück Bries ist von hervorragender Qualität, könnte außen jedoch etwas knuspriger und innen bissfester sein. Ein säurebetonter Portweinjus passt dazu gut. Marinierte und gewürfelte Kakaobohne sorgt für eine angenehme, frische Bitterkeit, und etwas Parmesan ergänzt das Geschmacksbild um reichlich Umami. Die weiteren, kugelförmigen Komponenten kann ich nicht genau identifizieren, sie wirken jedoch wie eine Wiederholung der Komponenten des vorherigen Gangs. Ein sehr gutes Gericht, das aber auf dem attestierten Niveau etwas enttäuscht. — 7,9

Der eigentliche Hauptgang ist ein Stück Lammfilet, das zwar sehr zart daherkommt, aber weitestgehend charakterlos ist. Die offensichtliche Sous-vide-Garung sorgt hier eher für Monotonie am Gaumen als für geschmacksfördernde Präzision. Hervorragend ist alles Weitere. Eine großartige Persillade auf dem Fleisch sorgt für überbordend frischen Petersiliengeschmack, und vier püreeartige Saucen auf der Basis von Thymian, Fenchel, Strandflieder bzw. spanischem Pfeffer (piquillo) sind alle aromatisch intensiv und passen hervorragend zum Fleisch. Auch der wässrig aussehende Jus, der zuerst wie mangelhaftes Handwerk anmutet, überzeugt durch einen feinen Geschmack nach Lamm, Bratenjus und Kräutern. Aufeinandergestapelte, makellos hergestellte Pommes Soufflées erklären die Hommage an den amerikanischen Bildhauer Alexander Calder, die man in der Speisekarte findet. Man muss sich nichts vormachen: Weltklasse ist das nicht, aber geschmacklich dennoch sehr befriedigend, qualitativ hervorragend und unverfälscht. — 8

Ein Pré-Dessert begeistert dann wieder restlos mit einer Mascarpone-Crème mit Zitronatzitrone und einer angenehm säuerlich schmeckenden und an Mokka und frischen Kaffeebohnen erinnernden gelierten Schicht. Ein knuspriges, süßes Gebäckröllchen obenauf bietet Knabberspaß auf höchstem Niveau. Schlicht, aber traumhaft. — 9

Das eigentliche Dessert, welches der Optik des Lammgerichts nachempfunden ist, besteht aus einem Riegel mit Schokolade („Ocoa 80 %“), Banane, Bleichsellerie und Champagner, was sich als erstaunlich gelungene Kombination mit einem angenehmen Säure-Süße-Spiel entpuppt. Ein Curryeis dazu klingt zwar noch exotischer als der Sellerie, sorgt aber für eine sehr gelungene Ergänzung eines hervorragenden Desserts. — 8

In kulinarischer Hinsicht geht damit ein Abend zu Ende, bei dem es nicht schwerfällt, ihn als hervorragend zu bezeichnen. Ich erlebte hier eine Spitzenküche mit exzellentem Handwerk und ebenso guten Produkten. Die Fischgerichte waren sogar Weltklasse, und Jannis Brevet hat ein außergewöhnliches Gespür für stimmige Geschmacksbilder und ein Faible für Authentizität. Dennoch ist die jüngste Bewertung mit drei Sternen auf Grundlage dieses einen Menüs nicht gänzlich nachvollziehbar. Aber vielleicht lebt man in dieser Region ja immer mit den Gezeiten, immer irgendwo dazwischen, zwischen den Schelden.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Inter Scaldes (→ Website)
Chef de Cuisine: Jannis Brevet
Ort: Kruiningen, Niederlande
Datum dieses Besuchs: 24.03.2018
Guide Michelin (NL 2018): ***
Meine Bewertung dieses Essens (?): 8,5 (Was bedeutet das?)
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Per Se ‒ ein Traum von Trüffeln

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Thomas Kellers Restaurants stehen in der amerikanischen Gastronomielandschaft wie ein Fels in der Brandung. Seine berühmte ‒ und gerade aufwändig renovierte ‒ French Laundry im Napa Valley und das New Yorker Pendant Per Se sind in den USA Ikonen des fine dining, die Bäckerei- und Bistro-Filialen Bouchon von mir zu Hause bitterlich ersehnte Oasen für alltäglichere Gaumenfreuden von steak frites bis éclair au chocolat.

Den Hype um Kellers Restaurants haben längst Andere abgelöst. Das Per Se wird einem in New York niemand schnell empfehlen, es sei denn, man fragt explizit nach einem luxuriösen Restaurant für festliche Anlässe, ausufernde Weinproben oder Kulissen für fette Geschäftsabschlüsse, kurz: nach vier- bis sechsstelligen Rechnungsbeträgen. Restaurantkritiker Pete Wells von der New York Times legte in der jüngsten Rezension zum Per Se noch einmal seinen Finger in die Wunde und stufte das Etablissement von vier auf zwei Sterne herab, wenngleich hier Nachlässigkeiten beim Service eine entscheidende Rolle spielten.

Eines steht außer Frage. Förmliches Ambiente, französische Küche und Menüs für umgerechnet ca. € 275, die die Möglichkeit vorsehen, sie um bis zu weitere € 200 aufzustocken, wenn man sich bei einigen Gängen für entsprechende Optionen entscheidet, erscheinen nicht mehr zeitgemäß.

Aber ich bin Hedonist, kein Trendscout. Leicht vom Jetlag geplagt, aber mit Appetit und Vorfreude gewappnet stehe ich daher ‒ zum dritten Mal in sechs Jahren ‒ vor den blauen Pforten im Time Warner Center. Das Masa und die Bar Masa sind nur einen Schulterblick von mir entfernt, eine Bouchon Bakery befindet sich ein Stockwerk tiefer. Kulinarische Gipfel in Einkaufspassagen, davon kann man nur träumen, wenn man das nächste Mal zwischen H&M, Douglas und Galeria Kaufhof Appetit bekommt.

Es gibt zwei Menüs. Beide ‒ das Chef’s Tasting Menu, für das ich mich entscheide, sowie ein rein vegetarisches ‒ lesen sich wie Aufzählungen lauter traumhafter Produkte und Geschmäckern, von Aubergine, Bergamotte und Carnaroli-Risotto bis Miyazaki-Rind und Wintertrüffeln.

Die (in einem Tablet präsentierte) Weinkarte ist umfangreich und ihr Inhalt kostspielig. Unter zweihundert Dollar (ca. € 160) wird man Mühe haben, ansprechendende Weine zu finden. Die teuerste Flasche ist ein 1929er Richebourg von der Domaine de la Romanée-Conti für umgerechnet € 41.600. Und das ist sicherlich kein Ladenhüter. Für morgen Nachmittag ist hier eine große private DRC-Probe geplant. Die Flaschen stehen im begehbaren Weinklimaschrank schon bereit.

Nach etwas offenem Champagner und Weißwein fällt meine Wahl auf einen 2014er „Cerise Vineyard“ Pinot Noir vom Weingut Littorai aus Mendocino, Kalifornien (ca. € 192).

Snacks zum Aperitif sind zunächst das klassische Lachstartar im Cornet mit perfekter Würzung, aber etwas zu dicker Teighülle (7); dazu gibt es Käsecracker, die unscheinbar aussehen, aber ganz hervorragend schmecken, leicht salzig-umami nach Parmesan und Zwiebeltarte (8).

Eine dann folgende Topinambur-Velouté als Amuse-Bouche mit Rhabarber, Kürbiskernen und Mangold ist schaumig, heiß und exzellent herzhaft abgeschmeckt. — 8

Der erste Gang des Menüs ist einer von Kellers Klassikern schlechthin: „Oysters & Pearls“, bestehend aus pochierten, walnussgroßen Austern, einer großen Nocke Kaviar und einer buttrigen Sabayon mit Tapiokaperlen und Schnittlauch. Süffig, salzig, jodig, buttrig, himmlisch. — 10

Ein „Hühnerei-Pudding“ mit einem „Ragout“ von schwarzen Trüffeln ist eine weitere perfekte kleine Speise, deren Geschmack man sich für Ewigkeiten am Gaumen wünscht. Ein Kalbsjus mit Trüffeln ist so intensiv eingekocht, dass er leicht pikant geworden ist und man Mühe hat, wegen der ausgekochten Gelatine die Lippen wieder auseinanderzubekommen. Fabelhaft. — 10

Der nächste Gang stellt kleine, knusprig geröstete Kartoffeln mit intensivem Eigenaroma zur Schau. Lauch, leicht bittere Salatblätter und eine Aioli mit schwarzem Trüffel ergänzen einen verführerischen, rauchigen Gang, der an Lagerfeuer und Nachtwanderungen erinnert. Hervorragend, und ganz wunderbar unverfälscht. — 8,9

In diese süffige, rauchig-säuerliche Umami-Geschmackswelt, in der sich das Menü bisher befindet, passt eine Vinaigrette mit gerösteten Pinienkernen, karamellisierten marokkanischen Oliven und einem Hauch Knoblauch perfekt. Man bräuchte dazu kaum mehr als ein Stück von dem exzellenten Baguette, das ich auf dem Brotteller habe. Zwei Stücke Gelbflossen-Thun, die es dazu gibt, sind zwar hervorragend, aber nicht auf Referenzniveau. Dennoch ist auch dies ein exzellentes, erneut sehr authentisches und wohlschmeckendes Gericht. — 8

Dem geschmacklichen Duktus des Menüs folgend, gibt es dann Jakobsmuschel ‒ groß, fleischig und exzellent gegart ‒, die in einem süffig-cremigen Potpourri von Blumenkohl, Brioche-Croûtons, Rübstiel und Nussbutter serviert ist. Ein souveräner, fantastisch unaufgeregt angerichteter Weltklasseteller. — 9

Exzellentes, hausgemachtes Roggenbrot mit Früchten sowie eine der besten Buttersorten, die ich je probiert habe (von Diane St. Clair’s Animal Farm in Vermont) rechtfertigen zweifellos die Präsentation als eigener Gang. Mächtig ist das dennoch, daher bewahre ich Brot und Butter einfach noch auf. — 7

Der folgende Gang ist eine der aufpreispflichtigen Zusatzoptionen. Hausgemachte Tagliatelle mit Parmesan und schwarzem Trüffel kosten 125 Dollar (ca. € 100) extra und eichen den Gaumen auf maximal erlebbaren Genuss. Die aufgewickelte Pasta wird in einer süffigen, dichten Parmesansauce aufgetischt. Die Nudeln sind bereits leicht mit Trüffeln besprenkelt, sodass für einen kurzen Moment die Befürchtung in mir aufflammt, dass man hier trotz des beträchtlichen Aufpreises etwas geizig mit dem Edelpilz umgeht. Doch bevor ich diesen Gedanken zu Ende denken kann, hobeln von rechts zwei Hände ‒ eine davon im weißen Handschuh ‒ eine riesige, feiste Knolle auf meinen Teller, bis von den Nudeln nichts mehr zu erkennen ist. Die ganze Knolle. Ein Zehn-Dollar-Schein nach dem Anderen, bis der Aufpreis zum Menü mehr als legitim erscheint.

Der Trüffel aus dem Périgord ist von Referenzqualität, schwarzweiß, saftig und ätherisch nach verregnetem Waldspaziergang und harzigem Terpentin duftend. In Kombination mit dem Umamigeschmack der sahnigen Parmesansauce und der perfekt hergestellten und gekochten Pasta ist das ein unvergesslicher Teller. — 10

Es geht weiter mit Lammkarree von der Elysian Fields Farm in Pennsylvania. Der Betrieb ist für seine „ganzheitliche“ Tieraufzucht bekannt, die nach vergleichbaren Standards arbeitet wie japanische Kobe-Rind-Züchter. Die Qualität des Fleischs ist nur in Superlativen zu beschreiben. Es ist geschmacklich sehr fein, butterzart und hat einen hohen Fettanteil, der am Gaumen schmilzt wie Butter. Dazu gibt es Aubergine mit Kräuterkruste, mit Harissa gewürzte Paprika, Raukepesto sowie toskanisches Olivenöl und einen makellosen Lammjus, der das mediterrane Geschmacksbild komplettiert. Ein weiteres perfektes Gericht mit Referenzzutaten und -zubereitungen. — 10

Zwischen herzhaft und süß wird ein Gougère serviert, auf einer Crème von gereiftem Gruyère. Das herzhafte Gebäckstück ist heiß und „dicht“ und ganz hervorragend zubereitet. — 8

Es folgt noch ein ganzes Sortiment an hervorragenden Desserts: ein Schokoladenkuchen mit Pistazie und Zitronenmarmelade (8); Frozen Yogurt (8); gerollte Crêpe Suzette mit Zitronatzitrone (8); Cappuccino Semifreddo (9); Zimt-Brioche-Doughnuts (8) und Pralinen. Letztere bestelle ich zum Mitnehmen und habe damit schon für ein ideales kleines Frühstück vorgesorgt.

Wenn man in diesem Zustand ‒ satt, vom Wein beschwingt und vom Genuss euphorisiert ‒ in die New Yorker Nacht hinausstolpert, ist das schon ein großartiger Moment. Während die Lichter der Stadt am Taxi vorbeirauschen, träume ich schon mal vor, von Lämmern, Butter und Trüffeln.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Per Se (→ Website)
Chef de Cuisine: Corey Chow
Ort: New York City, USA
Datum dieses Besuchs: 05.03.2018
Guide Michelin (NYC 2018): ***
Meine Bewertung dieses Essens (?): 8,9 (Was bedeutet das?)
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Sushi Ginza Onodera (New York) ‒ Umami zum Mittag

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Die Onodera-Gruppe betreibt mehrere japanische Restaurants für Sushi und Teppanyaki, unter anderem in Tokio, New York, Los Angeles und Paris. Die Filiale in New York ist meine erste Begegnung mit einem Restaurant dieser Gruppe. Innerhalb der zwei Jahre, die es geöffnet hat, wird es im Guide Michelin schon mit zwei Sternen ausgezeichnet.

Bereits hinter der Eingangstür beginnt die Erfüllung meiner Sehnsucht nach den reinlichen Gerüchen, den geschickten Handgriffen und der durchdachten Geometrie in japanischen Restaurants. Alles ist darauf ausgerichtet, um den verwendeten Zutaten und denen, die diese genießen möchten, größtmöglichen Respekt zu erweisen.

Küchenchef Masaki Saito (dessen Namensverwandtschaft mit dem legendären Sushimeister aus Tokio nach meinem Wissen nur Zufall ist) ist an diesem Mittag nicht anwesend, doch wenn mir das niemand gesagt hätte, wüsste ich das gar nicht. Die souveränen Handgriffe des anwesenden, sehr konzentriert arbeitenden Chefs sehen mehr als vertrauenswürdig aus.

Das Ambiente ist angenehm. Das Restaurant ist hell und sehr geräumig, der L-förmige Tresen hat Platz für bis zu 16 Gäste, weitere normale Tische sind ebenfalls vorhanden. An diesem Montagmittag ist das Restaurant nicht ausgebucht. Ich bestelle ein Glas offenen Weißwein (Mas de Domaine Gassac, $ 22 = ca. € 18), danach ein Sapporo-Bier (€ 7,50).

Die einzige Entscheidung, die man bezüglich des Mittagsmenüs treffen muss, ist die Menge an Nigiri-Sushi, die im Laufe des Menüs serviert wird. Zur Auswahl stehen zehn, dreizehn oder fünfzehn Teile zu umgerechnet € 83, € 108 bzw. € 125. Mir fällt kein Grund für Verzicht ein ‒ wenn ich schon mal hier bin ‒ und wähle das volle Programm.

Während der Sushimeister und sein Gehilfe vor meinen Augen unterschiedliche Vorbereitungen treffen und ich auf die ersten Kleinigkeiten warte, erfreue ich mich an unzähligen Details wie den Keramikschälchen und -tellern, den akkurat vor mir platzierten Essstäbchen und jedem einzelnen Handgriff des Meisters. Allein das schnelle und präzise Aufschneiden von Ingwer ist schon fesselnd.

Das Omakase-Menü beginnt mit einem an minimalistischer Ästhetik kaum zu übertreffenden Teller mit Makrele, Algen-Sojasauce und frischem Wasabi. Der Fisch ist einige Tage gereift und mariniert und weist dadurch eine besonders zarte Textur und einen ganz leichten Räuchergeschmack auf. In Kombination mit dem leuchtend frischen Wasabi und der Sojasauce stimmt mich dieser sehr hochwertige Einstieg schon glücklich. — 8,5

Es geht dann sofort weiter mit der Abfolge von Nigiri-Sushi. Der Fisch kommt drei Mal die Woche direkt vom Fischmarkt in Tokio hierher.

Glänzender Schleimkopf (kinmedai) ‒ der Reis des Nigiri ist auffällig warm, hat einen geringen Säuregehalt und ist hervorragend luftig-körnig gekocht, sodass man jedes Korn am Gaumen wahrnehmen kann. Herausragende Fischqualität.

Stachelmakrele (shima aji) ‒ der Fisch hat einen hohen Eigenfettgehalt, ist sehr zart und von erneut herausragender Qualität. Auf diesem Niveau äußern sich die Unterschiede zu den größten Sushimeistern nur in wenigen der Dutzenden Stellschrauben, die diese scheinbar simple Speise zu einer der komplexesten überhaupt machen.

Japanischer Barracuda (kamasu) ‒ der Fisch hat einen milden Geschmack nach Meer und ist ganz leicht über Holzkohle gegrillt. Ein selten servierter Fisch in fabelhafter Qualität.

Gelbschwanzmakrele (buri) ‒ ein Hauch Senf zwischen Reis und Fisch sowie ein paar Tropfen frisch darüber gepresste Yuzu machen dieses Nigiri zu einem weiteren Highlight.

Süßlippe (isaki) ‒ dieser Fisch hat eine sehr feste Textur und einen angenehm süßlichen Geschmack. Kein Favorit, aber exzellent.

Atlantische Weiße Garnele (shiro ebi) ‒ die Sojasauce verfängt sich in den gekonnt umgesetzten Einschnitten des Fleischs und ergänzt dessen süßlichen Geschmack um Umami und etwas Säure.

Jakobsmuschel (hotatagai) ‒ serviert mit Sojasauce und der Zitrusfrucht Sudachi. Die verschiedenen Sojasaucen und frischen Zitrusfrüchte kommen alle sehr stimmig zum Einsatz.

Tintenfisch (ika) ‒ einer meiner Lieblingsfische für Nigiri. Die Textur ist hier für meine Präferenzen etwas zu fest, ansonsten wäre das ein ziemlich perfektes Stück. Besonders die akkuraten parallelen Einschnitte mit fast identischem Abstand sind handwerklich sehr präzise umgesetzt.

Junge Meerbrasse (kasugo) ‒ ein fantastisches Stück Nigiri-Sushi mit einem interessanten Kontrast am Gaumen durch ein etwas kühler temperiertes, sehr zartes Fleisch. Das Niveau bleibt hervorragend.

Magerer Thunfisch (akami) ‒ der Fisch wurde vorher mariniert, was ihn noch zarter macht. Der Geschmack ist „rein“ und elegant, mit viel Umami.

Fetter Thunfisch (ōtoro) ‒ der aus dem vorderen Bauch des Fischs stammende Teil weist eine starke Fettmarmorierung auf und ist auch hier ein ganz besonderes Erlebnis. Das eher an ein marmoriertes Steak erinnernde Stück vom Fisch ist voll mit Umami und erzeugt am Gaumen einen buttrigen, mundfüllenden Wohlgeschmack. Auch sorgen etwas Sojasauce und eine Zitrusfrucht für zusätzliche Akzente.

Stachelmakrele (aji) ‒ der intensive Geschmack des Fischs, hier kombiniert und aufgefrischt mit etwas Ingwer, erinnert an ein Fischbrötchen mit Matjes. Exzellent.

Eine dann folgende Miso-Suppe fällt durch intensiven Wohlgeschmack auf, der von der aufwändigen Zubereitung herrührt. Hierzu wird eine ganze Woche lang ein Dashi immer wieder neu mit einer konzentrierten Misopaste angereichert. Das Ergebnis kann sich schmecken lassen.

Nach der heißen Unterbrechung folgt weiteres Sushi.

Ein Schälchen mit etwas Lachsrogen stellt eine sehr gute Zutat zur Schau. Die Fischeier sind sehr leicht und verwandeln sich am Gaumen zu einem Eindruck von Salzwasser.

Ein weiteres Nigiri mit exquisitem Seeigel aus Hokkaido ist die nächste Delikatesse. Der Reis wurde hier etwas stärker mit leichter Sojasauce mariniert, was eine gute Unterstützung für das überbordende Geschmackserlebnis von Jod, Umami und leichter Süße ist. Es existieren von dieser Zutat allerdings noch eindrucksvollere Qualitäten.

Endgültige Sättigung erfährt man spätestens mit der Handrolle aus Algenblatt, Reis, fettem Thunfisch und Zwiebeln: reiner Wohlgeschmack „aus der Tüte“.

Sämtliche Speisen bisher bewegten sich auf einem Niveau, für das eine Bewertung mit zwei Sternen absolut nachvollziehbar ist. Einige Nigiris ‒ besonders Barrakuda, Gelbschwanzmakrele und fetter Thunfisch ‒ sowie die Miso-Suppe waren auf Weltklasseniveau. Im Schnitt 8,5.

Es folgt noch Tamago, die japanische Dessertspezialität, für dessen Fertigung man jahrelange Übung braucht. In diesem Fall sollte man vielleicht noch weiter üben, denn die üblicherweise recht dichte und saftige Masse ist hier ungewöhnlich luftig und ziemlich trocken. Ob das ein anderer Stil ist ‒ oder nur fehlende Exzellenz ‒ ist mir nicht bekannt, aber ganz „sauber“ kommt mir das nicht vor. — 6,5

Gerösteter grüner Tee schmeckt in japanischen Restaurant immer nach flüssigem Aschenbecher, dieser hier schmeckt entsprechend authentisch. Ein kleines Dessert mit Kokoscreme, grünem Tee und einer von mir nicht näher identifizierbaren Bohne schmeckt hervorragend und bildet den Abschluss eines Essens auf sehr hohem Niveau (8,5).

Als besonders angenehm habe ich auch die offene Atmosphäre und unkomplizierten Reservierungsgepflogenheiten des Restaurants empfunden. Das Sushi Ginza Onodera ist weder ein exklusiver Geheimtipp wie Sushi Amane, noch ein kontoschröpfender Sushitempel wie das Masa, sondern einfach nur ein ganz hervorragendes Sushi-Restaurant ohne Allüren.

Ich verlasse das Restaurant glücklich, gesättigt und bereichert, stolpere hinaus auf die Fifth Avenue, auf der schon wieder tagesübliche Hektik herrscht. Wunderbar, alles.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Sushi Ginza Onodera (→ Website)
Chef de Cuisine: Masaki Saito
Ort: New York City, USA
Datum dieses Besuchs: 05.03.2018
Guide Michelin (New York City 2018): **
Meine Bewertung dieses Essens (?): 8,5 (Was bedeutet das?)
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Schwarzwaldstube ‒ Michels Sterne

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Die Sterne sind jetzt in seiner Obhut. Drei Stück an der Zahl, mit denen der Guide Michelin seit 25 Jahren die Küche der Schwarzwaldstube auszeichnet. Rekord in Deutschland. Nach dem medial etwas holprig kommentierten Fortgang von Kochlegende Harald Wohlfahrt, hat jetzt Torsten Michel das Ruder in Deutschlands berühmtestem Restaurant übernommen. Michel ist kein Neuer, er wirkt bereits seit zehn Jahren hier und war zuletzt ‒ auch schon unter Wohlfahrt ‒ offizieller Küchenchef im französischen Restaurant des Hotels Traube Tonbach.

Mir sind die internen Geschehnisse, die zum Fortgang Wohlfahrts geführt haben, nicht im Detail bekannt, aber sie interessieren mich ‒ als Gast ‒ heute Abend nicht besonders. Mich interessiert, wie sich das Essen unter Michel entwickelt hat, wenngleich ich nicht behaupten kann, eine Entwicklung hier dokumentieren zu können. Mein erster und letzter Besuch in der „Stube“ liegt schon über neun Jahre zurück.

Das Interieur war damals deutlich barocker. Heute ist das Mobiliar sachlich schlicht, die Anzüge des Serviceteams sind modisch, und der Service agiert mit einer Kombination aus Souveränität, Charme und Humor, die besonders in Deutschland selten vorzufinden ist. Keine Spur von Biederkeit oder Kleinbürgertum ‒ und das nicht in Berlin, sondern in Baiersbronn. Selbst das massive, urige Holzgewerk wirkt der monochromen deutschen Lieblingsfarbwelt für gehobene Restaurants mit Authentizität und Charakter entgegen. Eine angenehme Kulisse für die nächsten Stunden.

Einen schönen Anblick bietet auch die Speisekarte. Gerichte mit ‒ nicht nur ‒ französischem Fokus sind stimmig in kalte und warme Vorspeisen, Suppen, Fisch- und Fleischgerichte unterteilt, es gibt auch noch drei Menüs, alles ist flexibel. Die Preisgestaltung ist im internationalen Vergleich auf diesem Niveau nicht Aufsehen erregend. Das teuerste Menü kostet € 225, die A-la-carte-Gerichte liegen, bis auf eine Ausnahme, alle noch deutlich im zweistelligen Bereich. Für ein derart produktfokussiertes Spitzenrestaurant ist das ein völlig akzeptables Niveau.

Ich wähle, wie ich das gerne in solchen Restaurants tue, à la carte. Ich „bestelle“ aber nicht, sondern spreche mit dem Service über die Gerichte, die mich von den Zutaten her besonders interessieren. Die finale Auswahl kommt dann im Dialog zustande. Dieser kurzweilige, explorative Bestellansatz ist längst nicht in allen Restaurants möglich. Wenn jemand mit gezücktem Notizblock am Tisch steht, kann man so etwas eigentlich schon vergessen.

Erste Häppchen zum Aperitif begleitet Sommelierlegende Stéphane Gass mit zwei verschiedenen Muskatellern, der erste süffig-frisch (Jahrgang 2016 von Alexander Laible aus Baden, € 10), der zweite überraschend tiefgründig (2011 „Ried Silberberg“ vom Weingut Neumeister aus der Steiermark, € 15).

Ein mit einer Kalbsmousse gefülltes Rinderfiletröllchen als Löffeldegustation wird mit akkurat dosierten Mitspielern Kapern, Senf und Parmesan serviert, eine Punktlandung in Bezug auf Wohlgeschmack und elegante Herzhaftigkeit (9). Ein weiterer Snack ist eine Scheibe Jakobsmuschel auf einem luftig-knusprigen Chip, kombiniert mit Schalottenvinaigrette und Currycreme. Letztere überlagert etwas das Aroma der qualitativ exzellenten Muschel, aber in Summe ist das geschmacklich hervorragend, vor allem das Spiel mit den Texturen ist große Klasse (8,9).

Im Glas ist inzwischen ein exzellenter 2013er Meursault „Rougeots“ von der Domaine Vincent Girardin (Glas € 20), und in der Karaffe für später eine Flasche 1999 Château Clinet aus Pomerol (€ 240).

Die dritte Kleinigkeit ist gezupftes Fleisch von der Meerspinne auf einem intensiv nach bestem Krustentierfond schmeckenden Chip. Krustentiergelee steigert diesen Eindruck. Ein Passionsfruchtschaum bringt sowohl eine passende Fruchtigkeit als auch Säure mit ins Spiel, die bei dieser exzellenten Speise allerdings einen Hauch zu präsent ist (8). „Topinky“, eine ursprünglich aus Tschechien stammende kulinarische Tristesse aus geröstetem Toastbrot mit eingeriebenem Knoblauch, präsentiert sich hier als eine Scheibe zu perfekter „Krossheit“ geröstetem Weißbrot mit Entenleber, Apfel, Trüffelstiften und Champignons. In dem kompakten Arrangement zeigt sich unter anderem erneut, wie grandios Champignons schmecken können. Im Idealfall, so wie hier, sind sie sogar in einem Arrangement mit Trüffeln und Entenleber der Hauptdarsteller (9).

Als Amuse-Bouche folgt eine aufwändige kulinarische Arbeit bestehend aus mehrerlei Delikatessen rund um die Zutat Elsässer Hauskaninchen. Es gibt eine Ballotine vom Rückenfilet und der Keule mit Portweingelee, dazu eine feine Mousse von gebratenem Kaninchenfleisch auf Pflaumencoulis und einen knusprigen Wan Tan gefüllt mit geschmorter Keule auf einem Ananas-Mangochutney. Diese Meisterarbeit als Amuse-Bouche zu präsentieren ist fast schon von unerhörtem Understatement. Temperaturen, Texturen, Geschmack und Präzision sind im Einklang, jeder Bissen bietet geschmacklich neue, stimmige Eindrücke zwischen Herzhaftigkeit und genau ausbalancierter Fruchtsüße. Die vom Handwerk her asiatisch inspirierte Teigtasche dürfte noch etwas krosser und der Anteil der cremigen Komponenten etwas reduzierter sein, doch das ändert am Weltklasseniveau dieses Tellers nichts Wesentliches. — 9

Der erste von mir gewählte Gang ist Thunfisch „Kishū“ (€ 64). Abgeflämmtes Rückenfleisch sowie aufgerolltes, gebeiztes Bauchfleisch präsentieren sich in einer phänomenalen Qualität, der man in unseren Breiten so gut wie gar nicht begegnen kann. Kombiniert ist das fettreiche, umami schmeckende Fleisch mit eingelegten Gartengurken, Shiitakepilzen, Ingwer und Wasabischaum. Obwohl mich das Volumen der schaumigen Masse im Zentrum des Tellers zunächst verunsichert, verflüchtigt sich jede Sorge dann beim Probieren. Wenn alle Komponenten dieses Tellers am Gaumen zusammenkommen, stellt sich ein einnehmendes Erlebnis absoluten Wohlgeschmacks ein. Eine Vinaigrette auf Sojabasis agiert hier wie Nadel und Faden, indem sie alle Zutaten miteinander verbindet. Säure, Umami, Fett, Frische, leichte Schärfe und die außergewöhnliche Qualität des Fischs ergeben ein grandioses Gericht, das ganz und gar nicht französisch ist und vielleicht auf ein „Freischwimmen“ Michels hindeutet. — 10

Eine weitere Vorspeise, die ich probiere, hat Karotten von der schwäbischen Alb (€ 38) als Leitmotiv. Es gibt sie geschmort, mit indischen Gewürzen und einer Curryvinaigrette aromatisiert, sowie in Form eines Schaums, der erneut recht prominent angerichtet und voluminös portioniert ist. Hier ist überhaupt ziemlich viel Cremiges im Spiel. Eine Pistaziencreme, eine Earl-Grey-Mousse, Süßholzgelee und eine Korianderemulsion sorgen am Gaumen eher für ein etwas „breiig-klebriges“ Durcheinander als für Harmonie, auch finde ich das Gericht in Summe zu süß. Zu viel aus der Quetschflasche und sättigende Texturgeber dürfte man sich hier nach meinem Geschmack schnell wieder abgewöhnen. — 7

Dass das ein Ausreißer war, wird beim nächsten Gericht wieder deutlich. Ein Filetstück vom Glattbutt (€ 92) in fantastischer Qualität ist perfekt gegart und ergibt mit pochierten Austern, Kaviar und geschmacklich sehr intensiven Seeigelzungen aus der Bretagne ein Geschmackserlebnis zum Träumen. Die Sauce, ebenfalls auf Basis von Seeigeln umgesetzt, ist schaumig, buttrig, klassisch und unterstützt den Geschmack nach einem Spaziergang am Meer. Fantastische Produkte, perfektes Handwerk und Bilder im Kopf, mehr geht nicht. — 10

Ähnlich ‒ und doch ganz anders ‒ ist ein Gericht mit Rotbarbe (€ 68). Das Filet ist kross gebraten und befindet sich in einem hervorragenden Jus, der intensiv nach Jod und Paprika schmeckt und zum Nachnehmen am Tisch gelassen wird. Die tournierten Artischocken zählen mit zu den besten, die ich je probiert habe, vergleichbar mit einem Niveau, das man etwa von Alain Ducasse kennt. Knoblauchschuppen obenauf, mit mildem Aroma, sorgen für zusätzlichen Texturspaß. Doch das beschreibt das Gericht noch nicht. Der wahre „Kick“, die wahre Herausforderung dieses Gerichts besteht in einer Emulsion aus Rotbarbenleber, die à part in einem Schälchen serviert ist. Zusammen mit einem Basilikum-Espuma gewinnt auch diese schaumige Masse zwar nicht den Preis für die ansehnlichste Beilage, doch dass es sich nicht einmal um eine Beilage handelt, wird schnell klar, wenn man ein Stück des Fischs zum ersten Mal in dieses Elixier tunkt. Es schmeckt so kraftvoll als hätte man wochenlang Krustentiere und jodiges Meeresgetier ausgekocht und immer wieder reduziert, bis man an die „Grenze des guten Geschmacks“ gestoßen ist. Diese fast schon medizinisch schmeckende Substanz ist so schonungslos intensiv, dass ich zunächst etwas innehalte. Nach einigen Dosierungsversuchen werde ich mir der Sache jedoch sicherer und bin am Ende dankbar für ein unvergessliches Gericht, das nicht einfach nur gut schmeckt, sondern auf höchstem Niveau herausfordert. Das ist nichts für jeden Tag und auch nichts für jeden Gast, aber alles für mich am heutigen Abend. — 10

Mit einer im Ganzen zubereiteten Keule vom Milchlamm (€ 155 für zwei Personen) geht es weiter. Auf dem Teller findet man von dem Fleisch drei fingerdicke Tranchen mit dünner Bärlauchkruste in einem Baroloessigjus (samt Sauciere zum Nachnehmen), nebst einer Zubereitung mit jungen Erbsen, Spitzmorcheln und hauchdünnen, knusprig gebackenen Kartoffelscheiben. Auf den ersten Blick erscheint der ideale Garpunkt der Keule nicht ganz erreicht zu sein, auch irritiert mich die Abwesenheit von Röstspuren. Es scheint als hätte man auf intensiveres An- oder Nachbraten absichtlich verzichtet. Am Gaumen zeigt sich jedoch kein nennenswerter Makel. Das Fleisch ist ungemein zart und von feinem, authentischen Geschmack, der durch den leicht säurebetonten und intensiv eingekochten Jus ideal unterstützt wird. Ein separat serviertes Kräuterpesto kann man nach Belieben dazu kombinieren. Von atemberaubender Referenzqualität sind die Erbsen und Morcheln, von denen jeweils jede einzelne ein perfektes Exemplar ihrer Gattung ist. Obwohl ich beim Fleisch einen Hauch längere Garzeit und schärferes Anbraten für vorteilhaft hielte, ist das Gericht ein Fest. — 9

Bei den Desserts entscheide ich mich für eine Kreation mit exotischen Früchten, genauer um einen Passoa-Savarin, eine Art Mini-Baba mit Passoa-Likör. Darauf befindet sich ein Mango-Limoneneis mit einer fantastischen Balance von Süße und Säure und mit intensivem karibischen Geschmack. All das wird ergänzt von Kokosschaum und dünnen Scheiben von Kokosnuss-Fruchtfleisch. Selbst Letztere sind geschmacklich exzellent, was in unseren Breiten alles andere als eine Selbstverständlichkeit ist. Gels von Passionsfrucht bzw. Ingwer, sowie kleine Mangowürfel vervollkommnen eines der besten „exotischen“ Desserts, die ich je probiert habe. Ich schließe die Augen und tauche ab in eine dunkle Karibiknacht, umnebelt von leisen Klängen einer E-Gitarre, Zikaden und goldbraunem Rum. — 10

Der Dessertwagen mit Petits Fours lässt viele Wünsche offen ‒ weil man zwar alles probieren darf, aber nicht alles probieren kann. Meine Auswahl fällt auf ein Stück fantastische Opern-Torte (9), einen makellos hergestellten Canelé (9), einen Macaron mit Schwarzwälder Kirsch, der etwas mehr Kirsch vertragen könnte (8,9) und eine Praline mit exzellenter dunkler Schokolade (9). Die Kleinigkeiten schmecken wie aus der Patisserie des Schlaraffenlands. Die Sterne der Stube sind nicht nur damit in besten Händen.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Schwarzwaldstube (→ Website)
Chef de Cuisine: Torsten Michel
Ort: Baiersbronn, Deutschland
Datum dieses Besuchs: 07.04.2018
Guide Michelin (D 2018): ***
Meine Bewertung dieses Essens (?): 9 (Was bedeutet das?)
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Porträt im Magazin „Der Feinschmecker“ ‒ Richtigstellung

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In der Ausgabe 6/2018 des Magazins „Der Feinschmecker“ findet man eine Reportage über essbegeisterte Menschen, deren Leidenschaft gutes Essen ist und denen dafür kein Weg zu weit ist. Die meisten der Protagonisten kenne ich persönlich. Auch ich werde in dieser Reportage porträtiert. Als die Redaktion des Magazins auf mich zukam, habe ich das als Chance gesehen, einer genussaffinen Zielgruppe außerhalb der Leserschaft meines Blogs meine Passion und meine Anliegen in Bezug auf Essen und Kulinarik näherzubringen.

Ein perfekt gegrillter Fisch mit exzellentem Olivenöl. Der Duft von warmem, frisch gebackenem Brot mit guter Butter und Meersalz. Der vollkommene Geschmack von japanischem Sushi. Ein unvergesslich knackiger Salat am Mittelmeer mit leuchtend frischen Zutaten. Oder ein komplexes, modernes Menü mit neuartigen Geschmackserlebnissen, aber mit den besten Produkten, die die Natur zu bieten hat. All dies und mehr bildet die Grundlage für meine Leidenschaft, über dich ich hier seit Jahren berichte und mit anderen Interessierten teile.

Im Laufe der Zeit habe ich vor allem mein Wissen über Produkte und deren Qualitäten stetig erweitert und meine Sinne geschärft. Von einer Artischocke bis zum Zander habe ich es gelernt, Zutaten und deren Qualitäten einordnen und beurteilen zu können, eine gute Tomate von einer schlechten genauso unterscheiden zu können wie einen mittelmäßigen, überteuerten Steinbutt von einem günstigeren, aber großartigen. Diesen Erfahrungsschatz lasse ich in jeden meiner Berichte einfließen und beurteile alle Gerichte, die ich in meinem Blog vorstelle, auf dieser Grundlage. Hierbei entstehen spannende, oft leidenschaftliche Diskussionen hier im Blog und in den sozialen Netzen.

Um sich mit Spitzenprodukten auseinandersetzen zu können, muss man Spitzenrestaurants besuchen. Man nennt sie genau deshalb Spitzenrestaurants, weil sie mit großartigen Produkten und gewissenhaftem Küchenhandwerk herausragende Geschmackserlebnisse herstellen. Nicht, weil man irgendwo mit Silberbesteck unter Kronleuchtern speist. Die kreativsten und besten Restaurants der Welt faszinieren fast nie mit Hummer, Kaviar und klassischem Luxus, sondern mit einem enormen Reichtum an ‒ oft scheinbar simplen ‒ Produkten, die so grandios schmecken, dass man sie nie vergisst.

Auf meiner stetigen Suche nach Genuss besuche ich viele solcher Restaurants und lasse die Leser meines Blogs (und darüber hinaus) an meinen Erlebnissen teilhaben. Viele meiner Leser schreiben mir immer wieder, sie fühlten sich oft als seien sie „mit am Tisch dabei“ und würden meinen Ausführungen gerade deshalb gerne folgen. Das freut mich immer wieder. Denn gerade in Deutschland herrscht ‒ trotz einer medialen Übersättigung rund um das Thema Essen ‒ ein Vakuum hinsichtlich des Verständnisses für Genuss und Produktqualitäten. Es herrscht großer Aufklärungsbedarf an vielen Ecken und Enden. Immer wieder gebe ich in meinen Berichten Beispiele für gelungene oder weniger gelungene Gastronomie, für mäßige oder grandiose Gerichte, für Blendwerk oder Authentizität auf dem Teller.

Leider finde ich mich und meine Passion für Genuss in der Reportage des „Feinschmecker“ nicht wieder. Im Gegenteil. Von „Trophäen“ in Form von Gerichten ist dort die Rede, vom „Sternesammeln“ und Fressorgien mit angeblich „5000 Kalorien am Tag“. Dabei habe noch niemals Kalorien gezählt, viele meiner Essen sind sehr leicht. Als „Esszesse“ würde ich meine eigenen Reisen bezeichnen, tatsächlich habe ich dieses Wort noch nie verwendet, um meine Begeisterung für Genuss zu beschreiben. Auch der Titel der Reportage, „Foodaholics“, klingt so als sei die Begeisterung für Genuss und die fortwährende Suche nach Qualität eine therapierbare Sucht mit Krankheitswert.

Dass ausgerechnet ein Magazin, welches Genuss als Leitmotiv hat ‒ und dessen Redakteure selbst die Welt bereisen, um Spitzenrestaurants zu besuchen ‒, meine Essleidenschaft so unzutreffend einzuordnen weiß, ist befremdlich. Am Ende spiegelt es aber genau den Mangel an Verständnis gegenüber hochwertiger Küche und Genuss wieder, den ich in diesem Land immer wieder an den Pranger stelle. Quod erat demonstrandum.

Ernst ‒ Teller 30‒63

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Heute Abend bin ich zum zweiten Mal im Ernst, einem von an einer Hand abzählbaren Restaurants in Deutschland, die derzeit auch bei internationalen Essbegeisterten reges Interesse wecken. Das mag vor allem daran liegen, dass der kanadische Küchenchef, Mitinhaber und Mittzwanziger Dylan Watson-Brawn sehr viele Dinge anders macht als es das deutsche Gourmet-Publikum gewohnt ist.

Das beginnt beim Vorverkauf für die Plätze am Tresen, äußerst sich weiter in einem Kahlschlag von allem, was für grundlegenden Genuss entbehrlich ist und mündet in einem ‒ nicht „brutalen“, sondern konsequenten ‒ Fokus auf Qualität, Produkte, deren Zubereitung und Herkunft.

Während mir bei meinem ersten Besuch letzten Herbst zwar bereits die minimalistische Produktküche sehr gefiel, mir aber ein etwas ermüdendes Belehrungsprogramm beim Beschreiben der Gerichte ähnlich sauer aufstieß wie feinster „Naturwein“, ist das Erlebnis heute ein anderes. Man ist souveräner, das merke ich schon in den ersten Minuten. Und Souveränität ist ein weiteres Attribut, welches dieses Restaurant für Kosmopoliten interessanter macht als für Erbsenzähler.

Letztere könnte es bei einem Menüpreis von derzeit € 155 auch leicht die Sprache verschlagen. Da bekommt man woanders ja „Sterne-Menüs“, luxuriöses Ambiente und vom Service jeden Wunsch erfüllt ‒ anstatt einen Tresenplatz in kargem Ambiente mit Überraschungsmenü. Wer bei letzteren Dingen befremdet die Augenbrauen zusammenkneift, geht lieber nicht hierhin. Das Ernst ist ein Ort für Gäste, die, wie der junge Koch und sein Team, Qualitätszutaten an erste Stelle setzen, Genuss in Simplizität finden und Ästhetik in Schlichtheit suchen. Aber, Achtung, die Sterne kommen sicher noch. Und die Gerichte, die hier serviert werden, zählen für mich zu den schönsten weit und breit.

Das Menü an diesem Abend umfasst vierunddreißig dieser „Gänge“. Letztes Mal waren es neunundzwanzig, also beginnt der Abend mit meinem dreißigsten Gericht aus diesem Haus ‒ und das erst bei meinem zweiten Besuch.

Den Auftakt macht ein Teller mit puddingartigem Frischkäse in einem Erbsendashi, das deutlich aromatischer ist als ein ähnlich konzipierter Auftakt bei meinem ersten Besuch (7).

live_helpWussten Sie schon? Meine Bewertungsskala orientiert sich am kulinarischen Niveau der Michelin-Sterne. Lesen Sie hier, was die Noten genau bedeuten.

Danach gibt es Knabberspaß in Form von sechs gnadenlos frischen, saftigen Stücken Radieschen mit salziger Umepaste (7).

Es geht weiter mit einer hauchdünnen, knusprigen Tartelette aus Kartoffelteig mit hervorragenden Erbsen, Olivenöl und Deichkäse. Das Niveau ist schon jetzt sehr hoch. — 7,5

Gericht Nummer vier ist eine angenehm knusprige, von der Textur an gröbere Kartoffelchips erinnernde Schale von Topinambur. Diese ist mit einer Emulsion von Shiitakepilzen gefüllt und schmeckt leicht süßlich, etwas herzhaft, sehr fein. — 7

Postelein (Gewöhnliches Tellerkraut) ist begleitet von einem Apfelessig- Gelee und führt das Menü mit einer belebenden, wohlschmeckenden Frühlingsfrische fort, die man in diesen wenigen Kräutern gar nicht vermuten würde. Mehr Minimalismus auf diesem Niveau geht kaum. — 7

Als willkommener Kontrast sorgt dann Brioche, gebacken mit Mehl vom Chiemsee, geröstet in Nussbutter (dabei dennoch eine Nuance zu trocken) und serviert mit Ziegenkäse und Kräutern (Giersch, Tausendblatt und Wiesen-Kerbel), von denen man gerne noch mehr schmecken dürfte. Gut, aber in der Ausführung perfektionierbar. — 6,9

Eine von letztem Jahr „vergessene“ Frühlingszwiebel wurde für die nächste Kreation behutsam gegrillt und mit kleinen Tupfern Misopaste versehen. Diese verleiht dem zarten, saftigen Gemüse mit sehr wohlschmeckenden Röstaromen einen intensiven Umami-Akzent. — 7,5

Chawanmushi, hier nach einem Rezept aus Kyoto zubereitet, ist, wie bereits bei meinem letzten Besuch, auf Weltklasseniveau. Die herzhafte, warme Eierspeise ist dieses Mal kombiniert mit einer säuerlich-umami schmeckenden Ponzusauce mit belebenden Scheiben von Wasabistielen. Auf diesem Niveau ist ein solches Gericht in der westlichen Welt kaum anzutreffen. — 9

Einige sehr frische Blätter Spinat und eine Paste aus gerösteten Sonnenblumenkernen ergeben danach einen minimalistischen, würzig-frischen Fingersnack (7).

Hauchdünne, in Zitrone eingelegte Artischockenblätter in einem rauchigen Ponzu-Dashi kombinieren die geschmacklichen Welten Japans und des Mittelmeers auf beeindruckende Weise (8).

Die Artischockenherzen gibt es dann auch. Sie wurden ganz kurz gegrillt und mit einer Emulsion von Artischockenöl und Zitronenzesten betupft. Das Mittelmeer ist jetzt noch näher, ich bin gedanklich längst nicht mehr in Berlin-Wedding, sondern an der Côte d’Azur. — 7,5

Lauch, längs aufgeschnitten und gegrillt, ist mild-würzig und hat eine fast cremige Textur. Das schmeckt ähnlich wie die Frühlingszwiebel, ist aber hier noch puristischer. — 6,9

Ein Teller mit Charcuterie (ohne Foto, hier ein Link vom Restaurant: https://www.instagram.com/p/BixMpOnB7sk) bietet drei unterschiedliche Sorten Aufschnitt vom Mangalica-Schwein aus Österreich. Schinken von der Hüfte, Bauchspeck und Lomo, jeweils dünn aufgeschnitten und mit betörendem Schmelz am Gaumen. Absolute Ausnahmequalität. — 7,5

Speise Nummer vierzehn ist ein knackig frisches Ensemble von sizilianischen Cipollo-Zwiebeln mit Haselnussöl und einer Büffelmilch, die sich mit ihrem Fettgehalt als perfekter Geschmacksträger für den süßlich-herzhaften Geschmack der Zwiebeln entpuppt. Hervorragend. — 8

Chicorée in einem leichten Sud mit Nussbutter, Mayonnaise und Walnussöl ist sehr feinsinnig und mit weiterhin exzellenten Produkten umgesetzt, aber geschmacklich etwas unaufregend. — 6,9

Sehr beeindruckend ist dann wieder eine puristische Produktpräsentation. Es gibt Sashimi von einer Havel-Forelle, vier Tage gereift, mit etwas Sojasauce. „That’s it“, kommentiert Watson-Brawn mit seinem verschmitzten Nuschel-Englisch, sehr wohl um die überragende Qualität seines Produkts wissend. Die hauchdünnen Tranchen ‒ die Schnitttechnik ist gekonnt ‒ stellen einen Fisch zur Schau, dessen ganz außergewöhnlicher Geschmack eher an Wald und Wiesenkräuter erinnert als an etwas Maritimes. Außergewöhnlich gut. — 8

Beim nächsten Gericht elangen folgende Zubereitungen ins Spiel: ein wachsweiches, sechs Stunden bei 62 Grad gegartes Ei; eine milchige Flüssigkeit, die das Ergebnis einer Fermentation von Gerstengraupen mithilfe des Koji-Schimmelpilzes in Kombination mit Essig ist; und in Beurre monté pochierter Bärlauch. Das lauwarme Gericht ist leicht salzig, cremig und von beeindruckender Geschmackstiefe und Balance. — 7,5

Mit einem Tempura vom Hering demonstriert der Küchenchef abermals die handwerklichen Fähigkeiten, die er in Japan erlernt hat. Der in „Dinkelmehl aus der Nähe von München“ ausgebackene Fisch ist von einer hauchdünnen, krossen Hülle ummantelt, in der er heiß und saftig bleibt. Der Fisch wird lediglich mit einem Stück Zitrone serviert. Das ist meisterhaft umgesetzt und sehr wohlschmeckend. Von Japan einmal abgesehen serviert ein ähnliches Gericht (mit noch besserem Fisch und spannenderer Zitrusfrucht) auch gerade César Ramirez in seinem Chef’s Table at Brooklyn Fare (Bericht folgt). Wer kann, der kann eben. — 8

„Verkohlte“ Aubergine mit Wasabiblüten, angerichtet in einem wohlschmeckenden Niban Dashi, weist ausgeprägte, räucherige Grillaromen auf, bei denen die pikanten Wasabiblüten wie ein erfrischender Sommerregen wirken (7).

Danach gefällt der frische Geschmack von gebackenem Ricotta in einem Öl von gerösteten Zitronen (7).

Was die Weinauswahl betrifft, bin ich dieses Mal auch besser fündig geworden. Sommelier Christoph Geyler hat mich sicher durch das Minenfeld der von „Naturwein“ geprägten Karte manövriert. Der 2013er Chablis 1er Cru „Forêt“ von der Domaine François Raveneau (€ 183) bereitet genauso großen Trinkspaß wie der 2011er Blaufränkisch „Reihburg“ vom Weingut Uwe Schiefer (€ 82) aus dem Südburgenland in Österreich, der sich fast so elegant präsentiert wie ein Burgunder. Beide Weine sind fair bepreist, nah an ihrem aktuellen Marktwert.

Gewürfelte Kartoffeln der Sorte Linda wurden für Kreation Nummer einundzwanzig grenzwertig kurz gegart und befinden sich in einer üppigen, schaumigen Sauce von geräucherter Butter und Haselnussmilch. Die Butter und dünn gehobelter Périgord-Trüffel bewegen das Geschmacksbild in eine klassische Richtung. Der Gargrad der Kartoffeln und die Menge an Trüffeln wären vermutlich noch Stellschrauben für Optimierungspotenzial. — 6,9

Grünkohl, roh, mit 40-prozentiger Sahne und Grünkohl-Öl serviert schmeckt leicht süßlich und erinnert geschmacklich an Anis. Das ist ein ganz faszinierendes Geschmacksbild. — 7,5

Das folgende Gericht besteht aus einem Stück Forelle, das in Wasabiblättern gegart wurde. Die Blätter sind dabei so fragil wie der Fisch selbst und lassen sich mühelos zertrennen. Der zarte, dennoch heiße Fisch ist von herausragender Referenzqualität. Ein mit geräuchertem Fisch hergestellter Dashi fügt geschmackliche Tiefe in Form von Umami hinzu. Dieses Gericht ist komplett in Balance, verwendet außergewöhnliche Zutaten und lässt mich genussvoll die Augen schließen. Ich sehe kristallklare Bäche unter sommerlichem Schattenwurf von Bäumen; vermisse die Straßen von Kyoto und bin etwas aufgewühlt. Grandios und bewegend. — 10

Dicke Bohnen und Erbsen in einer Velouté ihrer Schalen ist ebenfalls hervorragend und bietet wohldosiertes Salz und ätherische Frische. — 7,9

Sechs Wochen trockengereifter Schweinebauch, erneut vom Mangalica-Schwein, wurde in einem aufwändigen Prozess, der unter anderem das Einreiben des Fleischs mit Bier vorsieht, zu einem Qualitätserlebnis allererster Güte verarbeitet. Das Fleisch ist äußerst zart und saftig, sehr aromatisch, dabei fast luftig leicht. Das Fett schmilzt im Mund wie Zuckerwatte. Eine knusprige, aber kaum kaubedürftige Kruste steigert dabei den Spaß am Gaumen. In Koji-Essig eingelegter Liebstöckel sowie selbiger Essig bringen dann noch ganz leichte, aber sehr genussfördernde Säureakzente mit und verwandeln diese kleine Speise in ein vollwertiges, ausgeklügeltes Gericht auf Weltklasseniveau. — 9

Geräucherte Blutorangen aus Sizilien mit Wacholder stellen ein weiteres phänomenales Produkt zur Schau. Ich kann mich nicht daran erinnern, in Deutschland so bewusst eine Zitrusfrucht dieser Güte probiert zu haben. Diese hier ist süß und leicht säuerlich, der Wacholder bringt eine geheimnisvolle Note mit. Großartig. — 8,9

Die siebenundzwanzigste Kreation ist eine Tranche vom Lammfilet, gewürzt mit Wildkräutersalz, einigen Trüffelscheiben und einem „Dressing“ mit Lammfett. Letzteres gleicht überwiegend aus, was dem Filet naturgemäß fehlt und lässt das herausragende Produkt in glänzendem Licht erstrahlen. Als Filetstück hat das Referenzqualität. — 7,5

Ein Wildkräutersalat mit einem verdünnten Kombu-Dashi schmeckt als hätte man seine Hand einmal durch einen überfrischen Kräutergarten gestreift und würde dann daran schnuppern. Begeisternde Simplizität. — 8

Eine Infusion aus Zitrusschalen und Thymian sowie, danach, ein Granité von gerösteter Zitrone mit sehr ausgewogener Säure und einer ansprechenden Textur durch flache und breite Eiskristalle (7) beruhigen die Geschmacksnerven, bevor das Menü mit einigen Desserts ausklingt.

Büffelmilch mit Navelorangen und in Nussbutter gerösteten Briochekrumen spielen genauso gekonnt mit einem Übergang zwischen Salzigkeit und Süße (7,5) wie das dann folgende, cremige Eis aus Erbsenschalen mit Wasserminze und Olivenöl. Das klingt forciert, schmeckt aber überraschend klassisch, weil keine Säure im Spiel ist (8). Beides exzellente, kreative, aber nicht verkopfte Desserts.

Noch besser ist in Schnaps eingelegte Himbeere als Frucht und Marmelade, serviert mit einer nur leicht aufgeschlagenen Sahne mit Kirschblütensalz. Das klassische Geschmacksbild „Beeren mit Sahne“ wird hier geschmacklich und qualitativ auf höchstes Niveau gehievt. Das Dessert schmeckt wie eine süße, fruchtige Wolke. — 8,9

Als letzten Gang gibt es Blutorange, die gleiche sizilianische Sorte wie bereits acht Gerichte zuvor, hier in Form eines perfektionierten Sorbets. Es schmeckt intensiv nach der aromatischen, süßen Frucht, ein Hauch Salzigkeit sorgt für einen geschickten Akzent (8). Das exzellente Niveau halten auch Pralinen mit Kaki und Karamell (8), die man eigentlich auch als fünfunddreißigsten Gang betrachten könnte.

Doch von „Gängen“ spricht hier eigentlich niemand. Dylan Watson-Brawn und sein passioniertes Team schaffen für ihre Gäste in erster Linie eine Möglichkeit, die Güte und den damit verbundenen Wohlgeschmack von einer Vielzahl ganz unterschiedlicher Zutaten kennen zu lernen. Die kleinen Portionen sind dafür ideal geeignet. Und so puristisch die Teller auch sind, darf man sich nicht täuschen lassen: ganz unverarbeitet kommt hier fast nichts auf den Teller. Fermentieren, Räuchern, Braten, Dämpfen, Marinieren, Grillen, Backen … Den meisten Ingredienzen widerfährt eine aufwändige Vorarbeit, ganz abgesehen von der gewissenhaften Beschaffung der Zutaten bei sehr ausgewählten Erzeugern. Das Ergebnis auf dem Teller, das oft nicht mehr als aus zwei Komponenten besteht, rechtfertigt durchaus eine Betrachtung als jeweils eigenständiges, vollwertiges Gericht. Spätestens wenn Watson-Brawns Speisen auch nur einen Hauch komplexer werden, wird das nicht selten großartig.

Deutschland hat eine derart aufs Produkt fokussierte Spitzenküche ‒ denn nichts anderes ist das hier ‒ bitter nötig. Mit einem sehr souverän und fokussiert arbeitenden Team war auch das gastronomische Erlebnis heute Abend erfrischend angenehm. Letztes Mal wünschte ich mir etwas „weniger Berlin“ im Restaurant; heute Abend wehte ein kosmopolitischer Wind durch den Laden, dass ich glatt vergessen habe, nicht mit dem Flugzeug angereist zu sein.

Spätestens auf der Straße wird man dann aus dieser Illusion gerissen. Das Taxi benötigt gute zwanzig Minuten für die Anfahrt, und von bargeldloser Zahlung hat der Fahrer auch noch nichts gehört. Willkommen in Berlin des 21. Jahrhunderts.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Ernst (→ Website)
Chef de Cuisine: Dylan Watson-Brawn
Ort: Berlin, Deutschland
Datum dieses Besuchs: 21.04.2018
Guide Michelin (D 2018): noch nicht bewertet
Meine Bewertung dieses Essens (?): 7,5 (Was bedeutet das?)
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Tourniert: New York City

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Meine Begeisterung für den Big Apple wird niemals verblassen. Die Klinkerbauten mit Feuerleitern in Soho, die Hotel-Lobby im The Mercer, die Lichter bei Nacht, die schattigen Straßenschluchten, der schnelle Puls der Stadt.

Doch nicht nur das begeistert mich. Als qualitätssuchender Genussmensch wird man in New York so schnell fündig wie bei der Suche nach einem Taxi. Das Vorhandensein unzähliger Fast-Food-Ketten und Starbucks-Filialen widerlegt nicht, dass die Möglichkeiten, an gute Nahrung und spannende Gastronomie zu gelangen, mindestens genauso zahlreich sind.

Nur knapp vier Monate nach meinem letzten Besuch dort im Herbst führt es mich also wieder über den Atlantik.

Und um auf den mit Sicherheit täglich mehrfach aufkommenden Appetit zielsicher reagieren zu können, habe ich natürlich auch dieses Mal keine Lücke in meiner kulinarischen Agenda gelassen. Über einige Restaurants dieser Reise habe ich schon ausführlich berichtet. Weitere Restaurants ‒ nicht minder berichtenswert ‒ folgen in dieser Ausgabe von „Tourniert“. Es sind alte Bekannte dabei.

Inhalt

Chef’s Table at Brooklyn Fare
Graziella’s
Empellón (Midtown)
Le Bernardin
L’Atelier de Joël Robuchon


Chef’s Table at Brooklyn Fare

Es ist längst kein Geheimnis mehr, dass das Chef’s Table at Brooklyn Fare für mich eine Superlative unter den Spitzenrestaurants darstellt. Küchenchef César Ramirez bedient sich bei seinen Zutaten dauerhaft und ausnahmslos ‒ bei jedem Gericht, bei jedem Besuch ‒ vom obersten Regal der Qualitätsschubladen. Seine französisch-japanisch fundierten Gerichte sind dabei stets unglaublich wohlschmeckend, leicht zugänglich und vermögen es sogar, emotional gefestigte Esser aufzuwühlen. Die inzwischen deutlich entspanntere Atmosphäre in den neuen Räumlichkeiten in Manhattan, wahlweise am Tresen oder am Tisch, sucht ebenfalls ihresgleichen.

Vor ein paar Stunden erst bin ich an diesem Samstagabend in New York gelandet, und mein erster Restaurantbesuch führt mich gleich hierhin, hinein in den Supermarkt Brooklyn Fare in der 37. Straße

Der konzentrierte, aber bestens gelaunte Ramirez beginnt sein Menü mit einem Klassiker, einem buttrigen Toast mit makellosem, allerfeinstem Hokkaido-Seeigel und eingelegtem Périgord-Trüffel. Während man den Mund voller Umami und Jod, etwas knuspriger und viel cremiger Textur hat, schüttet das Hirn so viel Dopamin, Serotonin und Noradrenalin aus, dass man eigentlich schnell wirkende Antidepressiva bräuchte, um davon wieder runterzukommen. Aber wer will das schon? — 10

Und dann ist man auch schon machtlos gegen die hypnotisierende Küche aus den Händen des mexikanischen Überkochs. Toro-Tartar mit sensationellem Thunfischbauch, geräuchert über japanischer Holzkohle, kombiniert mit einer Gurken-Brunoise, Aubergine, einem Dashi-Gelee und sehr viel Kaviar (Kaluga Queen) entlocken mir, fast schon zweifelnd an diesem Genussniveau, eine Träne (10), bevor ich bei einer einfachen Sardine aus der Bucht von Tokio, als meisterhaftes, hauchdünnes Tempura zubereitet und nur mit einer Scheibe Zitrusfrucht aufgetischt, wirklich innehalten muss, um nicht gleich entrüstet auf den Tisch zu hauen, dass das ja eigentlich alles gar nicht mit rechten Dingen zugehen kann (10).

Es geht so weiter. Ein Gericht mit gezupfter Königskrabbe mit Dill und Gurkenblüte ist voller atemberaubender Frische und Qualität (10). Laternenbauch (ein barschverwandter Fisch, japanisch Akamutsu), knusprig gebraten und mit einem phänomenalen, herzhaften Jus serviert, kommt mit edelstem Koshihikari-Reis aus Japan, perfekt gegart und mit hineingeschnippelter Abalone für noch mehr Geschmackstiefe (10).

Kaisergranat aus Schottland ist fast schon unnatürlich perfekt und wird einem süffigen Allerlei mit Blumenkohl serviert (10). China Girl von David Bowie tönt dazu in angenehmer Lautstärke im Hintergrund. Danach gibt es Kabeljau aus Kanada, von erneut atemberaubender Qualität, serviert mit weißen Spargelspitzen, phänomenalen Morcheln und einem hervorragenden Rahmjus (10). Mir ist schon kalt vor lauter Gänsehautmomenten.

Es gibt noch Wachtel ‒ zart, saftig, aromatisch ‒ mit einer der besten Saucen, die ich je gekostet habe (10), danach Miyazaki-Rind der höchsten Qualitätsstufe mit Gemeinem Klapperschwamm, einem Speisepilz aus Japan, der umwerfende Röstaromen mit ins Spiel bringt, schlicht unglaublich (10).

So ähnlich geht das auch mit den Desserts weiter. Cremiges Birnensorbet mit Sake-Gelee (10) scheint genauso aus dem Schlaraffenland angeliefert worden zu sein wie die himmlischen Walderdbeeren mit Yoghurteis (10).

Lediglich ein Schokoladeneis-Soufflé mit einer angenehm luftigen Textur, exzellentem Schokoladengeschmack, aber einem etwas wässrigen Gesamteindruck (7) macht mir zum ersten Mal deutlich, dass auch in dieser Parallelwelt hinter der Tür im Supermarkt nicht alles perfekt ist. Aber fast alles. César Ramirez ist eben auch nur ein Mensch. Morgen gehe ich mit ihm Pizza essen.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Chef’s Table at Brooklyn Fare (→ Website)
Chef de Cuisine: César Ramirez
Ort: New York City, USA
Datum dieses Besuchs: 03.03.2018
Guide Michelin (NYC 2018): ***
Meine Bewertung dieses Essens (?): 10 (Was bedeutet das?)
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Graziella’s

Eine unprätentiöse Pizzeria im Viertel Fort Greene in Brooklyn bietet ein einfaches, uriges Ambiente, einen gemauerten Steinofen und italienische Inhaber.

Das Ergebnis ist besser als fast alles, das man in Deutschland vorgesetzt bekommt, wenn man Pizza bestellt. Dünner, leicht knuspriger Teig auf der Basis von italienischem Mehl, frische Zutaten und gutes Olivenöl zum „Nachwürzen“ stillen den Appetit nach Herzhaftem.

Es gibt an diesem Abend Pizza Margherita, Pizza Speck & Burrata mit Prosciutto, Burrata und Tomaten, Pizza Luigi mit Taggiasca-Oliven, Paprika und Sardellen, Pizza Inferno mit Capicola-Salami, Jalapeños und Pimientos und Pizza mit Rucola und Parmesan (alle ca. € 21). Eine ist so gut wie die andere. Auch ein Tiramisu ist makellos zubereitet.

Dazu gab es ‒ „bring your own“ ‒ eine Magnum-Flasche Krug Champagner und einen 1971er Barolo von Fratelli Oddero. Manchmal muss es gar nicht mehr sein.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Graziella’s (→ Website)
Chef de Cuisine: Vito Randazzo
Ort: New York City, USA
Datum dieses Besuchs: 04.03.2018
Guide Michelin (NYC 2018):
Meine Bewertung dieses Essens (?): 6,5 (Was bedeutet das?)
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Empellón (Midtown)

Ein kurzer, leichter Lunch mit Ceviche & Co. ist der Plan, doch ich befürchte, daraus wird nichts. In diesem Restaurant spricht alles dagegen, es schnell wieder zu verlassen.

Schon das spektakuläre Interieur über zwei Ebenen bietet fürs Auge so viele Details, dass die Eindrücke fast als Vorspeise reichen. Inhaber und ‒ eigentlich Patissier ‒ Küchenchef Alex Stupak betreibt in Manhattan drei Filialen dieses mexikanischen Restaurants, jeweils mit unterschiedlicher Ausrichtung. Das Geschäft scheint, trotz mäßig besetzter Tische an diesem Mittag, gut zu laufen. Allein der Innenausbau dürfte einen siebenstelligen Betrag verschlungen haben.

Apropos verschlingen: die Guacamole zu Beginn ist mit frischen, reifen Avocados zubereitet und wird mit guten, hauchgemachten Nachos serviert (ca. € 18). Dazu gibt es sieben sehr gut zubereitete Saucen mit unterschiedlichen Geschmacksrichtungen und Schärfegraden, die auch nach diesem Gericht am Tisch verweilen. Das ist sogar noch etwas besser als man es sich von so einem einfachen Snack wünscht. — 6,5

Ein Teller Nachos mit gezupftem Taschenkrebsfleisch, Jalapeño-Scheiben und Seeigelzungen (ca. € 26) leidet zwar etwas unter seiner Schwere ‒ davon könnten vier Personen satt werden ‒, doch die verwendeten Produkte sind alle erfreulich hochwertig und demonstrieren mal wieder das allgemein hohe Niveau an Zutaten, das man in New York so oft antrifft. — 6,5

Ein Taco mit sehr zartem, saftigem Pastrami, Weißkohl und „Senfkörner-Salsa“ (ca. € 19) muss dann auch noch irgendwie passen (6,9), aber beim Chicharrón in Form von frittiertem Schweinebauch, serviert in ebenfalls frittierten Schweinechips und mit einigen Kräutern und Gemüsen habe ich dann den Mund etwas zu voll genommen. Dennoch gut! — 6,5

Die Desserts sollen hier übrigens spektakulär sein. Wer’s schafft …

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Empellón (→ Website)
Chef de Cuisine: Colin King
Ort: New York City, USA
Datum dieses Besuchs: 04.03.2018
Guide Michelin (NYC 2018): Empfehlung
Meine Bewertung dieses Essens (?): 6,5 (Was bedeutet das?)
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Le Bernardin

Für mich wäre eine New-York-Reise ohne einen Besuch im Le Bernardin unvollständig. Vor allem zum Mittag bietet es sich an, in den angenehm klimatisierten Räumlichkeiten die geschäftige Außenwelt für einen Augenblick des Genusses zu vergessen.

Das Restaurant von Eric Ripert ist nicht nur ein verlässlicher Ort für eine sehr feine, auf Fisch und Gemüse fokussierte Küche auf höchstem Niveau, sondern dazu noch angenehm unkompliziert. Zwar gilt jacket required for gentlemen, aber das war es dann auch schon mit irgendwelchen Vorschriften. Auch das Preisniveau ist überschaubar und für die gebotenen Qualitäten fast schon ein Schnäppchen (drei Gänge zum Lunch kosten ca. € 77, einzelne kleinere Gänge jeweils um € 23).

Ich probiere mich ein wenig durch die umfangreiche Karte. Thunfisch von hervorragender Qualität wird als kreisrund angerichtetes Carpaccio serviert, darauf kleine Portionen „Chutney“ von Iberico-Schinken, Schnittlauch, Queller und exzellentes Olivenöl. Hochgenuss benötigt nicht viel mehr. — 8,5

Auch Lachs, serviert als Sashimi und getoppt mit eingelegten Frühlingszwiebeln, Gurkenblüten und Arganöl begeistert mit fantastischer Produktqualität und einem Geschmacksbild, das Frische, Säure und „Schmelz“ genussvoll kombiniert. — 8,5

Grandios ist danach ein Gericht mit Artischocke in Form von dünn aufgeschnittenen Scheiben des Herzens, serviert mit einer Vinaigrette und schwarzem Trüffel von verblüffender Frische. Etwas Friséesalat obenauf ist ebenfalls perfekt abgeschmeckt und unterstreicht in Summe die für jeden Genießer gar nicht zur Debatte stehende Tatsache, dass Gemüse allein größtmöglichen Genuss bieten können. — 9

Das nächste Gericht beinhaltet scharf angebratene Stücke Tintenfisch, von denen einige mit einer leicht pikanten Farce aus Krebsfleisch gefüllt sind. Eine Brühe von geräucherten Tomaten unterstreicht die betörenden Grillaromen des Tintenfischs und fügt dem sommerlichen Gericht eine wohlschmeckende, absolut hinreißende Geschmackstiefe hinzu. Unvergesslich! — 10

Ein Dessert in Form eines Apfels besteht unter anderem aus Nussbutter-Mousse, Apfelkompott und einer wunderbar abgeschmeckten Armagnac-Sabayon, Honig ist auch noch im Spiel. Es ist ein perfektes, fruchtig-süßes Dessert, das mir so viel Genuss bereitet wie es Desserts sonst selten tun. — 9

Meinen Plan, hier einmal zum Mittag- und Abendessen an ein und demselben Tag einzukehren, habe ich zwar noch immer nicht umgesetzt, aber der Tag wird kommen.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Le Bernardin (→ Website)
Chef de Cuisine: Eric Ripert
Ort: New York City, USA
Datum dieses Besuchs: 06.03.2018
Guide Michelin (NYC 2018): ***
Meine Bewertung dieses Essens (?): 9 (Was bedeutet das?)
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L’Atelier de Joël Robuchon

Sechs Jahre, nachdem der globetrottende Über-Gastronom seine Pforten im Hotel Four Seasons geschlossen hatte, ist Joël Robuchon mit einem neuen Atelier nach New York zurückgekehrt. Es befindet sich im Meatpacking District neben dem Chelsea Market und bietet alle bewährten Merkmale seines legendären Konzepts.

Ich wähle in den Ateliers fast immer verschiedene Gerichte aus dem Abschnitt mit den Probierportionen, selten einen Hauptgang à la carte, nie ein Menü.

Auch heute beginne ich mit einem Klassiker, Dorade als Carpaccio, mediterran-frisch mit Zitronendressing, Piment d’Espelette und etwas Kaviar (ca. € 31). Das Gericht hatte ich zuletzt im Atelier in Shanghai im Januar, daher ist meine Erinnerung daran noch sehr frisch und erlaubt mir die Feststellung, dass das Dressing hier in New York etwas cremiger ist und der Gang dadurch eine Nuance an Leichtigkeit einbüßt. Dennoch exzellent. — 7,9

Wolfsbarsch (ca. € 34) von hervorragender Qualität, als Filet gebraten, kommt mit einer leicht aufgeschäumten Zitronengras-Beurre-blanc und in Kurkuma gebratenem Lauch (8). Auf noch höherem Niveau ist ein weiterer Klassiker der Ateliers: mit Lorbeer gebratener Kalbsbries (ca. € 38), serviert mit einem mit geschmorten Zwiebeln und geräucherten Schinkenwürfeln gefülltes Römersalatblatt (8,9).

Auch zwei Mini-Burger (€ 38) mit Pommes frites sind so gut wie in allen Ateliers und bieten üppigen, saftigen Fleisch- und Foie-Gras-Genuss sowie auffällig aromatische Paprika. — 8

New York hat damit sein Atelier zurück. Vermisst habe ich es in dieser Stadt mit ihren unzähligen gastronomischen Optionen allerdings nicht. Vor allem das preisliche Niveau ist auffällig hoch und liegt deutlich über den Preisen anderer Ateliers ‒ für dieselben Gerichte. Und die A-la-carte-Hauptgänge im knapp zwei- bis oft dreistelligen Bereich sind selbst für New York eine Ansage. Der Sterneregen wird jedoch sicher auch auf dieses Atelier niederprasseln, ganz zu Recht.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: L’Atelier de Joël Robuchon (→ Website)
Chef de Cuisine: Christophe Bellanca
Ort: New York City, USA
Datum dieses Besuchs: 06.03.2018
Guide Michelin (NYC 2018): noch nicht bewertet
Meine Bewertung dieses Essens (?): 8 (Was bedeutet das?)
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Jean Sulpice ‒ zwischen Gipfeln

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Die Gebirgsküche der Savoyer Alpen hat einen ganz eigenen Charakter. Geprägt durch aromatische Kräuter, exzellente Speisefische und Krustentiere aus den Gebirgsseen und Flüssen sowie viele weitere Spezialitäten, ist die Küche dieser Region sehr eigenständig und wiedererkennbar.

Seit jeher findet man hier ‒ und weiter landeinwärts bis in die Auvergne hinein ‒ einige der besten Restaurants Frankreichs. Wer erinnert sich nicht an den Schlapphut tragenden, Kräuter sammelnden Marc Veyrat, der in der Haute-Savoie gleich zwei Restaurants mit jeweils drei Michelin-Sternen und zwanzig Gault-Millau-Punkten führte? Ich habe seine Restaurants damals leider nie besucht, werde das aber mit seinem neuen Restaurant, das inzwischen ebenfalls dreifach besternt ist, nachholen.

Eines der weiteren berühmten Häuser dieser kulinarisch reichen Region ist die Auberge du Père Bise in Talloires. Das Haus wurde Anfang des 20. Jahrhunderts von der Gastronomen-Familie Bise eröffnet; in den 1950er Jahren erhielt Tochter Marguerite für ihre Küche ‒ als bis dato erst dritte Frau ‒ drei Michelin-Sterne. In den 70ern führte Marguerites Sohn François die Küche weiter und hielt diese höchste Auszeichnung noch ein gutes Jahrzehnt.

Danach dünnt die recherchierbare Historie etwas aus. Zuletzt war Sophie Bise, Enkelin von Marguerite, Eigentümerin und Küchenchefin; Ende 2016 begann schließlich ein neues Zeitalter in dem traditionsreichen Haus. Küchenchef Jean Sulpice, ehemals Veyrat-Schüler und Inhaber eines in 2 300 Metern Höhe geführten Zwei-Sterne-Restaurants in Val Thorens, übernahm das Haus zusammen mit seiner Frau Magali. Als „Lebensprojekt“ bezeichnen sie das.

Das Lebensprojekt ist an einem traumhaften Ort gelegen. Zum Empfang gibt es keinen langweiligen Check-in an der Rezeption, sondern ein Glas Champagner auf der angenehm luftigen Terrasse mit atemberaubender Kulisse. Umzingelt von hohen Bergen, funkelt vor einem der Lac d’Annecy. Ein markantes Terroir, bei dem die süßen Früchte nicht an jedem Baum hängen.

Im Restaurant herrscht nahezu ununterbrochener Hochbetrieb. Zwischen dem Mittagessen auf der Terrasse, für das Gäste schon am Vormittag an- und erst am späten Nachmittag wieder abreisen, bis zum Beginn des Abendessens bleiben dem Serviceteam nur wenige Stunden Pause, um alles so aussehen zu lassen als wäre nichts passiert. Küchenchef Jean Sulpice ist immer zugegen, man sieht ihn von früh morgens bis spät in die Nacht.

Endlich Abend ‒ ich bin ein Freund der Dämmerung ‒, nehme ich im Restaurant Platz. Es ist gegen 20 Uhr noch leer, innerhalb der nächsten 45 Minuten jedoch bis auf den letzten Platz besetzt. Das stilsicher eingerichtete Interieur bietet geschmackvolle Farbakzente, die sich in edlem Bernardaud-Geschirr wiederfinden, runde Tische mit weißem Tischtuch und einen postkartenreifen Ausblick auf die Terrasse, den See, die Berge und einen unwirklichen Sonnenuntergang.

Die Entscheidung zwischen den Speisen à la carte (ca. € 50‒80) und einem Menü fällt mir in diesem Fall nicht allzu schwer, da das Menü „Horizon“ (€ 210) nahezu alle Speisen beinhaltet, die mich ohnehin besonders ansprechen.

Es gibt erste Snacks. Ein Röllchen aus Lauch mit einer Hülle aus Passionsfrucht hat einen gehaltvollen, sehr feinen Geschmack (8,5); eine Kreation mit karamellisierter Foie Gras, Granny Smith und Felchen ‒ einer der bekannten regionalen Fische ‒ ist ebenso hervorragend, mit jeweils sehr differenziert wahrnehmbaren Zutaten (8,5).

Ein Buchweizencracker mit Kräutern duftet so intensiv als würde man seine Nase in ein Kräuterbeet stecken und schmeckt wunderbar frisch (8,5); ein Stück Radieschen mit Kaffee und Sesam ist ebenfalls eine ganz glorreiche Idee (8). Die letzte Kleinigkeit ist ein zartes, kühles Roastbeef-Röllchen vom Montbéliard-Rind mit Kräutern, das hervorragende Produktqualität zur Schau stellt (8). In Summe ein sehr feinsinniger Auftakt.

Als Amuse-Bouche gibt es eine in einer Eierschale servierte Kreation. Diese Präsentationsform steht so gut wie immer für warme, süffige Speisen mit hohem Genussfaktor. So auch hier. Eine mit Ei aufgeschlagene, schaumige Sauce mit viel gutem Safran ist an sich schon großartig, kleine aromatische Flusskrebse darin verfeinern diese perfekte, klassische Speise. — 9

Die Farbe Grün beschreibt dann maßgeblich die Farbgebung des ersten Menügangs. Es gibt mit Kräutern zubereitete Polenta-Gnocchi, diverse Kräuter, noch mehr Kräuter und Forellenkaviar. Auch diesem Gericht entströmt ein einnehmendes Aromabouquet, fast wie ein Kräuterbad. Am Gaumen entpuppt sich die farbliche Monotonie als ein höchst abwechslungsreiches Vergnügen. Pikant, frisch, pfeffrig, salzig, ätherisch und leicht, manchmal ein wenig an Radieschen erinnernd, aber dennoch mit Substanz durch die Grießklößchen, ergeben ein lebendiges und geschmacklich farbenfrohes Gericht. — 8,9

Es folgt Seesaibling (omble chevalier), ein weiterer für diese Region charakteristischer Fisch. Zwei kleine, auf Holzzweigen angerichtete, nur ganz leicht gedämpfte Filetstücke, werden von einem heißen Stein, der sich direkt darunter befindet, behutsam nachgegart, während eine mit Kiefer aromatisierte Butter langsam über dem Fisch schmilzt. Die Produktqualität des Saiblings ist beispielhaft, doch in Summe ist das Geschmacksbild eher neutral, auch der innen noch kalte Fisch irritiert zunächst ein wenig. Sehr gut, vor allem qualitativ, aber nicht mehr. — 7

live_helpWussten Sie schon? Meine Bewertungsskala orientiert sich am kulinarischen Niveau der Michelin-Sterne. Lesen Sie hier, was die Noten genau bedeuten.

Die grün-weiß-gelbe Farbpalette des Menüs wird auch beim nächsten Gang eingehalten. Hecht findet man sowohl in Form eines kloßähnlichen Röllchens (wie quenelle de brochet) als auch leicht pochiert auf dem Teller. Dazu gibt es eine aromatisch komplexe Bärlauchsauce, die geschmacklich auch etwas an Erbsen und Minze erinnert. Eine Morchel aus dem Ort und eine schaumig-cremige Sauce sorgen für klassische Vollmundigkeit, Bärlauchblüten kontrastieren das Ganze mit punktueller Schärfe und ätherischen Aromen. Leicht, vielfältig, hervorragend. — 8

Es geht weiter mit Flusskrebsen, verschiedenen gedünsteten Gemüsen und frisch gezupfter Zitronenmelisse. Dazu gibt es eine Sauce auf der Basis von klassischem Krustentierjus und Kräuteröl. Trotz der qualitativ makellosen, an Kaisergranat erinnernden Krebse, sorgt vor allem die viele Melisse für einen etwas „dumpfen“ und monotonen Eindruck am Gaumen. Qualitativ überzeugend, geschmacklich etwas weniger. — 7

Beim Hauptgang fiel meine Wahl auf Kalbsbries (die andere Option des Menüs wäre ein Gericht mit Lamm gewesen). Das Bries ist hervorragend gebraten, außen knusprig, innen zart und ‒ das ist wichtig ‒ schön heiß. Dazu gibt es Karotten, tourniert und glasiert sowie als Püree, und einen mit regionalem, roten Bier akzentuierten Kalbsjus, der eine leichte Säure beisteuert aber von etwas mehr Bindung profitieren würde. Dennoch schmeckt das alles exzellent und präsentiert eine makellose Hauptzutat in optimalem Licht. — 8

Dazu passt auch der 2009er Vosne-Romanée von der Domaine Méo-Camuzet (€ 190) von der recht kompakten und sehr üppig kalkulierten Weinkarte.

Eine Auswahl vom Käsewagen sollte man sich hier keinesfalls entgehen lassen, schließlich stammen alle Sorten aus der Region. Tomme de Savoie, Comté, Saint-Nectaire und weitere sind alle sehr gut.

Als erstes Dessert gibt es einen choux pâtissier, also eine Art Windbeutel, gefüllt mit einer mit Echtem Mädesüß aromatisierten Sahnecreme. Etwas massig, aber handwerklich einwandfrei. — 7

Auch ein Schokoladendessert in Form von kleinen, mit Cremes gefüllten Schiffchen ‒ Blaubeere ist auch im Spiel ‒, verzichtet abschließend nicht noch einmal auf die Gelegenheit, ein bestimmtes Kraut vorzustellen, hier Beifuß. Das sorgt für ein ätherisches Aroma und passt gut zur Schokolade. Interessant, aber kein Meisterwerk. — 7

Zum Abschluss  ich sitze mittlerweile im Bereich der Bar folgt noch eine Schokoladensphäre, die mit der regionalen Kräuterspirituose Chartreuse flambiert wird und ein Brombeersorbet zum Vorschein bringt. Das schmeckt ähnlich wie das Dessert davor, sehr gut, aber nicht mehr. — 7

Damit endet ein Menü, welches unverkennbar das Terroir der Haute-Savoie reflektiert, kulinarisch aber nicht ganz so viele Gipfel erstürmt hat. Dessen ungeachtet ist die Auberge du Père Bise ein traumhafter Ort, der zweifellos eine Antwort auf die Frage ist, wohin man die nächste Wochenend-Eskapade planen könnte. Ich habe jede der 48 Stunden vor Ort genossen, auch diese drei.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Jean Sulpice (→ Website)
Chef de Cuisine: Jean Sulpice
Ort: Talloires, Frankreich
Datum dieses Besuchs: 28.04.2018
Guide Michelin (F 2018): **
Meine Bewertung dieses Essens (?): 7,9 (Was bedeutet das?)
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Lameloise ‒ typisch Burgund

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Vor fast fünfzehn Jahren brach ich mit einem meiner besten Freunde in Richtung Burgund auf. Wir suchten ‒ vergeblich ‒ nach dem großen Schloss der Domaine de la Romanée-Conti, verwechselten bei Terminen zu Weinproben die Domaine Mugneret-Gibourg mit Mongeard-Mugneret und wechselten alle paar Tage das Hotel, weil wir uns auf diese Weise die Côte d’Or von Süden nach Norden hochschlängelten und ich bei meiner Planung (ohne Google Maps) dachte, dass die Distanzen viel größer seien. Wir lebten aus dem Koffer, von einem Relais & Châteaux zum nächsten, tranken guten Burgunder und schlemmten uns ein paar Tage durch die Region. Meine Erinnerungen sind jedoch lückenhaft; die wenigen analogen Fotos aus der Zeit offenbaren vor allem einen fürchterlichen Nadelstreifenanzug von mir und kein einziges Foto vom Essen. Dabei ließen wir es uns in vielen großartigen Restaurants gutgehen. Unter anderem auch im Lameloise in Chagny.

Es war eines meiner ersten Drei-Sterne-Erlebnisse, und ich erinnere mich noch immer an eines der bis heute besten Schokoladendesserts, die ich je probiert habe, ein quaderförmiger Riegel mit hauchdünnem Knuspergebäck als Trennelement zwischen Haselnusscreme und feinster Schokoladenganache, dessen Gefühl am Gaumen und Geschmack ich noch heute, nach all der Zeit, genau abrufen kann. Ich erinnere mich ebenfalls noch an das Gericht mit Taube, sehr rosa gebraten und mit einer Sauce mit sehr vielen Trüffelwürfeln übergossen.

Nach der Reise erkrankte ich unangenehm, ein meldepflichtiger Keim namens Campylobacter jejuni, der oft in nicht ausreichend durchgegartem Geflügel vorzufinden ist, begründet bis heute mein Tauben-Trauma.

Als ich vor kurzem das Burgund wiederbesuchte, war es dennoch klar, dass ich ins Lameloise zurückkehren musste. Ausgestattet bin ich dieses Mal mit einem erheblich größeren Erfahrungsschatz, einem Smartphone mit Kamera, und meine Anzüge sitzen inzwischen auch besser. Taube bestelle ich heute trotzdem nicht.

Unser Tisch ‒ wir sind zu viert ‒ befindet sich etwas abseits des Hauptspeisesaals in einem fensterlosen, sakral anmutenden Raum. Eine schöne Aussicht nach draußen ist in dem verwinkelten Haus zwar grundsätzlich nicht das Leitmotiv, aber wer hier reserviert, sollte diese Situation vor Augen haben.

Während ich in der Speisekarte blättere, die man wegen ihres übergroßen Formats nirgends ablegen kann, gibt es erste Amuse-Bouches. Die Karte auf dem Schoß, die Beine leicht angehoben, damit die Karte nicht runterrutscht, probiere ich einen Lolli mit Foie Gras, Kakaobutter und Passionsfruchtmarmelade, der leicht knusprig und geschmacklich mehr als hervorragend ist (8,5). Ein Marshmallow von grünem Spargel wäre bei meinem Besuch vor über zehn Jahren kaum denkbar gewesen, heute überzeugt die winzige Speise, die mit konfiertem Eigelb, Olive und Orange kombiniert ist, durch ein intensives Spargelaroma (8).

Ein als „Toast“ bezeichneter Snack besteht aus zwei millimeterdünnen Scheiben knusprigen Brots, zwischen denen die regionale Spezialität Judru (eine mit Schnaps hergestellte Wurst) und Cornichon-Butter für ländlich-französischen Aperitifspaß auf hohem Niveau sorgen (8). Feiner wird es dann mit einer Tartelette mit in Weißwein marinierter Makrele und Püree von karamellisiertem Gemüse (8).

Etwas deftiger ‒ und dabei dennoch sehr fein ‒ sind die letzten Petitessen, ein Beignet mit einer warmen, cremigen Füllung aus Comté, Vin Jaune und Schinken (8), sowie ein frittierter Raviolo mit Schnecken und Bärlauch (8).

Die etwas hemdsärmelige Optik dieses vielfältigen Auftakts unterstreicht den rustikalen Charme der Region, hinter dem sich so viele Schätze verstecken.

So wie die nächste Vorspeise. In einer mit Rotwein zubereiteten Crème anglaise findet man ein pochiertes Wachtelei, das von frittierten Zwiebelstückchen umhüllt ist, sowie Champignons mit intensivem Aroma. Die Speise ist eher kühl temperiert und beglückt den Gaumen mit einem Gefühl von absolutem Wohlgeschmack. Salz, „Süffigkeit“ und die betörenden Röstaromen der Zwiebel, die sich mit dem flüssigen Eigelb vermengen, sind eine Kombination zum Augenschließen. — 10

Das Thema Wein kommt hier naturgemäß auch nicht zu kurz. Die Karte ist natürlich auf die Region fokussiert und sehr umfangreich. Es ist ratsam, im Voraus online einige Favoriten ausfindig zu machen und diese dann mit dem Sommelier zu besprechen ‒ eine Strategie, die ich bei umfangreichen Weinkarten häufiger umsetze.

Im Laufe des Abends trinken wir exzellente Tropfen, ein 2012er Meursault von der Domaine Coche-Dury (€ 200), ein 2009er Pommard 1er Cru „Clos des Epeneaux“ von der Domaine Comte Armand (€ 220) und einen 2012er Morey Saint-Denis 1er Cru „Clos de la Bussière“ von der Domaine Georges Roumier (€ 220).

Der erste von mir à la carte gewählte Gang hat dann Erbsen und Seesaibling zum Thema (€ 64). Auf einer kühlen Erbsen-Velouté findet man einige Stücke von behutsam gegartem Seesaibling sowie blanchierte Erbsen und eine Art Zitrusfrucht-Wassereis in Scheiben. Vor dem Hintergrund, dass Erbsen größtmöglichen Genuss bescheren können, ist dieser Teller ziemlich enttäuschend. Die Velouté ist fad, die Erbsen haben keinesfalls Referenzqualität, und auch der durchgekühlte Saibling offenbart außer erwartungsgemäß makelloser Qualität nichts Außergewöhnliches. Das Gericht schmeckt zudem komplett „durchgekühlt“, so als hätte es in dieser Form schon lange in der Kühlschublade auf seinen Abruf gewartet. Ich befürchte genau das. Ein stolzer Preis für einen schwierigen Einstieg ins Menü. — 7

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Ganz anders verhält es sich mit Kaisergranat (€ 84), der mit Puffreis paniert und frittiert wurde. Zwei solcher Exemplare demonstrieren sowohl eine hervorragende Qualität des nussig-süßlich schmeckenden Krustentiers als auch exzellentes Handwerk. Begleitend zu dem gaumenerfreuenden Snack gibt es das Fleisch des Tiers noch einmal roh mariniert als Tartar in einem Schälchen mit einer üppigen Selleriecreme mit Granny Smith, Kaviar und einer leichten Senfcreme (mit Senf des bekannten regionalen Erzeugers Edmont Fallot). Das schmeckt alles hervorragend, bietet spannende Temperatur- und Texturkontraste am Gaumen und ist verständlicherweise ein Klassiker des Hauses. — 9

Ich probiere noch eine weitere Vorspeise. Schnecken der Art „Große Graue“ (escargots Gros Gris „Prés de Fontaines“, € 63) gelangen hier in einem komplexen Potpourri diverser, unterschiedlich interagierender Zutaten auf den Teller. Während die ausgelösten, geschmorten Schnecken sowie Tintenfisch für eine herzhafte Basis mit Biss sorgen, bieten aromatische Kräuter einen frischen Kontrast. Vor allem Dill begeistert in diesem Arrangement, das mit einer Safran-Mayonnaise und geschmorten Zwiebeln an noch mehr Tiefe gewinnt. Zwischen anspruchsvoller Bitterkeit und süffigem Wohlgeschmack werden einem hier eine ganze Palette an hervorragenden Geschmackseindrücken geboten. — 8,9

Mein Hauptgang ist ein Gericht mit Kalbsbries (€ 86). Es wurde in „Brioche-Schuppen“ gebraten, sodass das Bries mit einer knusprigen Kruste ummantelt ist. Weitere Zutaten sind eine Zwiebel-Mousseline, Artischocken, Kumquat und ein mit Zimtkassie aromatisierter (und sehr sparsam portionierter) Jus. Das Gericht ist problematisch, weil die Teigkruste um das Bries so schmeckt als sei das Stück (schlecht) frittiert worden. Dies ist zwar nicht der Fall, doch am Gaumen überwiegt ein trockener, ranziger Eindruck, den die anderen, geschmacklich exzellenten Zutaten auch nicht wettmachen können. In Summe in das immer noch „fast sehr gut“, aber durch den handwerklichen Fehler kein großer Spaß. Ich lasse den Gang zurückgehen. — 6,9

Etwas ärgerlich daran ist, dass ich bereits beim Bestellen das Risiko einer solchen Zubereitung sah und den Maître de darauf ansprach. Er überzeugte mich jedoch davon, das Gericht zu probieren. Nun ist das alles kein Beinbruch. Ich gehe mit solchen Situationen höflich, aber bestimmt um. Man sollte nicht allzu lange an einem Gericht herumprobieren, wenn man einen Mangel sachlich benennen kann.

Ich bin auch eigentlich schon satt, bestehe nicht auf einen Austausch. Dennoch kommt wenig später eine Alternative aus der Küche, die, wie der Hauptgang, später nicht berechnet wird.

Es handelt sich um Lammkarree, knusprig und saftig gebraten und ganz schlicht mit einigen Gemüsen und einer Kräutercreme serviert. Hieran ist alles sehr gut, aber wenn dieses Gericht ein typisches Drei-Sterne-Niveau repräsentierte, gäbe es auf der Welt zigtausende Restaurants mit dieser Auszeichnung, anstatt nur knapp über hundert. Dennoch: fehlerfrei, authentisch, qualitativ einwandfrei. — 7

Trotz eines am Tisch kollektiven Verzichts auf Desserts, klingt das Menü süß aus. Es gibt ein fantastisches Apfelsorbet mit Ahornsirup und karamellisierten Cornflakes (8,9) sowie diverse Pralinen, alle auf sehr hohem Niveau (8,5).

Damit endet ein Menü, welches auf diesem Niveau ungewöhnlich stark schwankte. Vor allem durch die nahezu vollständige Abwesenheit von Referenzprodukten sowie wegen einiger handwerklicher Probleme war das Essen oft weit entfernt von dem attestierten Niveau, mit dem man sich inzwischen auch die Eingangstür schmückt.

Aber auch das typisch Burgund. Es hilft nicht immer, auf große Namen und stolze Preise zu setzen. Manchmal hat auch die teuerste Flasche Kork und der beste Winzer einen schlechten Tag. Aber alle Flaschen schreiben die Geschichte weiter, so auch dieser Restaurantbesuch meine eigene.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Lameloise (→ Website)
Chef de Cuisine: Eric Pras
Ort: Chagny, Frankreich
Datum dieses Besuchs: 30.04.2018
Guide Michelin (F 2018): ***
Meine Bewertung dieses Essens (?): 8 (Was bedeutet das?)
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Tourniert: von Yountville bis Shanghai

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Reisen in die Ferne sind zwar gebucht, dennoch verschafft sich mein Fernweh in diesen Tagen etwas Raum. Zeit also, über einige Restaurantbesuche der vergangenen zwölf Monate zu berichten, die in meiner Berichterstattung (ganz zu Unrecht) bisher untergegangen sind. Es geht vom idyllischen Yountville in Kalifornien über das ähnlich sonnengesegnete Menton an der Côte d’Azur bis zur chinesischen Metropole Shanghai und wieder zurück nach Hamburg.

Inhalt:

Bouchon, Yountville
Mirazur, Menton
Canton 8, Shanghai
LOUIS, Hamburg


Bouchon, Yountville

An diesem heißen Julitag fahre ich von Los Gatos, wo ich am Abend zuvor ein großartiges Essen im Manresa genoss, in Richtung Norden nach Yountville und befriedige damit meine unterschwellig fast stets präsente Sehnsucht nach diesem paradiesischen kleinen Ort im Napa Valley.

Thomas Keller hat hier mit seiner French Laundry, der Bouchon Bakery und dem Bouchon (Bistro) ein kleines Schlaraffenland geschaffen, das man den Rest seines Lebens eigentlich nicht mehr verlassen müsste, um kugelrund und glücklich zu werden.

Morgens ein éclair au chocolat zu gutem Kaffee, mittags ein paar leichte crudités mit etwas Rillettes und Baguette, abends feinste Küche in der French Laundry ‒ oder doch wieder rüber ins Bouchon zu Steak Frites oder einem riesigen Teller Miesmuscheln. Dazu die fantastischen Weine aus der Region, es gäbe Schlimmeres.

Vor meiner Reservierung im Bouchon kehre ich noch kurz auf ein einstimmendes Glas Chardonnay im Bardessono Hotel gegenüber ein. Dieses Mal bleibe ich leider nicht. Aber das Gefühl, wieder hier zu sein, erfüllt mich mit Freude.

Wenig später im Bouchon sage ich zu vielen Dingen ja. Ja zum schattigen Plätzchen auf der kleinen Terrasse. Ja zum frisch gebackenen Baguette mit guter Butter. Ja zu einem süffigen Teller Ricotta-Parmesan-Gnocchi mit australischen schwarzen Trüffeln und einer schaumigen Sahnesauce (halbe Portion ca. € 24). — 7,5

Gleichzeitig ‒ so hatte ich das bestellt ‒ steht schon ein kleiner Salat mit sonnenverwöhnter Fleischtomate und grünen Bohnen (ca. € 11) auf dem Tisch, der mit Nizzaoliven, Paprika, Fenchel, Anchovis und einer Basilikumvinaigrette perfektioniert ist. Leuchtende Farben, frischer Geschmack, wunderbare Zutaten. — 7

Zum Hauptgang gibt’s den Bistro-Klassiker Steak Frites (ca. € 32), bestehend aus einem in der Pfanne krossgebratenen Stück Rinderfilet, hausgemachten Pommes Frites und einer makellosen Sauce Béarnaise. Einfach gut! — 6,9

Gesättigt ‒ und in einem emotionalen Konflikt zwischen Wohlbefinden und Wehmut ‒ verlasse ich das Bouchon, Yountville und das Napa Valley. Ich komme zurück, daran gibt es keinen Zweifel.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Bouchon (→ Website)
Chef de Cuisine: David Hodson
Ort: Yountville, USA
Datum dieses Besuchs: 27.07.2017
Guide Michelin (SFO 2018): *
Meine Bewertung dieses Essens (?): 7 (Was bedeutet das?)
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Mirazur, Menton

Der Blick hinab auf die etwas verwachsene Bahntrasse, auf das azurblaue Mittelmeer im Hintergrund und, weiter rechts, auf die malerische Bucht von Menton, wo einst Henri Matisse lebte, ist einzigartig.

Es ist aber auch ein bröckelnder Charme. Der Baustandard in dieser Region ist nicht besonders hoch, und manche Ecken wirken verlassen und verwildert, was bei all dem Reichtum hier erstaunlich ist. Auch das Mirazur ist in diesem Sinn kein Palast, passt damit aber genau in diese Region.

Der Argentinier Mauro Colagreco hat sich mit seiner kreativen mediterranen Küche international einen Namen gemacht, die Gäste kommen aus der ganzen Welt. Ich schrieb bereits mehrfach über das Mirazur. Ein Besuch im Oktober bestätigt meine Eindrücke dieser exzellenten Küche.

Das neungängie menu signature (€ 210) ist sogar das beste, das ich bisher hier gegessen habe. Nach diversen hervorragenden Fingersnacks setzt eine ausgelöste Gillardeau-Auster in einer Schalottencreme mit verschiedenen Zubereitungen von Williams-Birne ein Ausrufezeichen hinter Frische, Qualität und Wohlgeschmack. — 9

Fleisch vom Taschenkrebs begeistert im Anschluss mit einer leicht süßlichen Mandelcreme und saftiger Grapefruit als genialer Kontrapunkt. — 8,5

Rote Bete aus dem eigenen Garten wurde für das nächste Gericht in einer Salzkruste gegart. Die saftigen Scheiben mit intensivem Geschmack werden mit einer Sahnecreme mit Ossietra-Kaviar serviert. Ein schlichtes Meisterwerk. — 10

Ein süßlich-breiiger Gang bestehend aus Maiscreme, weißem Trüffel und Eigelb fällt dagegen deutlich aus dem Rahmen. — 6,9

Ganz grandios ist dann wieder ein auf Schweinebrühe basierender Sud, der ein bisschen an ein Dashi erinnert, in dem sehr aromatische dicke weiße Bohnen und Tintenfischstücke schwimmen. Herzhaft und elegant, leichtfüßig und doch angenehm sättigend. — 9

Petersfisch in einem schaumigen Muschelsud wäre ein weiteres grandioses Gericht, ist aber leider deutlich übergart (7); Lamm aus der Region (Sisteron) wird mit einem Stück Aubergine serviert, das durch eine Sauce mit rotem Miso intensiv salzig-röstig schmeckt und hervorragend zum recht intensiv schmeckenden Fleisch passt, das allerdings einen Hauch zarter sein könnte (7,5).

Desserts sind hier besonders gut, wenn sie die prachtvollen Zitrusfrüchte thematisieren, die hier wachsen, wie z. B. Kaki mit Armagnac-Creme (9) oder Grapefruit mit Zitrusfruchteis und einem Schaum von weißer Schokolade (8).

Das Essen war traumhaft. Draußen ist es jetzt etwas bewölkt, aber das Mittelmeer leuchtet. Die salzige Luft ist mild und parfümiert. Es ist schon ein bezauberndes Fleckchen hier.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Mirazur (→ Website)
Chef de Cuisine: Mauro Colagreco
Ort: Mirazur, Frankreich
Datum dieses Besuchs: 02.10.2017
Guide Michelin (F 2018): **
Meine Bewertung dieses Essens (?): 8 (Was bedeutet das?)
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Canton 8, Shanghai

Das unter einheimischen sehr populäre Restaurant Canton 8 füllt sich sehr schnell, daher bin ich bereits um 11 Uhr hier, um lange Wartezeiten zu vermeiden. Das Restaurant erlangte internationale Aufmerksamkeit als günstiges Zwei-Sterne-Restaurant der Welt.

Tatsächlich kann man hier à la carte für ein kurzes Lunch nahezu beliebig wenig Geld ausgeben. Ein paar Dim Sum, die hier duftend durch den Raum getragen werden, kosten nur wenige Euro.

Ich probiere hier das Tasting Menu A, das mit ca. € 40 für acht Speisen auch nicht gerade nach Wucher klingt.

Eine für kantonesische Küche typische Trilogie gibt es zum Start, die vor allem durch sehr gutes Handwerk und makellose Zutaten auffällt. Ein kleiner Salat mit geschlagener Gurke und Qualle ist besonders frisch und exzellent gewürzt, ein Stück Schweinefleisch zart und mit einer „blumig“-herzhaften Sauce lackiert, und ein luftig frittierte, knusprige Rolle mit Bohnenpaste schmeckt ebenfalls sehr gut. — 7

Heiß und feurig geht es mit einer gewürzten Meerestiersuppe weiter, in der sich allerlei von mir nicht identifizierbare Zutaten aalen. Die Suppe schmeckt intensiv nach Röstaromen und Fermentation gepaart mit fruchtig-pikanten Aromen. Sehr gut und sehr sättigend. Den Schweißperlen auf meiner Stirn wirke ich mit einem Schluck kühlen Biers entgegen. — 7

Das eindeutig beste Gericht des Menüs folgt danach mit gedämpftem Zackenbarsch. Zwei saftige, zarte Filetstücke von exzellenter Qualität sind auf leichten Glasnudeln angerichtet und ergeben mit feinen Abschnitten von Frühlingszwiebel, etwas Sojasauce und Ingwer eine sehr elegante Komposition. — 7,9

Es geht weiter mit Hummer, der wie nach „Thermidor“-Art zubereitet aussieht, hier aber mit einer leichten Käsesauce überbacken ist. Sehr gute Qualität, saftig zart und wohlschmeckend. — 7

Ein Gericht mit Rindfleisch in Austernsauce mit Dünstgemüsen ist dann sehr weit weg von einer Zwei-Sterne-Küche, aber dennoch frisch und ordentlich zubereitet. — 6,5

Als „Hummer-Reis mit Hummer-Suppe“ bezeichnet die Speisekarte den nächsten Gang, der siedend heiß serviert wird. Ich muss lange warten, bis sich die Suppe auf zweistellige Gradzahlen abgekühlt hat, entdecke dann aber nur eine neutral schmeckende, trübe Flüssigkeit mit zu Tode gegartem Hummerfleisch. — 6

Das Dessert besteht aus einer sehr gut schmeckenden, kühlenden Mandelcreme (7) und einem traditionellen Brauner-Zucker-Kuchen (6,9).

Mit einer äußerst umfangreichen Speisekarte, einwandfreier Qualität, niedrigen Preisen und einem lockeren Ambiente kann sich dieses Restaurant durchaus schmecken lassen. Die völlig überzogene Bewertung des Michelin spielt dann auch keine Rolle mehr.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Canton 8 (→ Website)
Chef de Cuisine: Jie Ming Jian
Ort: Shanghai, China
Datum dieses Besuchs: 03.01.2018
Guide Michelin (Shanghai 2018): **
Meine Bewertung dieses Essens (?): 7 (Was bedeutet das?)
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LOUIS, Hamburg

Zunächst gestartet als Popup-Projekt während der Renovierungsarbeiten im Jacobs Restaurant Anfang des Jahres, kocht jetzt ein ‒ vermutlich aufgestockter ‒ Teil der Jacobs-Mannschaft im Untergeschoss der CARLS Brasserie gegenüber der Elbphilharmonie.

Das Restaurant, das mit Zusatz LOUIS by Thomas Martin heißt, ist schnell zu einem meiner Favoriten in Hamburg avanciert. Kleine Gerichte (etwas sonderbar unterteilt in Gruppen von € 14, € 16 und € 18) bestellt man sich am besten querbeet, zum Teilen und kontinuierlich über den Abend.

Für einen Teil der hier auch anzutreffenden klassischen Jacobs-Klientel ist dieses anarchistische Prinzip noch nicht ganz einfach zu verstehen, aber es mischen sich mehr und mehr kosmopolitischere Leute unter das Publikum, die nach unkomplizierter, raffinierter Küche suchen.

Man startet zum Beispiel mit knackig frischem Gemüse „vom eigenen Acker“ mit Zitrone, Honig und Olivenöl (7) und genießt dazu parallel die asiatisch inspirierte Fjordforelle, leicht gegart und von fabelhafter Qualität, serviert als knusprig-würzige Rolle (7). Die bestelle ich gleich noch mal.

Ebenfalls hervorragend ist ein Gericht mit saftig zart gegartem Schweinebauch (7), gerade richtig portioniert, um danach trotzdem noch weiterzumachen. Meine Empfehlung: einfach noch mal von vorne beginnen. Die Ceviches, zum Beispiel vom Wolfsbarsch, sind zweifellos die besten der Stadt (7). Und bei einem Gericht neulich mit Artischocke und Trüffeln (ohne Foto) blitzt auch schon mal das Niveau des Mutterhauses auf (8).

Lediglich die Weinkarte lässt noch zu wünschen übrig. Das Prinzip, viele Weine auch glasweise verkosten zu können, ist zwar gut, aber die hohen Aufschläge (z. B. € 29 für 0,125 l Herimtage „La Petite Chapelle“ von Paul Jaboulet Ainé) schlagen auf den Magen. Aber, so versicherte mir die souverän-charmante Restaurantleiterin, man arbeite bereits daran.

Das LOUIS zählt seit dem ersten Tag zu den besten Restaurants in Hamburg und ist derzeit das einzige, in dem man so unkompliziert auf diesem Niveau essen kann. Einen Kronleuchter gibt’s hier trotzdem ‒ kein Problem, wenn alles andere so stimmt wie hier.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: LOUIS (→ Website)
Chef de Cuisine: Rüdiger Mehlgarten
Ort: Hamburg, Deutschland
Datum dieses Besuchs: mehrere Besuche zwischen 04.02. und 05.05.2018
Guide Michelin (D 2018): noch nicht bewertet
Meine Bewertung dieser Essen (?): 7 (Was bedeutet das?)
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Le Moissonnier ‒ gegen die Etikette

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Das Le Moissonnier ist so vieles ‒ und so vieles nicht. Es ist Spitzenrestaurant, Sterne-Restaurant, Bistro. Es ist französisch, leger und laut. Es ist kostspielig und jeden einzelnen Cent wert. Es ist die Antithese eines Gourmet-Tempels ‒ und für mich doch der Inbegriff eines solchen. Und es ist in Köln.

Nicht jedes dieser Attribute löst bei Essinteressierten unmittelbare Begeisterung aus. Auf TripAdvisor zum Beispiel beklagt eine Katharina K., dass man zum Brot keine Tellerchen bekäme und man es stattdessen auf dem Tischtuch ablegen müsse. Ebenso echauffiert sie sich darüber, dass ihr Besteck zwischen den Gängen nicht ausgewechselt würde. Es sei ohnehin viel zu laut und zu eng, und das Essen, na ja, „wunderschön“, aber erklärungsbedürftig und „eher Chichi als Kochkunst“. Fazit: „Schade“.

Liebe Katharina, sei froh, dass du an deinem Tisch überhaupt ein Tischtuch hattest. An meinem Holztisch nahe der Küche gibt es heute Abend nicht mal das. Der Vorteil daran ist, dass die Brotkrümel auf dem Holz farblich nicht so auffallen. Fürs nächste Mal solltest du daher unbedingt nach dem Holztisch fragen. Alternativ könntest du dein Brot natürlich auch einfach auf den großen so genannten Fahnen der schicken Bernardaud- und Hering-Teller ablegen. Das kann man hier in Köln so machen, da guckt einen keiner schräg an. Und was das Besteck betrifft, vielleicht hast du einfach zu penibel gegessen, sodass dein Besteck nicht austauschbedürftig aussah. Hier wäre mein Tipp: einfach mal richtig reinhauen ins Essen, damit auch ein bisschen Sauce an der Gabel hängenbleibt. Mein Besteck wurde mit dieser Strategie hier schon immer ausgetauscht. Oder vielleicht doch nicht? Ich habe es, ehrlich gesagt, vergessen. Es ist mir nämlich vollkommen gleichgültig.

Zum Schlemmen in gelöster Atmosphäre bin ich heute zurückgekehrt. Nach knapp über eintausend Tagen unbeabsichtigter Abstinenz. Das ist viel zu lang.

Am Tisch angekommen stelle ich wieder einmal fest, dass es bei Gästen auch so etwas wie ein Mise en place gibt. Man sitzt bequem, blickt aufs Gedeck, hat bereits grob ‒ oder konkret ‒ eine Weinauswahl getroffen und idealerweise schon etwas Weißes oder Prickelndes im Glas, dazu die Speisekarte parat, aber noch nicht aufgeklappt. Ich schätze es, wenn man in diesem Moment nicht gleich mit dem Abspulen eines Programms überfallen wird. Ich möchte erst einmal ankommen. Mich umsehen. Die Lage sondieren. Und idealerweise eintauchen in eine Welt von Gastfreundschaft und Hedonismus.

Genau in diesem Sinn steht nun mein Mise en place. Im Glas befindet sich Champagner (nicht notiert), und in den ersten Flaschen des Abends ein 2013er Chassagne-Montrachet 1er Cru „Les Macherelles“ von Hubert Lamy (€ 171) und ein 2003er Nuits-Saint-Georges 1er Cru „Clos des Forêts“ von der Domaine de l’Arlot (€ 245). Die Preisaufschläge sind üppig, aber nicht unüblich. Wer mag, bestellt Günstigeres ‒ oder noch deutlich Teureres. Die frankophile Weinkarte ist kompakt, aber exzellent ausgewählt und bewegt sich abseits des in Deutschlands Restaurants häufig repetitiven Sortiments. Der Handel mit Wein gehört inzwischen ebenfalls zum Geschäft der Gastgeber Vincent und Liliane Moissonnier.

Die Speisekarte bietet sowohl eine (tischweise) Menüoption als auch einen A-la-carte-Teil, auf den hier schon immer meine Wahl fiel. Das Prozedere, sich bewusst für ganz bestimmte Zutaten zu entscheiden, verfolge ich in Restaurants mit französischer Küche fast immer.

Ich würde gerne alles bestellen, doch letztlich fällt eine Auswahl. Das legendäre Konzept von Küchenchef Eric Menchon, dass ein Gericht stets aus mehreren Tellern besteht, die in Summe als kulinarische Einheit zu verstehen sind, ermöglicht es zudem, trotz einer Auswahl von drei bis vier Gerichten (so viele sollten es schon sein) eine Vielzahl an kulinarischen Kreationen zu probieren.

Das Amuse-Bouche wird als Wiener Schnitzel mit Gurkensalat angekündigt und enthält tatsächlich das gesamte Aroma- und Texturspektrum einer umfangreicheren Portion. Der kleine Gurkensalat ist frisch und angenehm pikant abgeschmeckt, das kleine Stück Kalbsschnitzel ist sehr gut, vielleicht eine Nuance zu trocken, aber dennoch eine sehr gute Einstimmung. — 7

Comme une bouillabaisse légère (€ 38) lautet dann der Titel meines ersten bestellten Gerichts, bei dem es sich um eine dreiteilige Fischspeise handelt, die im zentralen Teller das Thema einer Bouillabaisse aufgreift, ohne dabei jedoch auf klassische Mittelmeerfische zurückzugreifen. Hier sind es Petersfisch, Drachenfisch und Kaisergranat, die von exzellenter Qualität sowie akkurat gebraten sind. Beim Krustentier ist die Garung am präzisesten. Eine nachträglich angegossene „Bouillabaisse-Emulsion“ ist geschmacklich wunderbar und transportiert einen spätestens jetzt gedanklich an die felsige Küste von Marseille.

Dazu gibt es, ganz puristisch, ein einzelnes Stück Tintenfisch. Dieser wurde zwei Stunden lang behutsam gegrillt (!) und mit einem Rinderjus beherzt salzig abgeschmeckt. Die sehr zarte, wohlschmeckende Zutat muss handwerklich einen Vergleich mit japanischen Pendants nicht scheuen. Auf einem weiteren Teller gibt es noch „Panini“ von geräuchertem Atlantischem Butterfisch auf Eierschaum und Kapernpaste, eine herzhafte, knusprig-heiße Schlemmerei. Wenngleich der Zusammenhang zwischen den verschiedenen Tellern allenfalls beim Thema „Fisch“ zu verorten ist, erfreue ich mich an Qualität, Originalität und Genuss dieser vielteiligen Kreation. — 8

Das zweite Werk hat die exquisite Zutat Thunfischbauch zum Thema (ventrèche de thon snackée, € 40). Dieser wurde scharf angebraten, in fingerdicke Tranchen geschnitten, und ist damit schon der Star des Gerichts. Nur selten gelangt man in Deutschland in den Genuss dieser feinen Zutat, vor allem in dieser Qualität, bei der die Grenzen zwischen Fisch und Fleisch verschwimmen. Wunderschön ‒ nicht effekthascherisch ‒ sind die Scheiben umkreist von Tupfern von Erdnusspaste, Wasabi, Passionsfruchtkernen, Blüten und Kräutern. Für sich allein ist das alles schon ganz großartig.

Links daneben steht eine Steinpilzbouillon mit Burrata. Sie nimmt die wohlschmeckende Umami-Geschmackswelt des Thunfischs auf, intensiviert diese und transportiert das maritime Erlebnis in Richtung Erdreich. Die Bouillon ist dicht eingekocht, sehr aromatisch und schmeckt hervorragend. Nur ein mit Goldforelle ummanteltes Gemüseröllchen „nach Sushi-Art“ hinkt im Vergleich zum Rest der ansonsten drei Sterne würdigen Kreation etwas hinterher. — 8,5

Mein erster Hauptgang ‒ ich bin mir jetzt schon sicher, dass es zwei werden ‒ ist in Himbeeressig karamellisiertes Kalbsbries, serviert mit knusprig-leichtem Quinoa, Vadouvan und einem dichten Fleischjus (€ 48). Das Gericht duftet intensiv nach den facettenreichen Aromen des Orients, was den flankierenden Tellern zuzurechnen ist.

Links von ihnen eine fabelhafte Kombination von großartig zubereiteter Schwarzwurzel, Steinpilzen und Kokosmilch, rechts Puy-Linsen in Mumbai-Curry mit einem frischen „Frikassee“ von Zuckerschoten, Paprika und Ziegenfrischkäse. Man probiert mal hier und mal dort und genießt auf diese Weise ein präzise zubereitetes Wohlfühlgericht mit erlesenen Zutaten und spannendem Einsatz von Gewürzen. Die würzigen Aromen des Nuits-Saint-Georges passen dazu zufälligerweise perfekt. — 8,5

Da es noch nicht aufhören darf, bestelle ich gegrillte australische Rinder-Short-Rib (€ 51), mit Süßholz lackiert und nach umgekehrter „Rossini“-Art auf einer Scheibe gebratener Foie Gras thronend, die wiederum auf einem Stück luftig-knuspriger Brioche angerichtet ist. Das Ensemble ist heiß, üppig, buttrig, sündhaft gut, nur etwas mehr Sauce würde ich mir hier wünschen, so richtig klebrig, zum anschließenden Besteckaustausch.

Die zwei weiteren Schälchen ‒ eine Crème brûlée von Mais und Mumbai-Curry, sowie weiße Polenta mit gerösteter Zwiebel und Petersiliencreme ‒ sind hervorragende Kreationen, doch bei diesem einnehmenden Hauptteller fällt es schwer, sich ihnen in gerechter Weise zuzuwenden. — 8,5

Bei den Desserts sticht dann besonders eine Crème brûlée mit Tahiti-Vanille (€ 15) hervor, die zu den besten zählt, die ich je probiert habe (9); diverse weitere Köstlichkeiten stehen verteilt auf dem Tisch, alle sind hervorragend (im Schnitt 8).

Wer nach einem solchen Abend noch auf die Idee kommt, sich über fehlende Brotteller zu echauffieren, dem ist wahrlich nicht zu helfen. Und wer den Abend in Deutschlands lässigstem Spitzenrestaurant nicht genauso kurzweilig und genussreich verbringt wie ich heute Abend, ist selber schuld. Als Gast ist man immer auch mitverantwortlich für ein positives Fazit.

Ich bin meiner Verantwortung heute ganz und gar nachgekommen und verlasse Kölns einzige Attraktion ‒ Verzeihung, Attraktion Nummer eins ‒ mit gespanntem Hemd und in bester Laune. Dafür brauchte ich noch nicht einmal ein Tischtuch.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Le Moissonnier (→ Website)
Chef de Cuisine: Eric Menchon
Ort: Köln, Deutschland
Datum dieses Besuchs: 01.06.2018
Guide Michelin (D 2018): **
Meine Bewertung dieses Essens (?): 8 (Was bedeutet das?)
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Estimar – Schätze das Meer

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In einer kleinen Gasse unweit der Touristenmeile Rambla in Barcelona findet man das unprätentiöse Fischrestaurant Estimar. Das Restaurant ist ein nicht mehr so ganz geheimer Geheimtipp unter Produktliebhabern, aber Reservierungen sind nicht schwierig zu ergattern.

Inhaber und Küchenchef ist Rafael Zafra, Qualitätsfanatiker sowie ehemaliger Schüler in einigen der besten Restaurants Spaniens, deren eindrucksvolle Auflistung man woanders recherchieren kann.

Im Estimar geht es um Fisch und Meeresfrüchte (Gastrojargon „Seafood“), und das wird spätestens dann offenkundig, wenn man durch die unscheinbaren Türen des Lokals hineinspaziert.

Allerfeinstes Meeresgetier liegt dort akkurat aneinandergereiht auf Eis in einer offenen Kühltruhe vor der Küche. Es sind die Fänge des Tages: enorme Kaisergranate, hochglänzende Garnelen, grimmig blickende Skorpionsfische, Brassen und weiteres edles Getier bieten mir an diesem Mittag einen appetitanregenden Anblick.

Die Speisekarte spricht eine schlichte, schöne Sprache. Produkte, Produkte, Produkte, gegrillt, frittiert oder gekocht, dazu verschiedene weitere Kleinigkeiten. Ausnahmslos jede Speise klingt ansprechend.

Als Einstimmung gibt es erst einmal ein dreifaches Hoch auf die hervorragenden Zutaten. Einige Stücke Sardine mit Olivenöl sind perfekt gewürzt ‒ leicht pikant ‒ und ganz wunderbar in ihrer Einfachheit. Gegarte Strandschnecken pult man mit entsprechendem Besteck direkt aus ihrem Gehäuse. Sie haben großes Suchtpotenzial. Oliven sind ebenfalls sehr gut. Ein sehr guter, schlichter Auftakt voller Frische und von bestmöglicher Qualität. — 7

Das salzige Wasser Vichy Catalan passt verblüffend gut dazu, genauso wie ein guter, mineralischer Chablis (nicht notiert, Glas € 7). Grauburgunder und Weißweinschorle sind hier glücklicherweise sehr weit entfernt.

Mein erster Gang ist ein Krustentiercarpaccio mit einem Kompott von karamellisierten Zwiebeln (€ 24). Man streicht ‒ oder vielmehr legt ‒ das überfrische Carpaccio mit einem Spatel auf dünnes, knusprig geröstetes Brot und schließt dann am besten die Augen. Das Zwiebelkompott bringt eine süßlich-herzhafte Geschmackstiefe mit ins Spiel, die vermutlich jedem Esser ein genussvolles Mmmmh! entlockt. Das Gericht ist als Hommage zum elBulli (1995) ausgewiesen, eine der ehemaligen Arbeitsstätten des Küchenchefs. — 8

Meine weitere Wahl fällt auf gebratene Stabmuscheln (€ 16). Sie kommen in einer schweren Kasserolle direkt auf den Tisch und baden in einer warmen, hervorragend würzigen Marinade, die nach Fenchel, Knoblauch, Muscheln und Salz schmeckt. Ich poliere den Topf genüsslich blitzblank, etwas Weißbrot zum Stippen hilft mir dabei. — 7

Gleichzeitig auf dem Tisch liegen in Olivenöl frittierte Sardellen mit einer Zitronen-Mayonnaise. Das isst sich ebenfalls recht gut weg, obwohl die Panierung durch die niedrige Frittiertemperatur von 180 °C laut Speisekarte eher pappig als knusprig ist. — 6,5

Aus der „Vom Grill“-Sektion wähle ich noch Kaisergranat und rote Garnele (aus Roses). Die Zutaten werden nach Gewicht abgerechnet, was beim Kaisergranat naturgemäß zu wenig Produkt für viel Geld führt, hier sind es € 68,40 für 360 Gramm (zu sehen ist das halbe Tier). Eine rote Garnele ist mit € 12 für 60 Gramm auch nicht gerade ein Schnäppchen, aber beide Produkte sind mehr als gut. Für Freunde des Pulens. — 6,9

Ein ganz puristischer Tomatensalat mit Olivenöl, Zwiebeln, Salz und Pfeffer schließt das ‒ doch schon wieder üppiger als gewollt ausgefallene ‒ Mittagessen erfrischend und hochwertig ab. — 6,9

Das Estimar ist ein wunderbares Restaurant, wenn man Lust auf unkomplizierte, qualitativ exzellente Produktküche verspürt. Verführerisch klingendes Fleisch findet man übrigens auch auf der Karte. Ich sag’s ja nur.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Estimar (→ Website)
Chef de Cuisine: Rafael Zafra
Ort: Barcelona, Spanien
Datum dieses Besuchs: 12.07.2018
Guide Michelin (ES 2018): Empfehlung
Meine Bewertung dieses Essens (?): 7 (Was bedeutet das?)
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Disfrutar ‒ wegweisende Gegenwartsküche

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Drei Köche, die einen wesentlichen Teil ihrer Karriere damit verbracht haben, im legendären El Bulli zu wirken, führen inzwischen ‒ gemeinsam und ohne Investor ‒ das Restaurant Disfrutar in Barcelona.

Damit könnte man zur naheliegenden Annahme gelangen, Mateu Casañas, Oriol Castro und Eduard Xatruch hätten einfach das Erbe des El Bulli nach dessen Schließung im Jahr 2011 fortführen wollen. Doch das trifft so nicht zu. Es hätte ihnen ohnehin niemand abgenommen.

Stattdessen eröffneten die Köche, die schon immer ein enges Team waren, ganz in der Nähe ihrer vorherigen Wirkstätte das Compartir, ein Restaurant mit unkomplizierter Küche mit Gerichten zum Teilen. Das Restaurant ist nach wie vor sehr populär.

Neben wirtschaftlichen Überlegungen ‒ das Compartir allein reicht nicht aus, um drei Familien zu ernähren ‒, war es dann sicherlich auch der kreative Geist der drei, der sich schließlich neuen Raum zur Entfaltung suchte. In dieser Konsequenz eröffnete das Disfrutar (Spanisch für „genießen“) Ende 2014 in Barcelona seine Türen und avancierte zügig zu einer der begehrtesten Reservierungen Spaniens ‒ und der Welt.

Die knapp über 40 Speisen, auf die ich mich heute Abend einlasse ‒ eine umfangreiche Demonstration von Klassikern und aktuellen Kreationen, die mir außerhalb der regulären Menüs (€ 150 ‒ € 190) angeboten wird ‒, werden mir den Grund dieser Beliebtheit heute Abend auf denkwürdige Art demonstrieren. Dabei werden sie unter anderem auch meine letzten Reservekapazitäten für Essensaufnahme ausschöpfen.

Aber der Reihe nach.

Fliesen, Naturstein und Stühle aus Metallgeflecht verleihen dem Restaurant ein mediterranes Flair, das sich bis auf die Terrasse fortsetzt, die man in diesem Hinterhof nicht vermuten würde.

Innen bieten Tische mit Steinplatte und reduzierter Dekoration die Bühne für das vermutlich avantgardistischste Menü, das man derzeit irgendwo essen kann. Wer meinen Berichten länger folgt, weiß, dass spanische Experimentalküche mir nur selten Genuss beschert hat und ich ihr deshalb ‒ aus einer rein hedonistischen Perspektive ‒ skeptisch gegenüberstehe. Dies steht nicht im Widerspruch zu meiner ausdrücklichen Befürwortung von Fortschritt durch Technik und Kreativität in allen Bereichen des Lebens, auch in der Küche. Doch von Ferran Adriàs Errungenschaften wurde sehr viel missverstanden. Gazpacho in einem Reagenzglas zu servieren oder Garnelen an Nylonfäden die Decke herunterbaumeln zu lassen, hat mehr mit Unfug zu tun als mit kulinarischer Kreativität.

Als mich heute Abend die ersten Gaumenfreuden erreichen ‒ eine federleichte Sphäre aus roter Bete sowie ein Ensemble aus Rosenwasser und Gin und, dazugehörig, ein in Himbeerform gebrachtes Lychee-Wassereis ‒, ist es frappierend, wie sehr mich schon dieser Auftakt beeindruckt. Die Abfolge der Aromen, von den floralen Noten der Rose, der etwas fruchtigeren Litschi und der Süße der Bete, ist komplett schlüssig und erzeugt bei mir eine Art Synästhesie zwischen den Aromen und den Abstufungen der Farbe Rot. Verblüffend ‒ und sehr schmackhaft. — 8

Absolut grandios ist dann schon gleich folgende Kreation um das Thema Pinie. Da gibt es einmal Pinienkerne selbst in verschiedenen Reifegraden und Zubereitungen. Die jüngsten sind fast transparent und ähneln sowohl optisch als auch mit ihrer zarten Textur an gekochten Reis. Dazu mischen sich reifere und leicht geröstete, dunklere Exemplare. Die Nuancen der verschiedenen Zubereitungen eines einzelnen Produkts ergeben am Gaumen auf diese Weise ein faszinierendes Zusammenspiel. Es fühlt sich ein bisschen an wie ein Spaziergang durch einen Nadelwald. Zwei weitere Präparationen, eine Art teigloses Toast mit Piniencreme und ein Schälchen mit „Pinienwasser“ vervollständigen das faszinierende Erlebnis. Aufwühlend! — 10

Das nächste Thema ist Mandel. Es gibt eine irgendwie präparierte weiße Mandel, die aus einer Flüssigkeit mit Holunderblüte und Essig gefischt wird und wunderbar floral schmeckt ‒ ein bisschen nach Rose (Mandel ist ein Rosengewächs), ein bisschen nach Holunder. Danach gibt es eine confierte grüne Mandel, ganz zart und mit intensivem Marzipangeschmack.

Darauffolgend gibt es ein hochkomplexes Tellerarrangement, welches ‒ ganz ähnlich zu den Pinienkernen ‒ verschiedene weitere Zubereitungen von Mandeln enthält: transparente, ganz junge Mandeln; hellgrüne Sphären aus Mandelschale und Holunderblütenessig; in einer speziellen Maschine langsam gekochte Mandeln und Mandelcreme. Eine eingelegte Kirsche passt geschmacklich perfekt in die aldehydige Geschmackswelt der Kreation. Noch nie habe ich Mandel derart facettenreich wahrnehmen können. Großartig und bereichernd. — 8,9 für das gesamte Mandelthema.

Weiter geht es mit einem Basilikumzweig, mit dem man sich die Hände einreiben soll. Zweck der scheinbaren Spielerei ist, dass einen das ätherische Aroma über die nächsten Speisen begleitet ‒ in einer selbstgewählten Dosierung.

Das Basilikumaroma begleitet zuerst ein ganz leichtes Küchlein (polvorón), das am Gaumen zu einer intensiven Erinnerung an getrocknete Tomate zerfällt; kleine, am Gaumen aufplatzende Kügelchen aus Olivenöl komplettieren das futuristisch mediterrane Geschmackserlebnis. — 8

Der folgende Teller beinhaltet Tomatenkerne, dazu Mango, Mangovinaigrette und Basilikumsphären. Die Komposition schmeckt exzellent; umami und fruchtig. — 8

Es geht weiter mit „multisphärischem Pesto“ mit Pistazien und Aal. Über die Mitte des Tellers schlängelt sich eine Art Gliederkette, deren durch eine gelierte Membran zusammengehaltene Glieder einzelne, mit Basilikumpesto gefüllte, Sphären sind (daher „multisphärisch“). Aal ‒ perfekt gegart, zart und sehr aromatisch ‒ mit Pancetta und Parmesan sind weitere Bausteine des süffigen, sehr zugänglichen Geschmacksbilds dieses Tellers. Das phänomenale Handwerk trägt maßgeblich zur Genussmaximierung bei. — 9

Währenddessen wird am Tisch unter Zuhilfenahme von glimmendem Eichenholz und Trockeneis ein Apfel-Cidre hergestellt, der im Glas angenehm prickelt und so schmeckt als sei er im Holzfass ausgebaut worden. Ein erfrischender Gag, der jedoch nicht grundlos, sondern als geschmackliche Brücke zum nächsten Abschnitt gedacht ist.

Es folgt eine in Walnusslikör eingelegte, wachsweiche und dadurch komplett essbare Walnussschale (ohne Foto), die mit flüssigem Idiazabal-Käse serviert wird. — 8

Danach gibt es einen Mille-feuille, der komplett aus ebendiesem Käse hergestellt wurde. Der „Teig“ besteht aus frittiertem Käse und ist ähnlich knusprig wie ein Blätterteig. Die Speise bietet vollendeten Umami- und Texturspaß (8,9).

Anschließend folgt ein Stück Blumenkohl, das 16 Stunden lang in einer koreanischen Maschine Namens Ocoo unter Druck gegart und dadurch karamellisiert wurde. Das Resultat ist eine sehr zarte Textur und ein leicht bitterer Umami-Geschmack, sehr ansprechend. Man stippt das Stück in eine fruchtige „Kokos-Béchamel“ mit Limette und genießt ein weiteres außergewöhnliches Geschmackserlebnis. — 8,9

Zum Gazpacho-Sandwich wird ein bauchiges Weinglas mit Essig eingesprüht. Man beißt vom ultraleichten Sandwich mit geschmacksintensiver, kühler Gazpacho-Creme ab und riecht dann kurz am Glas, um das Essigaroma mit in das Geschmackserlebnis zu integrieren. Das funktioniert erstaunlich gut, immerhin findet die Wahrnehmung von Aromen ohnehin ausschließlich über die Geruchssinneszellen statt. — 8

Gilda, das berühmte Pintxo aus San Sebastián, besteht bei der folgenden Trilogie kleiner Snacks aus einer großen sphärisierten Olive, die im Mund aufplatzt und eine derart wohlschmeckende, warme, würzige Olivenfüllung freigibt, dass ich kurz die Augen schließen muss. Die salzige Sardelle sorgt für einen zusätzlichen „Kick“, und die Samen einer Paprikaschote obenauf für pikante Frische. Der fantastische Snack wird von einem knusprigen Brot sowie einer jungen Mandel mit Essig begleitet. — 8,9

Es folgen zwei erneut als Mille-feuille ohne Mehl bezeichnete, federleichte Petitessen. Die eine wurde mit Schinken aromatisiert, die andere mit Sobrassada, einer mallorquinischen Wurstspezialität. Herzhaft und gut. — 7

Dem herzhaften Duktus folgend gibt es danach ein knuspriges Brot mit einer kühlen, streichbaren Sphäre aus Zubereitungen von Käse und Schinken. Sehr gut. — 7

Die nächste Kreation zählt zweifellos zu den außergewöhnlichsten Dingen, die ich je probiert habe. Frittierte Wirbelknochen vom Thunfisch werden am Tisch geschickt aufgeschnitten, sodass das flüssige Knochenmark darin enthalten bleibt. Verflüssigtes Schinkenfett wird dazu angegossen, und fertig ist eine heiße, salzig-fettige Gaumenfreude, die geschmacklich und gedanklich lange nachklingt. — 8,5

Ein ‒ nicht ganz echtes ‒ Ei („Carbonara“), Parmesan, Trüffeln und verschiedene Pilze ergeben für den nächsten Gang ein süffig-herzhaftes Gericht mit klassischem Geschmacksbild und weiterhin großartigem Handwerk. — 8,5

Der Abend verläuft bisher ohnehin ausgezeichnet. Ein bunt gemischtes, heiteres Publikum und das dynamische, freundliche Serviceteam erzeugen eine stimmungsvolle, sehr lebhafte Atmosphäre. Das etwas reduzierte mediterrane Ambiente trägt zu einer angenehmen Bodenhaftung des Restaurants bei. Das hier ist weder Szenelokal noch klassisches fine dining. Es ist ein futuristisches, intellektuelles und hedonistisches Erlebnis ohne erkennbare Hierarchien und Konventionen, aber mit perfekter Orchestrierung. Der Abend rauscht an mir vorbei. Nach zwei Stunden ist jetzt die Halbzeit erreicht.

Um mich herum auf dem Tisch zeugen diverse Zalto-Gläser, gefüllt sowohl mit meiner Weinauswahl (2014 „Selma de Nin“ von Nin Ortiz, € 87) aus der höchst interessanten, unglaublich fair bepreisten Karte, als auch von nicht zu seltenen glasweisen Kostproben des Sommeliers, vom hier ebenfalls vorherrschenden Weingenuss.

Der kulinarische Spaziergang führt weiter ans Meer. Zu einem Glas heißer „Algen-Infusion“ (ohne Foto), gibt es zwei kleine Canapés. Ein knuspriger Algen-Raviolo und ein kleiner Snack mit einer exzellenten Auster vermitteln Gedanken an Meer, Jod und Strandspaziergänge. — 8,5

Danach wird aus einer Hülle aus frischem Meersalz eine Stabmuschel ausgehoben. Der Prozess dient der Konservierung von Frische und Aromen. Die Muschel hat eine der besten Qualitäten, die ich je probiert habe und ist ebenfalls mit Alge kombiniert. Auch diese Speise schmeckt nach Meer und Weite und benötigt nicht mehr als genau diese Schlichtheit, um mich zu begeistern. — 8,9

Das Thema Alge wird dann mit dem folgenden Gang abgeschlossen, bei dem ein weiterer Protagonist Seehecht ist. Die bemerkenswert guten Produktqualitäten setzen sich fort, und trotz der ‒ so beabsichtigten ‒ Repetition von Zutaten entsteht immer wieder ein neues Geschmacksbild. Auch dieser Gang ist hervorragend und nur eine Nuance weniger fesselnd. — 8

Die letzte Kreation zum Thema Meer ist Pan chino. Die gebackene, frittierte Kugel aus fermentiertem Teig enthält eine Sahnecreme und Beluga-Kaviar. Die Üppigkeit des angenehm salzig-fettigen Snacks will sich nicht verstecken. Gingen die nussigen Aromen des Kaviars ‒ nicht etwa dessen salziger Grundgeschmack oder seine Textur ‒ in der geschmacklichen Dominanz des Teigs nicht etwas unter, wäre das eine ziemlich perfekte Speise. — 8

Als dekonstruiertes Ceviche wird der folgende Gang angekündigt. Verschiedene flüssige bis cremige Zutaten, unter anderem Seeteufel-Creme, duften nach der typischen Mischung aus Essig, Limette, Zwiebeln, Kräutern und frischem Fisch. Ein leicht pikantes Paprika-Chili-Eis, das geschmacklich an Gazpacho erinnert, unterstreicht den frischen Eindruck des erneut hervorragenden Gerichts. — 8

Flüssiges Popcorn“, eine weitere knusprige Kugel, ist mit einer flüssigen, warmen Maiscreme gefüllt und schmeckt nach den Aromen und Gerüchen eines Kinofoyers. Wunderbar. — 8,5

Der folgende Gang beinhaltet verführerisch knusprig gebratenes Lammbries (ich erinnere mich nicht, Bries vom Lamm jemals probiert zu haben) mit, unter anderem, Kokos und Mais als Bestandteil verschiedener Saucen. Etwas Koriander unterstreicht die exotischen, teils an indische, teils an nordafrikanische Küche erinnernden Aromen dieses absolut fesselnden Gerichts. Ein Fest für die Sinne! — 10

Ein weiterer Geniestreich folgt. Allein konzeptionell ist das als „T-Bone-Steak“ (chuletón) titulierte Gericht schon ein starkes Stück. Wer braucht schon ein riesiges Stück Fleisch am Knochen? Zugegeben, von Zeit zu Zeit gibt’s nicht Besseres. Doch diesem minimalistischen Teller fehlt es an absolut nichts, um es als eines der besten Gerichte mit Rindfleisch zu verbuchen, die ich je gegessen habe. Links ein Stück knusprig gebratenes Stück Fett, heiß, zart wie Butter und perfekt mit wenigen Salzflocken gewürzt, rechts kühles, pures Tartar. Den Fond des Tellers bedeckt ein phänomenaler, klassisch reduzierter Jus, klebrig an den Lippen und intensiv im Geschmack.

Dazu gibt es noch eine chipsartige, knusprige Paprikazubereitung und eine geschmacksintensive Comsommé. Jedes „normale“ Stück Fleisch wäre hier fehl am Platz. Wahnsinnig gut! — 10

Im Glas dazu befindet sich inzwischen ein (behelfsweise als 1967er nachetikettierte) spanische Wein aus dem Jahr 1947, ein garnatxa vom Weingut Anayon ‒ viel mehr ist nicht bekannt ‒, eine phänomenale Begleitung des Sommeliers. Der Wein ist frisch und erdig und schmeckt nach einem Bordeaux aus den 80er-Jahren. Gänsehaut pur.

Nach diesen intensiven, herzhaften Gerichten baut eine erfrischende Kreation mit Gurkeneis, knuspriger Schweinehaut und Hoisin-Sauce eine erneut grandios schmeckende Brücke zum süßeren Finale. — 9

Dies beginnt exzellent, mit einem Cornet mit schwarzem Sesam, das weiter unten mit einer frisch-fruchtigen Erdbeer-Joghurt-Creme gefüllt ist (8), und fährt fort mit einer Art Passionsfrucht-Sandwich „Tiramisú“ mit faszinierend leichten Texturen und authentischem Geschmack (8,9).

Ei, Nuss, Chantilly, Walnuss und 16 Jahre alter Lagavulin-Whisky (mit dem man sich die Hände einreibt) spielen bei der „Whisky-Tarte“ die Hauptrollen. Geschmacklich ist das ebenfalls hervorragend, wenngleich die Hände danach so riechen als hätte man den ganzen Abend neben brennendem Torf gesessen. Zum Glück habe ich immer eine Flasche Sterillium dabei. — 8

Eine Mangogelee-Consommé schmeckt säuerlich frisch, nach Sherry, Mango und wundervoller Exotik (7,9), und eine „transformierte“ Tafel Schokolade erinnert geschmacklich an Lakritzschnecken (7).

Eine der eindrucksvollsten kulinarischen Darbietungen, die ich je erlebt habe, geht damit allerdings noch nicht zu Ende. Der Donnerstagabend ist inzwischen zu Freitagmorgen geworden. Die Küchenchefs Oriol und Eduard führen mich noch mit nach unten in ein fensterloses Arbeitszimmer im Keller. Man könnte es mit dem Büro eines Architekten verwechseln. Skizzen mit organischen Formen, Regale voller Bücher, kleine Arbeitsmodelle, Bastel- und Zeichenutensilien. Doch was hier entworfen wird, sind keine Gebäude, sondern Speisen. Speisen, die mit den Essern interagieren, sie fordern, sie begeistern und ihnen ‒ das steckt bereits im Namen des Restaurants ‒ eine Menge Genuss bereiten.

Da ich meine Bewertung des Essens ausnahmslos vom Rest des Erlebnisses trenne, kommt bei dieser schieren Menge an Speisen keine Höchstnote zusammen. Dennoch war dieses Essen eines der für mich eindrucksvollsten überhaupt. Das Disfrutar ist experimentell und bietet dennoch Genuss; es ist leger und doch anspruchsvoll; futuristisch, aber im Hier und Jetzt. Es ist ein ultimatives Erlebnis für Kopf, Gaumen und Bauch ‒ und mit alledem für mich eines der wichtigsten Restaurants unserer Zeit.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: Disfrutar (→ Website)
Chefs de Cuisine: Mateu Casañas, Oriol Castro, Eduard Xatruch
Ort: Barcelona, Spanien
Datum dieses Besuchs: 12.07.2018
Guide Michelin (ES 2018): **
Meine Bewertung dieses Essens (?): 8,5 (Was bedeutet das?)
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ABaC ‒ Gold schöpfen

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Meine Rückkehr ins ABaC, dem Spitzenrestaurant im gleichnamigen Hotel in Barcelona, erfolgt nach langer Zeit. Damals, vor acht Jahren, hatte Küchenchef Jordi Cruz gerade das Ruder dort übernommen und zwei Michelin-Sterne zu verteidigen. Er tat das mehr als erfolgreich. Seit letztem Jahr sind es drei ‒ mein Weckruf, um zurückzukehren.

Die ersten Appetizer nimmt man direkt in der Küche ein.

Das ist insoweit praktisch, als mein Zimmer in einem Teil des Hotels untergebracht ist, in dem man skurrilerweise immer erst die Küche passieren muss, um in den Hauptteil des Gebäudes zu gelangen. Das finde ich unter hygienischen Gesichtspunkten zwar etwas fraglich, aber offenbar ist das hier nun mal so vorgesehen.

Zwischen Edelstahlarmaturen und Kochmützen gibt es als erstes einen Snack mit Limone und Tequila, der geschmacklich perfekt ausbalanciert ist und an die Aromen eines gut gemachten Margaritas erinnert (9). Es folgt ein Röllchen aus einer Art hauchdünnen Brotteig-Membran, die mit einem würzig-pikanten Tomatenschaum gefüllt ist (8,5). Beides sehr präzise und hervorragend.

Danach folgt eine halboffene Sushi-Rolle mit rohem galizischen Lachs von fantastischer Qualität und einer sehr wohlschmeckenden Kombination aus eingelegtem Eigelb, Forellenrogen, Sojabutter und „Nori-Texturen“. Absolutes Spitzenniveau zum Augenschließen. — 9

Der Rest des Menüs wird dann am Tisch serviert. Ich habe den Speisesaal noch gut in Erinnerung. Einer Einrichtung von fast deutscher Sachlichkeit wird durch warmes Licht, einer geschickten Raumaufteilung und einem legeren Publikum Gemütlichkeit verliehen.

Das ABaC bietet zwei Menüs, ich entscheide mich für das umfangreichere „Gran ABaC Avant-Garde“ (€ 210).

Das Menü beginnt mit einer Hommage an das baskische Pintxo mit Olive und Sardelle (Gilda de mar). Diese aufwändige Kreation beinhaltet Eiskraut, Meerestrauben ‒ eine auch als „grüner Kaviar“ bezeichnete Alge ‒ sowie geeisten Olivenstaub und Sardellenbutter. Das kühle, frische Arrangement erwischt mich wie eine Welle. Es schmeckt großartig, nach Oliven und Sardelle, spielt ganz leichtfüßig mit Säure, Salz und Süße und bietet dabei vor allem auch mit den Algen aufregenden Texturspaß. Welch großartiger Auftakt! — 9

Die Farbe Grün gibt auch bei der nächsten Einstimmung das Farbspektrum vor. Green salmarejo ist eine ‒ optisch etwas eigenwillige ‒ Interpretation der gleichnamigen andalusischen Suppe, deren Hauptbestandteile Tomaten und Brot sind. Hier auf dem Teller findet man entsprechend ein säuerlich eingelegtes, weiches Brot sowie verschiedene geschmacksintensive Tomaten-Zubereitungen und -teile. Wenn die Umami-Rezeptoren so feuern wie hier, kann das nur fantastisch sein. — 9

Das schon jetzt fabelhafte Menü geht weiter mit einer „blauen Auster“ genannten Kreation. Wenn ich es richtig verstanden habe, ist das Wasser der Auster tatsächlich bläulich, wurde aber durch das Hinzufügen eines Proteins verstärkt. Ähnliches gilt für den dazu servierten, hauchdünnen Cracker aus violetter Kartoffel mit gefriergetrockneter Makrele und einem artifiziell blau aussehenden Algengel. Die Auster ist von exzellenter Qualität, und das gesamte Gericht hinterlässt ein frisches, salzig-jodiges Aromaspektrum. Sehr spacig. — 8,5

Am Tisch zieht währenddessen schon eine Weile eine Makrelen-Infusion in einem Glasgefäß vor sich hin. Frischer Wasabi und die entsprechende Reibe stehen auch schon parat ‒ eine Augenweide.

Beides findet im nächsten Arrangement Anwendung. Es gibt, in einem Thunfischknochen serviert, ein (nicht ganz notwendiges) Miso-Gel mit einem Stück fabelhaften Thunfischbauch und Wasabi, dazu ein hauchdünnes, etwas trockenes, Gebäck mit salzig marinierter Makrele sowie die besagte Infusion, rauchig, salzig, heiß und wohltuend. Thunfisch und Wasabi sind in dieser exzellenten Trilogie, die insgesamt an japanische Geschmackswelten erinnert, die herausstechenden Protagonisten. — 8,9

Es geht weiter mit Tintenfisch, der in reiskornförmige kleine Teile geschnitten ist und mit einem Zitronengrasschaum und einem Zitronengrassud serviert wird. Frittierte Brotkrumen fügen der hervorragenden Komposition etwas angenehm Knuspriges hinzu. Begleitet wird die leichte, frische Speise von einem frittierten und mit Tintenfischtinte gefärbtem Teigball, der wiederum mit Tintenfisch gefüllt ist. Ein mit Limonenöl beträufeltes Chicoreeblatt bringt etwas Frische ins Spiel, was auch nötig ist, denn das Bällchen ist ziemlich massig. Eine mehr als hervorragende Komposition um das eine Meerestier. — 8,5

Der nächste Streich ist eine einnehmend duftende Speise, die in einer großen, ausgehöhlten Zwiebel angerichtet ist. Die Speisekarte titelt dazu „Zwiebel-Texturen im Risotto-Stil mit Parmesan und Kumquat-Kompott“. Ein süßlich-herzhafter Duft von Zwiebel in schillerndsten Facetten macht sich am Tisch breit. Meine olfaktorischen Assoziationen reichen von der scharfen Frische roher Zwiebeln in einem Nizzasalat über die sinnlicheren Aromen eines Zwiebelgratins von Alain Passard bis zum deftigen Geruch gerösteter Hot-Dog-Zwiebeln. Am Gaumen erfolgt dann die Erlösung von den verheißungsvollen Düften durch Wohlgeschmack in Reinform. Ein dunkler Jus, möglicherweise auf der Basis von Kalbsfond, aber vielleicht doch komplett vegetarisch, unterstreicht die Nichtigkeit der Notwendigkeit einer solchen Kategorisierung. Fruchtige Aromen von der Kumquat kommen auch noch von irgendwo her, und Parmesan sorgt für noch mehr Umamigeschmack. Auf diesem Niveau existieren nur noch Genuss und Qualität, es gibt weder Erklärungs- noch Interpretationsbedarf. Es ist eines der eindrucksvollsten und wohlschmeckendsten Gerichte, die ich seit langem gegessen habe. — 10

Inzwischen ist auch der Rotwein im Glas, ein faszinierender, mir bisher unbekannter 2012er „Las Lamas“ vom Weingut J. Palacios aus der Rebsorte Mencia (€ 140). Ebenfalls offen ist ein 2015er Chassagne-Montrachet 1er Cru „Grandes Ruchottes“ von der Domaine Bernard Moreau (€ 225). Mir ist oft danach, schon im frühen Verlauf eines Menüs rot und weiß gleichzeitig zu verkosten ‒ völlig gegenteilig zum Konzept einer Weinbegleitung. Es gibt eine solche hier aber auch, für € 105.

Das nächste Thema heißt Garnele. Man findet sie „dekonstruiert“ auf dem Teller, und zwar in Form ihres kompletten, marinierten Kopfes, ihres ausgelösten und gegarten Körpers sowie als knusprig frittiertes, komplett essbares Außenskelett inklusive Beine. Dazu gibt es mit Krustentierfond und Erdnuss aromatisierten Reis sowie eine Krustentiercreme. Ich bin kein großer Liebhaber davon, den Kopf von Garnelen auszulutschen, aber die salzige Masse passt gut zu dem Gericht, das in Summe sehr konzentriert ‒ fast schon penetrant ‒ nach Krustentier schmeckt. Gewagt, und auch besser als sehr gut, aber dann doch zu extrem, um ganz hervorragend zu sein. — 7,5

Das Blatt wendet sich rasch. Es gibt geschmorte, sehr zarte Steinbuttrippchen, die mit einer hervorragenden dunklen Sauce lackiert sind, dazu über Holzkohle gegrillte Brunnenkresse. Letztere bringt betörende Röstaromen mit, die man vom Duft her eher dem Fisch zuordnen würde. Diese „Aromaverschiebung“ ist überraschend und eindrucksvoll. Das Innere einer milden Peperoni bringt zusätzliche Spannung in dieses gleichermaßen simple wie großartige Gericht. — 9

Ente folgt als Sequenz von vier Kreationen. Auf dem Tisch steht zunächst eine Infusion, die bereits eine Weile vor sich hin simmerte. Es handelt sich hierbei um eine konzentrierte Entenbrühe, die beispielhaft an den Lippen klebt und wundervoll nach Thymian und weiteren Kräutern duftet. — 9

Dazu gibt es einen etwas zu süßen Taco mit gehobelter Foie Gras, welche durch diese Zubereitungsart leider immer auch an Geschmack und Schmelz verliert (6,9). Und bei einer frittierten, mit Rillette gefüllten Teigkugel („Ninyoyaki“) steht der Frittiergeschmack etwas zu sehr im Vordergrund. Die Rillette an sich, im Inneren des Teigballs, ist jedoch makellos und klassisch zubereitet (7).

Die vierte Speise mit Ente beinhaltet ein mir deutlich zu rohes Filetstück in gleichwohl hervorragender Qualität mit sehr aromatischen jungen Karotten. Dazu gibt es Romesco ‒ eine würzige regionale Sauce ‒ sowie Karottenjus und eine dunkle Sauce mit Lavendel und Koriander. Alle drei Saucen sind hervorragend. Trotz des kritischen Gargrads des Geflügels ist das ein wohlschmeckendes Gericht auf hohem Niveau. — 7

In einer deutlich anderen Liga spielt dann der nächste Gang. Es handelt sich um ein kleines, knusprig gebratenes Stück Ferkelschnauze in einem klassischen dunklen, „klebrigen“ Kalbsjus. Das Fleisch ist aromatisch und butterzart, die glänzende Sauce ein Gedicht. Kleine Stücke von Kürbisgewächsen sowie eine winzige Gurke samt ihrer Blüte lockern das Gericht mit reichlich Frische auf. Als weiteres Highlight dient ein frittiertes Ferkelohr mit Gurken und frech-scharfer Würzung. Einer der besten Fleischgänge, die ich je gegessen habe. Ich atme tief durch und spüre nichts als Wohlbehagen und Genuss. — 10

Das erste Dessert hört auf „gefrorene Sahne-Marshmallows mit grünen Erdbeeren“. So kaubedürftig wie die bekannte Süßigkeit ist die weiße Masse allerdings nicht. Es schmeckt eher wie ein üppiges, nicht zu süßes, Sahneeis mit sehr aromatischen Erdbeeren. — 7,5

Weiter gibt es ein Eis von weißer Schokolade sowie knusprige Gebäckstücke mit Muscovadozucker. Dieser besondere Vollrohrzucker aus Mauritius schmeckt malzig und intensiv und passt sehr gut zum Eis. — 7

Eine frittierte Teigkugel ist mit pikanter Schokolade gefüllt. Letztere ist von hervorragender Qualität, bittersüß, aber die Teigkugel schmeckt etwas irritierend nach Fisch. Da diese Bällchen oft mit Fisch zubereitet werden, könnte ein solcher Zusammenhang tatsächlich bestehen, aber ich vergesse, nachzufragen und verbuche die Speise als eine etwas seltsame Kuriosität mit dennoch sehr guten Zutaten. — 6,9

Für das letzte Dessert wird ein Kokosnusssorbet von seiner flüssigen Ausgangsmasse direkt am Tisch, also à la minute, in seinen gefrorenen Zustand überführt. Dies geschieht mit Hilfe von flüssigem Stickstoff, der direkt in die Masse gegossen wird und in einem Bruchteil von Sekunden unter Rühren entsprechende Eisklumpen hervorbringt. Dazu gibt es noch eine Vanillecreme und Zitronenkuchen. Die Komponenten klingen gut, aber das Dessert ist wässrig und sehr säuerlich ‒ und damit trotz der Showeinlage kein besonders großer Genuss. — 6,5

Verschiedene aufwändig präsentierte, mal weniger gute, mal deutlich bessere Petit-fours schließen das Menü ab. Wie nur allzu häufig bei kreativen Restaurants, konnten die Desserts in Summe mit dem restlichen Menü nicht mithalten. — 7

Doch sie werfen keinen Schatten über das Essen. Das Menü im ABaC war ‒ trotz einiger Schwächen, die den Schnitt etwas nach unten ziehen ‒ herausragend. Es war ein Essen, von dem ich einige Gerichte lange in meinen Gedanken tragen werde. Eine solche Ausbeute macht mich glücklich und ist rar. Ich fühle mich dabei manchmal ein bisschen wie ein Goldschöpfer. Denn weitaus nicht jedes Essen, selbst auf diesem attestierten Niveau, garantiert solche Erlebnisse. Viele Essen sind wie Sand und rieseln davon, andere, wenige, bleiben und bereichern.

Die Rechnung bitte. Ich muss den Goldschatz noch bezahlen.

Informationen zu diesem Besuch
Restaurant: ABaC (→ Website)
Chef de Cuisine: Jordi Cruz
Ort: Barcelona, Spanien
Datum dieses Besuchs: 10.07.2018
Guide Michelin (ES 2018): ***
Meine Bewertung dieses Essens (?): 8,5 (Was bedeutet das?)
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